Dokumentarisches Porträt | Deutschland/Österreich 2022 | 103 Minuten

Regie: Sabine Derflinger

Die Journalistin, Feministin und „Emma“-Herausgeberin Alice Schwarzer ist aus der deutschen Medienöffentlichkeit nicht wegzudenken. Nachdem sie Anfang der 1970er-Jahre hauptsächlich von misogynen Männern und bekennenden Antifeministinnen anfeindet wurde, ist Schwarzer durch ihre (geschlechter-)politischen Positionen inzwischen auch in feministischen Kreisen eine umstrittene Figur. Der Dokumentarfilm zeichnet materialreich Schwarzers Weg von den 1970er-Jahren bis heute nach, überlässt dabei aber weitgehend der Protagonistin das Wort. Auf diese Weise gerät der Film nahe an eine Hagiografie. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Österreich
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Derflinger Film/Mizzi Stock Ent./Weerts Müller/Filmdelights
Regie
Sabine Derflinger
Kamera
Christine Anna Maier · Isabelle Casez
Musik
Nora Czamler · Gerald Schuller
Schnitt
Lisa Geretschläger
Länge
103 Minuten
Kinostart
15.09.2022
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarisches Porträt
Externe Links
TMDB

Dokumentarfilm über die streitbare Publizistin und Frauenrechtlerin Alice Schwarzer von den 1970er-Jahren bis in die Gegenwart.

Diskussion

Mit festen Schritten und einem Stapel Unterlagen unter dem Arm betritt Alice Schwarzer an einem Tag im Februar 1975 angriffslustig das Studio des WDR. „Alice contra Esther“, die Debatte zwischen der Feministin Schwarzer und der Schriftstellerin Esther Vilar, Autorin des antifeministischen Bestsellers „Der dressierte Mann“, ist als Duell angelegt und erfüllt dann auch alle Erwartungen an einen Zweikampf. Ersetze man das Wort „Frau“ durch andere Begriffe (neben „Jude“ nennt sie das N-Wort), seien Vilars Schriften reif für den „Stürmer“, so Schwarzer; „Sie sind nicht nur Sexistin, Sie sind auch Faschistin!“. Die Presse erfreute sich an den fliegenden Fetzen und Äußerlichkeiten wie der großen Brille von Alice Schwarzer. „Ihr Redefluß hätte nur durch das Herausreißen der Zunge gestoppt werden können“, titelt eine Zeitung. Der unverhohlene Sexismus zielt in beide Richtungen: Schwarzer ist die „böse Hexe“, Vilar das „süße Streichelkätzchen“.

Die wichtigsten Stationen

Der Dokumentarfilm von Sabine Derflinger über die so allgegenwärtige wie umstrittene Feministin, Autorin und „Emma“-Herausgeberin Alice Schwarzer porträtiert die Figur in der Rückschau auf nahezu 50 Jahre feministischer Kämpfe in (West-)Deutschland. Beginnend bei ihren Aktivitäten in der Pariser „Mouvement pour la libération des femmes“ (MLF), einer der ersten feministischen Gruppen der französischen Frauenbewegung, skizziert „Alice Schwarzer“ die wichtigsten Stationen in Schwarzers professioneller Biografie: ihre aus Frankreich exportierte Aktion gegen den Paragraphen 218 in der Illustrierten „Stern“ sowie die Sexismus-Klage gegen das Magazin einige Jahre später, die Gründung der Zeitschrift „Emma“ und Schwarzers zahlreiche Publikationen wie „Der kleine Unterschied“ oder die Biografien über Marion Dönhoff und Romy Schneider sowie die Gründung des FrauenMediaTurms in Köln, eines der wichtigsten Archive des Feminismus in Deutschland.

Eingebettet in die vor allem im ersten Teil hochdynamische Collage aus Archivaufnahmen, Fotos und Interviews mit Weggefährtinnen sind Szenen mit Schwarzer aus der Gegenwart: bei Redaktionssitzungen mit Kolleginnen, in Gesprächen mit engen Verbündeten, am Grab von Simone de Beauvoir in Paris oder auf ihrem Schulweg in Wuppertal, wo sie ihre Kindheit bei ihren Großeltern rekapituliert. Alice Schwarzer ist auch mit ihren nahezu 80 Jahren gewohnt fröhlich und stets in Redelaune; ein nachdenkliches Innehalten oder gar selbstkritische Töne sind von ihr nicht zu erwarten. Später, in privaten Videoaufnahmen ihrer Lebensgefährtin und Ehefrau, der Fotografin Bettina Flittner, zeigt sie sich auch mal leicht hadernd mit ihrer Rolle als „Ausnahmefrau“ – eine Rolle, die sie beim nächsten öffentlichen Auftritt dann aber doch wieder bereitwillig an sich reißt.

Eine Chronik der Fernsehdebatten

In seinen interessantesten Teilen ist „Alice Schwarzer“ eine Chronik der deutschen (bzw. deutschsprachigen) Fernsehdebattengeschichte. „Teletreff“, „Prisma“ und „Freitag Nacht“ hießen die Sendungen, die Schwarzer im Kampf für eine geschlechteregalitäre Gesellschaft als Bühne zu nutzen wusste. Ihr Auftreten in den frühen Jahren ist von einer unverstellten Lebendigkeit und Dringlichkeit, die Rhetorik noch nicht in jener Routinen erstarrt, die ihre Talkshow-Auftritte heute so vorhersehbar und selbstgerecht erscheinen lassen. An einem Punkt im Film blickt Schwarzer selbst fast etwas melancholisch auf diese Zeit zurück, in der Live-Programme noch durch das Hereinplatzen demonstrierender Aktivist:innen gestört werden konnten und ein Gast auch mal auf die kapriziöse Idee kam, mitten in der Sendung aufs Klo zu gehen. Heute sei das Fernsehen doch völlig uninteressant, es habe alles Anarchische verloren. Damals habe man jederzeit mit unvorhergesehenen Ereignissen zu rechnen gehabt und improvisieren müssen.

Bemerkenswerterweise ist der Film selbst wenig an einer Debatte interessiert. Alice Schwarzer muss nicht improvisieren, in keinem Moment. Stattdessen überlässt Derflinger auch bei den Themen, die Schwarzer auch innerhalb von Teilen der feministischen Aktivist:innen zur umstrittenen Figur gemacht haben – die Kopftuchdebatte, ihr Kampf gegen die Akzeptanz von Pornografie und Sexarbeit (ihre polemischen Positionen zu Transidentität fallen ganz unter den Teppich) – das Wort oder flankiert Schwarzers Positionen durch Aussagen solidarischer Mitstreiterinnen.

Nahe an einer Hagiografie

Diese völlig undialektische Herangehensweise ist bei einer Filmemacherin wie Sabine Derflinger eher verwunderlich. In „Die Dohnal“, ihrem Porträt der ersten Frauenministerin in Österreich, ließ die Dokumentaristin die Figur noch im Kreis einer jüngeren Generation diskutieren. „Alice Schwarzer“ dagegen gerät immer mehr zu „Alice Schwarzer über Alice Schwarzer“. Das Ergebnis ist nah an einer Hagiografie.

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