Drama | Frankreich/Libanon/Kanada/Katar 2021 | 100 Minuten

Regie: Joana Hadjithomas

Eine während des Libanonkrieges nach Kanada geflohene Frau möchte mit ihrer Tochter nicht über ihre schmerzhafte Vergangenheit sprechen. Als mit der Post jedoch eine Kiste voller alter Notizbücher und Fotos aus der Jugend der Mutter auftaucht, beginnt die Tochter sich heimlich darin zu vertiefen. Mit liebevoll detaillierter Ästhetik erweckt der Film die verdrängte Vergangenheit zum Leben und führt vor Augen, dass Fotos und historische Dokumente erst durch den Betrachter und dessen Erfahrungen und Reflexionen zum Leben erweckt werden. Die Dramaturgie tendiert eher zur offenen Reflexion über verdrängte Wunden und Traumata, die sich durch günstige Umstände auch durchaus auflösen lassen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
MEMORY BOX
Produktionsland
Frankreich/Libanon/Kanada/Katar
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Haut et Court/Abbout Prod./micro_scope
Regie
Joana Hadjithomas · Khalil Joreige
Buch
Gaëlle Macé · Joana Hadjithomas · Khalil Joreige
Kamera
Josée Deshaies
Musik
Radwan Ghazi Moumneh · Charbel Haber
Schnitt
Tina Baz
Darsteller
Rim Turki (Maia (erwachsen)) · Manal Issa (Maia (jung)) · Paloma Vauthier (Alex) · Clémence Sabbagh (Téta) · Hassan Akil (Raja)
Länge
100 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Eine junge Kanadierin stöbert heimlich in Briefen und Fotos ihrer Mutter, die Ende der 1980er-Jahre vor dem Bürgerkrieg im Libanon geflohen ist und bislang nicht über ihre Vergangenheit sprechen will.

Diskussion

Während die Stadt Montreal von einem Schneesturm heimgesucht wird, bereitet sich Alex (Paloma Vauthier) mit ihrer Großmutter Téta (Clémence Sabbagh) auf das Weihnachtsfest vor. Die beiden Frauen trennt mehr als nur das Alter. Téta ist nach ihrer Flucht aus dem Libanon Ende der 1980er Jahre in Kanada nie wirklich angekommen, was sich insbesondere an ihren mangelnden Französischkenntnissen zeigt. Alex dagegen kennt die Heimat ihrer Vorfahren nur aus Erzählungen und spricht lediglich gebrochen Arabisch. Das Bindeglied zwischen diesen unterschiedlichen Erfahrungswelten müsste eigentlich Alex’ Mutter Maia (Rim Turki) sein, doch die weigert sich beharrlich, über ihre Vergangenheit zu sprechen.

Da bringt der Postbote überraschend eine Kiste voller Fotos, liebevoll gestalteter Notizhefte und tagebuchartig eingesprochener Kassetten, die Maia während des Bürgerkriegs einer Freundin geschickt hat. Obwohl Téta das Paket am liebsten gar nicht erst annehmen will, um ihre Tochter vor schmerzhaften Erinnerungen zu schützen, kann sich die neugierige Alex behaupten.

Das Regie-Duo Joana Hadjithomas und Khalil Joreige lässt das Mädchen daraufhin in eine Welt eintauchen, die von jugendlichem Übermut, Partynächten mit 1980er-Jahre-Pop und der ersten Liebe zum verschmitzten Raja (Hassan Akil) geprägt ist. Doch mit zunehmender Lektüre drohen auch traumatische Ereignisse überhand zu nehmen. Der pazifistische Vater wird immer resignierter und die nicht enden wollenden Bombardierungen verwandeln die Stadt zunehmend in eine Ruinenlandschaft.

Für die beiden Filmemacher ist diese Geschichte auch zum Teil ihre eigene: Die Handlung beruht auf Briefen, die Joana Hadjithomas in dieser Zeit schrieb; einige der historischen Fotos stammen von Khalil Joreige.

Der Blick schweift über die Bilder

„Memory Box“ lässt die Vergangenheit nicht mit herkömmlichen Rückblenden vorüberziehen, sondern inszeniert einen multimedialen Bilderstrom, bei dem sich die angestaubten Objekte nie ganz in der Erzählung auflösen. Stattdessen sieht man immer wieder, wie Alex’ Blick über Kontaktabzüge schweift, wie sie gebannt den intimen Offenbarungen ihrer jungen Mutter lauscht oder wie sie zärtlich übers Papier streicht. Bilder sind in „Memory Box“ keine in sich geschlossenen Werke, sondern ein Kommunikationsmittel. So wie Maia sich einst ihrer Freundin per Post mitgeteilt hat, tauschen Alex und ihre Freunde sich heute in einer Chatgruppe mit Videos und knappen Statements aus.

Aber auch Alex’ Recherche hat etwas von einem Dialog. Wie in einem Daumenkino reiht sie Fotos aneinander, bis die holprigen Bewegungen flüssig werden. Bilder, das zeigt sich in „Memory Box“ immer wieder, werden erst durch den Betrachter und damit durch seine Erfahrungen, Gedanken und Gefühle vollendet. Dass der Film als offene Reflexion wie auch als kunstvoll gestaltete Collage souveräner wirkt als in den ohnehin recht wenigen Dialogszenen, mag auch mit der zweiten, erfolgreicheren Karriere der Regisseure als bildende Künstler zu tun haben.

In einer ihrer früheren Arbeiten zeigten Hadjithomas und Joreige unentwickelte Filmdosen und ergänzen sie mit Beschreibungen davon, was auf den Abzügen zu sehen gewesen wäre. Das eigentliche Bild entsteht dabei erst im Kopf des Betrachters. Als Maia in „Memory Box“ über 30 Jahre nach dem Selbstmord ihres Vaters Fotos entwickeln lässt, die sie an seinem Totenbett gemacht hat, sind darauf nur noch weiße Flecken und grobe Schatten zu erkennen. Trotzdem bringt dieser Anblick sie sofort zum Weinen.

Das Teenager-Dasein & der Schmerz des Krieges

Auch wenn „Memory Box“ mitunter etwas konzeptionell angelegt ist, wirkt er nie trocken, sondern vor allem emotional. Als Maia ihre Tochter schließlich beim Stöbern entdeckt und selbst zu erzählen beginnt, wird auch der Film zunehmend mehr von ihrer Perspektive bestimmt. Die Rückblenden werden länger und linearer, und auch der Tonfall ändert sich.

Nachdem Maias in manchen Bereichen sehr universelles Teenager-Leben zunächst reichlich Anknüpfungspunkte für ihre Tochter Alex gab, konzentriert sich die Handlung stärker auf den Verlust und den Schmerz der Kriegszeit. Am Schluss fahren Mutter und Tochter gemeinsam nach Beirut. Mit den vielen neu sanierten Häusern erkennt Maia die Stadt kaum wieder. Doch beim Trinken mit ihren Freunden von damals ist alles wie früher. Noch einmal dröhnt Blondies „One Way or Another“ aus den Boxen, und die Freunde tanzen wieder ausgelassen im Kreis. Auch Raja ist wieder da. Der Krieg ist mittlerweile vorbei, Maias Körper älter geworden und die Technologie komplexer. Dennoch beherrschen Erinnerungen die Gegenwart. Doch spätestens, wenn Alex ihre Mutter im Sonnenaufgang fotografiert, versteht man, dass es nie zu spät ist, die Wunden der Vergangenheit mit neuen Erfahrungen und zukünftigen Erinnerungen zu heilen.

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