Eine total normale Familie

Drama | Dänemark 2020 | 97 Minuten

Regie: Malou Reymann

Für ein elfjähriges Mädchen bricht die Welt zusammen, als sein Vater sich als „trans“ outet und eine Frau wird. Während die Mutter sich scheiden lassen will und die ältere Schwester in die Rolle der Vermittlerin schlüpft, reagiert die Jüngere zunächst mit Ablehnung und Verstörung, kämpft sich dann aber Schritt für Schritt zu einem neuen Verhältnis durch. Mit viel Feingefühl und leisem Humor skizziert die Tragikomödie eine Familiengeschichte voller Widersprüche und dynamischer Entwicklungen. Das Plädoyer für Neugier, Toleranz und Lernfähigkeit bleibt dabei durchgängig in den lebensnah modellierten Figuren und ihren außergewöhnlichen Darstellenden verankert. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
EN HELT ALMINDELIG FAMILIE
Produktionsland
Dänemark
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Nordisk Film/Danish Film Institute
Regie
Malou Reymann
Buch
Malou Reymann
Kamera
Sverre Sørdal
Schnitt
Ida Bregninge
Darsteller
Kaya Toft Loholt (Emma) · Mikkel Boe Følsgaard (Thomas/Agnete) · Rigmor Ranthe (Caroline) · Neel Rønholt (Helle) · Jessica Dinnage (Naja)
Länge
97 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Genre
Drama | Tragikomödie
Externe Links
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Außergewöhnliches Drama um ein elfjähriges Mädchen, dessen bisherige Welt sich komplett verkehrt, als sein Vater sich als trans outet und künftig als Frau leben will.

Diskussion

In dem Generationenporträt „3 Zimmer/Küche/Bad“ von Dietrich Brüggemann blieb unter anderem jene irrwitzige Szene in Erinnerung, als die Eltern den Heiligabend nutzen, um ihren Kindern zu eröffnen, dass sie nun, da auch die jüngste Tochter das Elternhaus verlassen würde, endlich öffentlich machen könnten, dass sie schon lange kein Paar mehr sind; jetzt würden sie sich endlich trennen. Die Kamera fängt dabei sehr schön den Blick der Kinder ein, die mit diesem Moment des „Verrats“ erst einmal klarkommen müssen.

In „Eine total normale Familie“ von Malou Reymann gibt es eine ähnliche Szene, nur diesmal mit Ansage. Da steht der Vater Thomas, ein erklärter Fußballfan, am Spielfeldrand und sieht seiner elfjährigen Tochter Emma beim Spiel zu. Als die Tochter mit einer Entscheidung der Trainerinnen hadert, erklärt der Vater ihr, dass es mehr auf den Teamspirit als auf den Erfolg ankäme. Und dass man eine Person erst kennen müsse, um sie beurteilen zu können. Was zunächst so dahergesagt klingt, erhält wenig später eine überraschende Bedeutung. Geradezu fassungslos reagieren Emma und ihre Schwester Caroline (14) auf die Mitteilung ihrer Mutter, sich scheiden zu lassen. Thomas scheint gleichfalls etwas überrascht und mahnt, die Sache nicht so impulsiv anzugehen. Diese Reaktion überrascht wiederum die Zuschauer, denn der Grund für die Scheidung ist Thomas’ Entschluss, künftig als Frau leben zu wollen. Erste Schritte hat er/sie im Krankenhaus bereits unternommen; er kämpft aber noch mit dem Gedanken, dass diese Entscheidung Konsequenzen für die Familie haben könnte.

Wenn aus Thomas Agnete wird

Die dänische Filmemacherin Malou Reymann, die mit dem Stoff auf ihre eigene Familiengeschichte mit einem Trans-Vater zurückgreift, hat sich für eine doppelte Perspektive auf den Prozess entschieden, wenn aus Thomas Agnete wird, was den Film aus dem Gros bloß affirmativer Coming-out-Geschichten und identitätspolitischer Manifeste heraushebt. Thomas’ Entscheidung spiegelt sich gewissermaßen in Emmas Gesicht. Dort stößt sie zunächst entschieden auf Ablehnung und Verstörung. Reymann verschränkt Coming-out und Coming-of-Age und erzählt vom Erkunden von und vom Wachsen an Veränderung, ohne vorschnell von Vermittlung und Versöhnung zu sprechen. Emma verweigert sich der Zumutung. Erst lehnt sie die Teilnahme an familientherapeutischen Sitzungen ab, um dann mit einem um den Kopf gewickelten Schal doch teilzunehmen. Die ältere Schwester findet sich weitaus schneller in die neue Situation, zumal es neue gemeinsame Interessen (Mode, Erscheinungsbild) von Vater und Tochter gibt. Caroline schnappt sich die Rolle der Vermittlerin.

Nach einer erfolgreichen Operation „entdeckt“ sich Agnete als Frau, kleidet sich betont feminin und geht auch sonst nachdrücklich mit der Transition in der Öffentlichkeit um. Bisweilen auch etwas zu nachdrücklich, wenn beim Familienfest anlässlich von Carolines Konfirmation Agnete die eigene Person etwas nervig in den Mittelpunkt rückt. Ansonsten spielt die gesellschaftliche Außenperspektive auf die Veränderungen innerhalb einer „total normalen“ Familie eher eine Nebenrolle, wiewohl Spott, Scham und Neugier durchaus angedeutet werden.

Viele Konflikte werden nicht aufgelöst

Reymann erzählt eine Familiengeschichte voller Widersprüche und Dynamiken, weil permanent binnenfamiliale Rollenverhältnisse neu ausgehandelt, aktualisiert, problematisiert und dabei auch Verluste und Enttäuschungen akzeptiert werden müssen. Viele Konflikte bleiben ungelöst, müssen vielleicht auch ungelöst bleiben; „Eine total normale Familie“ legt es trotzdem nicht auf Dramatik und Konfrontation an, sondern findet immer wieder Zwischentöne, die zudem auch für einen entspannten Humor Platz lassen. Entscheidend ist dabei, dass Thomas’ Entschluss, Agnete zu werden, zu keinem Zeitpunkt problematisiert oder gar in Frage gestellt wird, selbst dann nicht, als Emma einmal fragt, ob man sich sein Geschlecht überhaupt aussuchen könne. Und wie denn „ihre“ Vaterrolle davon tangiert wird.

Der Weg von Thomas zu Agnete stellt sich auch als ein Aufbruch ins Unbekannte dar, als eine Suche nach einem „neuen“ Selbstentwurf, die durchaus schmerzhafte und verletzende Seiten hat. Besonders deutlich wird das in einer Sequenz, in der Agnete sich mit ihren beiden Töchtern auf eine Urlaubsreise nach Mallorca begibt. Dort macht das Trio die Bekanntschaft mit einer Holländerin und ihrer Tochter. Man kommt – Mutter mit Mutter – miteinander ins Gespräch. Emma besteht darauf, dass Agnete sich nicht als Mutter ausgibt, sondern die Wahrheit sagt. Wenn sich dann beim Abendessen der einstige Fußballfan Thomas in die klischeehafte Fußball-Ignorantin Agnete verwandelt, muss Emma das als Verrat empfinden, weil die Leidenschaft für diesen Sport von klein auf die Beziehung zwischen Tochter und Vater prägte.

Plädoyer für Neugier, Toleranz und Respekt

Die Fallhöhe, die diese Veränderungen mit sich bringen, zeichnet der Film in Rückblenden mit Home-Movies nach, die Emmas (und randständig auch Carolines) unbeschwerte Kindheit dokumentieren: Bilder vom sommerlichen Gartenvergnügen mit Wasserschlauch und Fußballtor, vom Ostereiersuchen, Geburtstagsanrufen der Großeltern, vom ersten Fußball. All diese Erinnerungen werden von einem Augenblick auf den anderen virulent. Man kann nur staunen, wie nuanciert Kaya Toft Loholt die anspruchsvolle Rolle der Emma meistert. In ihrem Gesicht spiegelt sich die komplette emotionale Palette zwischen Verunsicherung, Neugier, Zugewandtheit, Glück, Enttäuschung und Empörung. Allein schon diese darstellerische Leistung lohnt den Film, der überdies ein pragmatisches und entspanntes Plädoyer für Neugier, Lernfähigkeit, Toleranz und Respekt ist; allesamt hilfreiche Qualitäten auf dem Weg zu einem erfolgreichen „Teambuilding“. Weshalb es am Schluss dann auch nicht länger um Real Madrid versus FC Barcelona geht, sondern um den FC Chelsea. Denn Agnete hat sich einen Job in London gesucht. Neue Perspektiven inklusive.

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