Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall

Drama | Südkorea 2022 | 93 Minuten

Regie: Hong Sang-soo

Eine Schriftstellerin in der Schaffenskrise trifft am Stadtrand von Seoul frühere Bekannte aus dem Kunstmilieu, die ebenfalls mit sich und ihren Talenten ringen. In den Gesprächen und Begegnungen kommen viele alltägliche Dinge zur Sprache, es geht aber auch um die Rolle der Zeit im Leben. Das in bestechendem Schwarz-weiß gefilmte Drama handelt in sorgfältig entworfenen Dialogszenen von der Befreiung aus künstlerischem Stillstand. Daneben geht es auch um die Schönheit zufälliger Begegnungen sowie die Bedeutung von Wahrhaftigkeit in der trügerischen Welt des Films. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
SO-SEOL-GA-UI YEONG-HWA
Produktionsland
Südkorea
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Jeonwonsa Film Co.
Regie
Hong Sang-soo
Buch
Hong Sang-soo
Kamera
Hong Sang-soo
Musik
Hong Sang-soo
Schnitt
Hong Sang-soo
Darsteller
Lee Hye-yeong (Jun-hee) · Kim Min-hee (Kil-soo) · Seo Young-hwa (Se-won) · Park Miso (Hyun-woo) · Kwon Hae-hyo (Hyo-jin)
Länge
93 Minuten
Kinostart
10.11.2022
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Eine Schriftstellerin in der Schaffenskrise trifft am Stadtrand von Seoul frühere Bekannte aus dem Kunstmilieu, die ebenfalls mit sich und ihren Talenten ringen. Darüber entsteht die Idee zu einem Film.

Diskussion

Jun-hee (Lee Hye-yeong) fehlen die Worte. Nicht, weil sie zu schockiert oder empört wäre, um das Gespräch weiterzuführen, das sie mit ihrer Freundin und deren Angestellter anfangen hat. Sie kennt schlichtweg die Sprache nicht, die die Angestellte ihr gerade demonstriert. Ihr Gegenüber studiert Gebärdensprache. Jun-hee lernt gerade ihren ersten Satz. Durch Zufall findet sie so eine neue Ausdrucksform, die sie wissbegierig sogleich zu verinnerlichen versucht. Die Schriftstellerin hat die Passion fürs Schreiben verloren; bis zu diesem Moment hat sie diese auch in keiner anderen Ausdrucksform wiederfinden können. Doch in den kleinen unscheinbaren Gesten, die in ihrem Zusammenspiel einen gleichermaßen simplen wie poetischen Satz bilden, offenbart sich ihr etwas Neues.

Es ist gewissermaßen die Essenz des Kinos von Regisseur Hong Sang-soo, dass derart winzigen Verschiebungen im scheinbar profanen Alltag das ganze Menschsein entschlüpft. „The Novelist’s Film“ präsentiert dies einmal mehr in Schwarz-weiß. Das Weiß brennt grell durch Fenster und auf die Parkwege, das Schwarz malt den Rest der Bilder aus, die dazu geduldig stillhalten. So geduldig, dass man die Summe der Schnitte fast an zwei Händen abzählen kann.

Immer gleich und doch ein wenig anders

Die Begegnungen, in denen die Beteiligten mit Floskeln und Höflichkeitsformeln ringen, sind meist direkt mit Jun-hees Vergangenheit verbunden. Jun-hee trifft Menschen, deren Wege sie lange geteilt und mitunter verlassen hat. Eigentlich will die Schriftstellerin nur eine Freundin aus früheren Tagen treffen. Der Film belässt es nicht dabei, sondern verstrickt sie in immer neue Begegnungen mit ehemaligen Bekannten. Irgendwann fließen die Gespräche dann ebenso wie der Alkohol. In „The Novelist’s Film“ ist es kein klarer Soju, sondern trüber Makgeolli; in Hong Sang-soos Kino läuft es immer gleich und doch stets ein wenig anders. Der Alltag wird in seiner profansten Form zur profundesten Reflexion über abstrakte und zunehmend persönliche Fragen. Langsam kommt man sich näher, laviert sich umständlich aus der Wiederannäherungsphase in Richtung früherer Beziehung und gleicht derweil ab, wie kompatibel die von der Zeit geformten Identitäten heute noch miteinander sind.

Die Antwort darauf ist so kompliziert wie der Versuch, sie mit gesellschaftsverträglichem Vokabular auszudrücken. Jun-hee scheint als einzige nie um Direktheit verlegen. Die Worte, die ihr fürs Papier fehlen, treffen verbal ein ums andere Mal in Schwarze. Etwa wenn sie den Regisseur (Kwon Hae-hyo) wiedersieht, der eine Verfilmung ihres Romans aus Narzissmus in den Sand setzte und sich jetzt lieber außerhalb des Bildes auf der Toilette versteckt, als sie zu begrüßen. Der Mann wird herbeizitiert und im Laufe des Gesprächs auch in die Schranken gewiesen, als er es wagt, der Schauspielerin Kil-soo (Kim Min-hee) vorzuwerfen, dass sie ihr Talent vergeude.

Ausnahmen sind möglich

Das trifft dann ein weiteres Mal den Kern der Sache. Denn im Gegensatz zu den Männern des Films, also dem Regisseur und dem Dichter, die, produktiv wie eh und je, fest im Sattel sitzen, nehmen sich Schriftstellerin und Schauspielerin eine Auszeit. Kil-soo sogar buchstäblich, als sie beim Saufgelage im Buchladen spontan ein Nickerchen einlegt. Dürfen sie das? Dürfen Künstlerinnen entscheiden, ob und wann ihr Schaffen endet, oder haben sie eine Verpflichtung, ihr Talent produktiv einzusetzen? Das sind die Fragen, die die Männerwelt geradezu zwanghaft passiv-aggressiv in den Raum wirft.

In der Peripherie der Begegnungen deuten sich derweil andere Grenzen, Restriktionen und Hindernisse an. Darf man sich aktuell zum Essen im Park treffen? Scheinbar ja, denn Kil-soo kann den Tteokbokki-Reiskuchen auch auf die Distanz riechen. Das Rauchen auf der Dachterrasse ist allerdings verboten. Für die Schriftstellerin macht man aber eine Ausnahme.

Wenn die Farbe ins Bild zurückfindet

Jun-hee und Kil-soo geben als die Menschen, die für eine Ausnahme zusammenkommen, die sich ein Refugium vor den Restriktionen und dem permanenten sozialen Druck schaffen, dann auch die Blaupause einer Antwort auf die Fragen, die dieser Film so wunderbar idiosynkratisch stellt. Gemeinsam finden sie einen Weg aus der Schaffenskrise: sie drehen einen Film.

Einen Film, der nicht mehr braucht als Kim Min-hee und einen Blumenstrauß, dabei aber mit einer solchen Schönheit strahlt, dass es die Sprache verschlägt und die Farbe für einen Moment ins Bild zurückfindet.

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