Wir Alle. Das Dorf

Dokumentarfilm | Deutschland 2021 | 90 Minuten

Regie: Antonia Traulsen

2016 wurde in der niedersächsischen Kleinstadt Hitzacker das Projekt eines interkulturellen Dorfes gestartet. 300 Menschen, zu je einem Drittel Senioren, Familien mit Kindern und Geflüchtete, sollen dort in ökologisch gebauten Häusern gemeinsam leben. Der Dokumentarfilm begleitet das Projekt von der ersten Begehung bis zum Bezug der ersten Häuser und erzählt vom Ringen um gangbare Wege, Enttäuschungen und Lernprozessen. Dabei bleiben viele Punkte, insbesondere der Widerstand gegen das Dorfprojekt, etwas unklar, als Dokumentation der Mühen einer kollektiven Anstrengung auf basisdemokratischer Grundlage kann der Film aber durchaus überzeugen. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Koberstein Film/NDR
Regie
Antonia Traulsen · Claire Roggan
Buch
Antonia Traulsen
Kamera
Claire Roggan
Musik
George Kochbeck
Schnitt
Robert Handrick
Länge
90 Minuten
Kinostart
22.07.2021
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Dokumentarfilm über ein Bauprojekt im niedersächsischen Hitzacker, bei dem ein Kollektiv ein interkulturelles Dorf in ökologischer Bauweise für Senioren, Familien und Geflüchtete errichtet.

Diskussion

2016 startet bei Regenwetter ein höchst ambitioniertes soziales Experiment. Eine Gruppe unterschiedlicher Menschen hat ein großes Baugrundstück am Rande der Kleinstadt Hitzacker erworben und somit die Pläne für die Gründung eines Dorfes realisierbar gemacht. Es handelt sich um ein in jeder Hinsicht „tolles Projekt“, weil es sich in mehrfachem Sinn um ein Modell für das Dorf der Zukunft handelt. Mit diesem Modellprojekt reagieren die Initiatoren auf reflektierte Strukturprobleme des ländlichen Raums: die Landflucht, die Überalterung, die Erosion der Kernfamilie und traditioneller Strukturen, die Integration von Geflüchteten. Das Dorf, so der Plan, soll ein Ort der Vielfalt werden, der sich mit diesen Begriffen fassen lässt: „solidarisch, ökologisch, interkulturell“.

Diese kleine Utopie liest sich natürlich zunächst einmal vollmundig wie eine Projektbeschreibung für einen Antrag auf Fördermittel im Rahmen des sozialen Innovationsprogramms der EU. Wie das Projekt genau aus welcher Motivation entstanden ist, lässt der Film recht offen, denn die Langzeitbeobachtung von Antonia Traulsen und Claire Roggan setzt ja, wie bereits gesagt, an jenem regnerischen Nachmittag ein, als das Projekt erste Formen annimmt. Die harten Fakten: Im Dorf sollen 35 Mehrfamilienhäuser in ökologischer Bauweise für 300 Menschen entstehen. Die Planung sieht folgenden Bewohner:innen-Mix vor: ein Drittel Alte, ein Drittel Familien mit Kind, ein Drittel Geflüchtete. Die Finanzierung beläuft sich auf 15 Millionen Euro, wovon 2 Millionen Euro an Eigenkapital aufzubringen sind. Das Testlabor Hitzacker-Dorf versteht sich selbst als Impulsgeber für die Zukunft im ländlichen Raum und als Beitrag bei der Beantwortung der Frage: Wie wollen wir leben im 21. Jahrhundert?

Eine Idee, die kollektiv weiterentwickelt wird

Vielleicht das Wichtigste aber, zumal aus der Sicht der Filmemacherinnen: Hitzacker-Dorf ist kein fertiges Produkt, das nur noch realisiert wird, sondern eine Idee, die gemeinsam entwickelt wurde und die nun allerlei offene Fragen birgt, die kollektiv weiterentwickelt werden müssen. Man merkt schon: Hitzacker liegt im Wendland, einer strukturschwachen Region, einst Zonenrandgebiet. Seit den Protesten gegen das geplante Atommüll-Endlager in Gorleben ist in dieser Region allerdings ein links-alternatives Milieu entstanden, das ein Projekt wie Hitzacker-Dorf realisierbar macht, zumal, wenn man die Entwicklung der Mieten in den Großstädten und die Veränderungen der Arbeitswelt durch die Digitalisierung mitdenkt.

„Wir alle. Das Dorf“ dokumentiert am Beispiel einiger durchaus sympathischer Protagonist:innen die Entwicklung des Projektes von der ersten Begehung bis zum Bezug der ersten Häuser. Es geht hier gewissermaßen um die Mühen der Ebene, um Enttäuschungen, Selbstüberschätzungen, Fehleinschätzungen und Verzögerungen. Es geht aber auch um kollektive Lernprozesse, Gruppendynamik und Selbstreflexion im Dorf-Plenum, wo vielleicht auch ein idealistischer Überschuss abgearbeitet werden muss. Wie stellt die Gruppe eine gewisse Verbindlichkeit her, wenn gleichzeitig kontrovers diskutiert wird, ob und inwieweit dokumentiert werden soll, wer wie viel Einsatz, Arbeit oder Geld investiert? In der Kommunikation mit den sehr wenigen Geflüchteten, die zu partizipieren versuchen, wird die kulturelle Differenz unterschätzt, weshalb es zu Problemen mit den nur bis zu einem gewissen Punkt variablen Modulen der geplanten Häuser kommt. Überdies kommt es zu Verzögerungen, weil das Projekt am Ort auf Widerstand stößt.

Dem Film ist es nicht gelungen, all diese Konflikte und den Widerstreit angemessen zu dokumentieren, weshalb bestimmte Informationen wenig elegant als Off-Kommentar nachgereicht werden müssen. So ist aus dem Film nicht so recht zu verstehen, warum Anwohner:innen und angrenzende Gewerbetreibende dem Projekt so kritisch gegenüberstanden, dass gegen die Baugenehmigung Klage eingereicht wurde. Auch bleibt unklar, was genau dazu führte, dass einige zentrale Akteure der ersten Generation sich nach einigen Jahren erschöpft aus dem Mittelpunkt nahmen und etwas Distanz zum Projekt suchten.

Mühen einer kollektiven Anstrengung

Zum Glück ist Hitzacker-Dorf so prominent, dass Interessierte die Leerstellen des Films problemlos nachrecherchieren können. Mag also durchaus sein, dass das „Lernende Dorf“ (Selbstbeschreibung) eine Option der Zukunft ist. Allerdings zeigt der Film „Wir alle. Das Dorf“ trotz einer finalen Neigung zum Positiven vielleicht nicht die Aporien, aber zumindest die Mühen einer kollektiven Anstrengung auf basisdemokratischer Grundlage. Historisch nichts unbedingt Neues, aber bei Wiedervorlage durchaus spannend und mit Gewinn anzusehen.

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