Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann

Dokumentarfilm | USA/Großbritannien 2020 | 82 Minuten

Regie: Jerry Rothwell

Angestoßen von einem Buch des Japaners Naoki Higashida, der als 13-Jähriger beschrieb, wie er als Autist die Welt wahrnimmt, unternimmt ein Film eine Reise in die Welt von Autisten. Higashidas Aufzeichnungen werden mit Alltagserfahrungen von fünf jungen Autisten und deren Angehörigen verbunden, wobei die detailbezogene und zerstückelte Wahrnehmungsweise der Protagonisten in kurzen Einschüben auf der Bild- und Ton-Ebene nachempfunden wird. Der Film baut Brücken in eine schwer zugängliche Welt und lädt als sinnliches Erlebnis dazu ein, über die eigene Wahrnehmung der Welt nachzudenken. - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
THE REASON I JUMP
Produktionsland
USA/Großbritannien
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
BFI Film Fund/British Film Institute/Met Film Prod./Runaway Fridge Prod./The Ideas Room/Vulcan Prod.
Regie
Jerry Rothwell
Buch
Jerry Rothwell
Kamera
Ruben Woodin Dechamps
Musik
Nainita Desai
Schnitt
David Charap
Länge
82 Minuten
Kinostart
31.03.2022
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
DCM (16:9, 1.78:1, DD5.1 engl./dt.)
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Außergewöhnlicher Dokumentarfilm über die Erfahrungswelt von fünf Heranwachsenden, die an Autismus leiden.

Diskussion

Er wünsche sich manchmal die Welt durch die Augen seines Sohnes zu sehen, sagt der Brite Jeremy Dear. Sein Sohn heißt Joss und leidet an (nonverbalem) Autismus. Joss nimmt seine Umgebung anders wahr als „normale“ Menschen. Er und die vier weiteren Protagonisten von „Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann“, die Inderin Amrit, Ben und Emma aus der USA sowie Jestina aus Sierra Leone, können zwar verständliche Worte formulieren, aber nicht wirklich ein Gespräch führen.

An den meisten Orten der Welt, heißt es in dem außergewöhnlichen Dokumentarfilm von Jerry Rothwell, würden Menschen wie Joss stigmatisiert und aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Dies passiert nicht überall so krass wie in Westafrika, wo auch noch heute Mütter autistischer Kinder als Hexen bezeichnet und Betroffene als besessen verschrien werden und im Busch leben müssen. Doch Ausgrenzung und Stigmatisierung werden in dem Film nur kurz erwähnt. Denn Rothwell geht es um das pure Gegenteil, nämlich um Inklusion und Teilhabe, um ein besseres Verständnis für und einen Zugang zu Menschen, in deren Wahrnehmung die Welt sich ganz anders zeigt als den meisten anderen.

Ein Kind mit besonderen Bedürfnissen

Ausgangspunkt des Films ist ein schon im Jahr 2007 erschienenes Buch des Japaners Naoki Higashida. Der damals 13-jährige Junge, der selbst an nonverbalem Autismus leidet, hat das Buch mit Unterstützung eines Kommunikationshelfers verfasst. Higashida beschreibt darin, wie er die Welt wahrnimmt. Dass er ein Kind mit besonderen Bedürfnissen sei, habe er erst durch andere Menschen erfahren.

Higashidas Buch erschien 2013 unter dem Titel „The Reason I Jump“ in Englisch und ein Jahr später als „Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann. Ein autistischer Junge erklärt seine Welt“ auch auf Deutsch. Es wurde inzwischen in über 30 Sprachen übertragen und gilt als Weltbestseller. Tatsächlich dürfte es viel mit dazu beigetragen haben, dass sich das Verständnis für und der Umgang mit nonverbal autistischen Menschen in den letzten Jahren stark verändert hat.

Dieses Verständnis will der Film weitergeben, der auf Anregung von Joss’ Eltern Stevie Lee und Jeremy Dear entstand, die auch als Produzenten fungieren. Obwohl es naheläge, tritt Higashida im Film nicht persönlich auf. Doch einige wichtige Passagen des Buches werden vorgetragen und bilden den roten Faden des Films. Als Higashidas filmisches Alter Ego figurieren der Übersetzer David Mitchell und ein kleiner japanischer Junge mit roter Jacke, der auf einsamen Streifzügen über Felder und Brücken, durch Wälder und leere Straßen geistert.

Dieses Durch-die-Gegend-streifen, das Unterwegssein, Eintauchen in die Natur, aber auch ein plötzliches Sich-Verlieren der Protagonisten oder nervöse Momente sind wiederkehrende Motive in einem Film, der in ausnehmend poetischer Weise nachvollziehbar machen will, was Higashida beschreibt und wovon die anderen Protagonisten und deren Eltern erzählen.

Details, keine Zusammenhänge

Die auch für das Verständnis des Films wichtigste Erkenntnis findet sich gleich zu Beginn. Sie beschreibt die Unterschiedlichkeit der (visuellen) Wahrnehmung von neurotypischen und autistischen Menschen. Wo „normale“ Menschen auf den ersten Blick das Ganze erfassen und danach allmählich erst Details erkennen, springen Autisten Einzelheiten unmittelbar ins Auge. Ihre Wahrnehmung bleibt an Oberflächen und Linien hängen, an Strukturen und Winzigkeiten, die anderen Menschen kaum auffallen. Um das Ganze zu erfassen, um etwa zu erkennen, dass viele Spritzer auf einer Wasseroberfläche „Regen“ anzeigen, muss ein Autist das Gesehene sozusagen mit einem inneren Katalog gespeicherter Bilder abgleichen, bis er ein Bild gefunden hat, das den Bezug zum Begriff „Regen“ herstellt.

Weil sich auch die Erinnerungen von Autisten nicht chronologisch ordnen und Dinge, die vor langer Zeit passierten, so präsent sind wie etwas, das gerade eben erst geschehen ist, droht alles immer durcheinander zu geraten. Überdies lösen Gefühle bei Autisten unmittelbare körperliche Reaktionen aus. Das klingt anstrengend, und die Tatsache, dass sie darüber mit niemandem sprechen können, macht es auch nicht einfacher. Die Worte, sagt Higashida, gingen unterwegs immer wieder verloren; Zusammenbrüche und Panikattacken sind somit vorprogrammiert.

Higashidas Buch funktioniert wie ein Schlüssel zu dieser verborgenen Welt, welche die gleiche ist wie für allen anderen, sich Autisten aber ganz anders zeigt. Was die Lektüre des Buches für Autisten und ihre Angehörige bedeutete, kann man noch erahnen, wenn man Amrits Mutter zuhört. Sie erzählt, wie sie aus Scham und Rücksicht auf die Umgebung ihre Tochter oft zurechtwies und ihr damit Unrecht tat. Inzwischen versteht sie Amrit besser. Amrit, die früher oft stundenlang schrie und danach endlos weinte, kommt heute von einem Ausflug nach Hause und hält in Zeichnungen fest, was sie erlebt hat. Ihre Bilder sind eine Art Tagebuch. Sie zeigen exakt beobachtete Alltagsszenen, die künstlerisch derart gelungen sind, dass sich daraus glatt eine Ausstellung machen ließe.

Emma und Ben sind ein Paar

Ähnlich wie Amrits Mutter erging es den Eltern von Emma und Ben. Ihre Kinder lernten sich in einer beschützenden Einrichtung kennen und sind seither innig miteinander verbunden. Lange wusste niemand, wie ihre Freundschaft funktioniert, da beide ja offensichtlich nicht miteinander sprechen konnten. Alles Mögliche wurde ausprobiert, um mit ihnen zu kommunizieren; doch erst als man es mit unterstützter Kommunikation versuchte, klappte es. Emma und Ben sind heute junge Erwachsene. Sie gehen zusammen zur Schule. Mit ihren Eltern besichtigen sie eine Wohnung, in der sie künftig als Paar eigenständig leben werden.

Bei Joss war es anders. Seine Eltern haben seine sinnliche Wahrnehmung der Welt als Bereicherung empfunden und sein Leben schon früh auf Film festgehalten. Doch mit der Pubertät begann sich Joss’ Verhalten zu verändern. Er wurde kräftiger, entwickelte Ängste und erlebte heftige Panikattacken. Irgendwann war eine Betreuung zuhause nicht mehr möglich. Für seine Eltern war es schmerzhaft, ihn in ein Internat zu geben; die Vorstellung, was aus seinem Sohn wird, wenn er einmal nicht mehr ist, treibt dem Vater die Tränen in die Augen. Joss’ Eltern engagieren sich, nicht nur für ihren Sohn, sondern auch für andere Betroffene. Das Gleiche gilt für Jestinas Eltern, die in Sierra Leone die erste Schule für Autisten aufbauten.

Flirrende Bilder, Tropfen auf einem Buch

„Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann“ präsentiert Ausschnitte aus dem Lebensalltag der Protagonisten, private Aufnahmen aus ihrer Kindheit, Gespräche mit den Eltern. Dazwischen finden sich Aufnahmen, welche der Wahrnehmungsweise der Protagonisten nachempfunden sind. Flimmernde Bilder, die das Rotieren eines Ventilators zeigen. Die Rillen einer sich im Wind kräuselnden Wasseroberfläche. Ein Stift, der sich hochschiebt. Tropfen, die auf eine Buchseite fallen und davon aufgesogen werden. Die Tonspur hebt jeden einzelnen Moment hervor. Joss, sagen die Eltern, höre das Summen von Elektroverteilern schon aus sehr weiter Ferne. Doch in seinen Ohren ist das Geräusch kein Summen und Surren, sondern ein Konzert.

„Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann“ ist ein sorgfältig gemachter, informationsreicher, aufwühlender, aber auch tröstlicher und sehr schöner Film. Ein filmisches (Aha-)Erlebnis, das eine Brücke schlägt, Berührungsängste abbauen hilft, die Zuschauer zugleich aber auch auf ihre eigene Wahrnehmung zurückverweist.

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