Il Buco - Ein Höhlengleichnis

Abenteuer | Italien/Frankreich/Deutschland 2021 | 93 Minuten

Regie: Michelangelo Frammartino

Anfang der 1960er-Jahre führt eine Höhlenexpedition eine Forschergruppe im unberührten kalabresischen Hinterland nahezu 700 Meter in die Tiefe. Zeitgleich wird im wohlhabenden Norden von Italien gerade das höchste Gebäude Europas fertiggestellt. Der Filmemacher Michelangelo Frammartino nimmt die Rekonstruktion einer historischen Expedition in den Abisso del Bifurto zum Ausgangspunkt einer dokumentarischen Fiktion über die Koexistenz von Landschaft, Tier und Mensch, Höhle und Kinoraum. In majestätischen, empfindsamen Tableaux und ohne Dialoge entfaltet sich eine gleichermaßen immersive wie kontemplative Erfahrung zwischen Forschung und Meditation. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
IL BUCO
Produktionsland
Italien/Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Doppio Nodo Double Bind/Rai Cinema/Sociéte Parisienne de Prod./Essential Films
Regie
Michelangelo Frammartino
Buch
Michelangelo Frammartino · Giovanna Giuliani
Kamera
Renato Berta
Schnitt
Benni Atria
Darsteller
Paolo Cossi (Höhlenforscher und Zeichner) · Leonardo Larocca (Höhlenforscher) · Claudia Candusso (Höhlenforscherin) · Mila Costi (Höhlenforscherin) · Carlos José Crespo (Höhlenforscher)
Länge
93 Minuten
Kinostart
10.11.2022
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Abenteuer | Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Die Rekonstruktion einer historischen Höhlenexpedition als Ausgangspunkt einer meditativen dokumentarischen Fiktion über die Koexistenz von Landschaft, Tier und Mensch, Höhle und Kinoraum.

Diskussion

Der erste Blick von „Il buco“ gehört einer Höhle. Aus ihrem Inneren heraus blickt sie in die Landschaft. Aus nicht allzu großer Ferne sind Tierlaute und das Gebimmel von Kuhglocken zu hören. Zwei Kühe trotten herbei und starren mit wackelnden Ohren in den Höhleneingang hinein. Tier und Höhle blicken sich an. Erst dann erhält der Mensch Eingang in den Film, zunächst über Laute, die dem Menschlichen nicht angehörig scheinen: „Oooooaah! Oooo-oooaah!“ Ein alter Hirte, sein Gesicht so zerfurcht wie die raue, bergige Landschaft, in der er zu Hause ist, treibt seine Kühe zusammen.

Unten im Tal teilt die einzige Bar ihren Fernseher mit den Dorfbewohnern. Es ist stockdunkel in den engen Gassen; allein der Bildschirm wirft ein wenig Licht auf den Vorplatz. Gebannt betrachtet die versammelte Gemeinschaft eine Sendung über das höchste Gebäude Europas: den sich noch im Bau befindenden Pirelli-Wolkenkratzer in Mailand. Die Kamera begleitet den Reporter auf dem nach oben fahrenden Bauaufzug, wirft Blicke in die modernen Büroräume und immer wieder auch in die schwindelerregende Tiefe. Er möchte ein Gefühl vermitteln, das Publikum mitnehmen, sagt der Reporter, bevor der Beitrag abrupt mit einem Aufwärtsschwenk endet.

Wie Kolonisatoren

Am nächsten Tag erreicht eine Gruppe von jungen Männern den örtlichen Bahnhof. Vom nördlichen Piemont aus haben sie sich auf den Weg in das unberührte kalabresische Hinterland im Süden Italiens gemacht, um in die Höhle hinabzusteigen.

In semi-dokumentarischen Bildern rekonstruiert „Il buco“ eine historische Expedition in den Abisso del Bifurto, die eine Forschergruppe Anfang der 1960er-Jahre in fast 700 Meter unter die Erde führte. Die Männer kommen wie Kolonisatoren auf der Suche nach neuem Land. Sie schlagen ihr Lager über dem „Loch“ auf und lassen einen Stein hineinfallen, um sich über den Klang seines Aufschlags erste Orientierung zu verschaffen. Angezündete Seiten aus Illustrierten, die hinterhergeworfen werden, bringen kurzzeitig Licht ins Dunkle, setzen aber auch zeitliche Markierungen in die Gegenwart der filmischen Aufnahme: Auf dem Cover lächelt John F. Kennedy.

Während einige Männer in die Tiefe der Höhle hinabsteigen, wird ihre Innenwelt am Rand der „Wolfsgrube“ zeichnerisch dokumentiert. Die sich ständig verzweigenden Linien finden irgendwann in einem Bogen zusammen, darunter die Markierung: -683 m. Die auf Papier gebrachten Gänge und Windungen erinnern aber auch an ein Gehirn – oder an bildlich übersetzte Erinnerungsräume.

Die Höhle als Wesen mit eigenem Recht

Trotz der im Zentrum stehenden Expedition ist in „Il Buco“ von Michelangelo Frammartino der Mensch nur ein Wesen unter vielen, umgeben von Landschaft, Wetter und Tieren.

Auch Vertikale und Horizontale, Höhe und Tiefe, oben und unten (und: prosperierender Norden, karger Süden), werden hier eher nebeneinandergestellt, als in ein Spannungsverhältnis gebracht. Einmal kicken zwei Männer über den Abgrund hinweg einen Fußball hin und her. Bald wechselt die Szene in die Perspektive der Höhle und man schaut von unten auf das fliegende Ding. Immer wieder unternimmt der Film den Versuch, den anthropozentrischen Blick hinter sich zu lassen und der Höhle den Status eines Wesens mit eigenem Recht einzuräumen.

Bei aller Aufmerksamkeit und Sorgfalt, mit der sich Frammartino Details wie etwa den Tuschezeichnungen widmet, interessieren ihn weder die exakten Abläufe der Unternehmung noch ihre spannende Dramatisierung. Im meditativen Rhythmus – und komplett ohne Dialog – folgt der Film den Speläologen. In einem parallelen Erzählstrang wird der alte Hirte begleitet, der in der Weite der Landschaft seine Kühe hütet und gelegentlich von oben auf das Treiben herabschaut. Seine Rufe und die Pfiffe der Forscher sind neben Naturgeräuschen, von Wind über Tierlauten bis hin zu den klackenden Wassertropfen im Innern der Höhle, akustische Markierungen in einem ansonsten sehr stillen, fast schon vorsprachlichen Film. Auch die inneren Begrenzungen des Abisso del Bifurto werden nur punktuell von Stirnlampen erleuchtet.

Höhlen und Kinoräume

Die Tableaux des Bildgestalters Renato Berta sind majestätisch, mysteriös und empfindsam. Sie nehmen das Archaische der Natur auf und verbinden es mit der Malerei und dem Kino. Das körperliche Empfinden in Höhlen und Kinoräumen mag ein grundsätzlich anderes sein, doch gemeinsam ist beiden das Abtauchen in die tiefe Dunkelheit und die Sichtbarmachung von Bildern durch Licht.

Frammartinos kontemplatives Werk entfaltet seine Kraft zu großen Teilen aus dieser engen Verwandtschaft – und braucht allein deshalb den dunklen Raum und die Leinwand so unbedingt wie die Höhlenforscher ihre Seile und Lampen.

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