Comicverfilmung | USA 2022 | 480 (10 Folgen) Minuten

Regie: Jamie Childs

Serienverfilmung eines DC-Comics von Neil Gaiman: Dream, der Herr der Träume, gerät 1916 in Gefangenschaft eines britischen Okkultisten und kann erst ein Menschenleben später entfliehen. Noch geschwächt, muss er nicht nur seine eigenen Kräfte wiederherstellen, sondern das Chaos in den Griff bekommen, das seine Abwesenheit in der Traum- und in der Wachwelt verursacht hat – und dabei auch lernen, Veränderungen zuzulassen. Die von Gaiman selbst als Showrunner betreute Adaption, die in Staffel 1 Stoff aus Sammelband 1 und 2 der Comicreihe verarbeitet, begeistert wie die Vorlage nicht zuletzt durch ihren schillernden, beziehungsreichen Figurenkosmos; motivisch zusammengehalten dadurch, dass es bei allen Abwegen immer um die Conditio humana und speziell um die vielschichtigen Bedeutungen geht, die unsere Fähigkeit zu träumen für die Spezies Mensch hat. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
THE SANDMAN
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
DC Comics/DC Ent./Netflix/Phantom Four Films/The Black Corporation/Warner Bros. Television
Regie
Jamie Childs · Andrés Baiz · Louise Hooper · Mairzee Almas · Mike Barker
Buch
Neil Gaiman · David S. Goyer · Allan Heinberg · Lauren Bello · Heather Bellson
Kamera
Willy Baldy · George Steel
Musik
David Buckley
Schnitt
Jamin Bricker · Kelly Stuyvesant
Darsteller
Tom Sturridge (Traum) · Jenna Coleman (Johanna Constantine) · Gwendoline Christie (Lucifer) · Boyd Holbrook (Der Korinthianer) · Kirby Howell-Baptiste (Tod)
Länge
480 (10 Folgen) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Comicverfilmung | Horror | Mystery | Serie

Serienverfilmung eines DC-Comics von Neil Gaiman: Dream bzw. Morpheus, der Herr der Träume, gerät in Gefangenschaft und muss nach seiner Flucht die Kollateralschäden, die seine Abwesenheit in der Traum- wie Wachwelt verursacht hat, in den Griff bekommen.

Diskussion

Wir Sterblichen bestehen darauf, das, was wir im Wachzustand erleben, die „wirkliche Welt“ zu nennen, und gehen unseren Geschäften nach, als wäre diese Wirklichkeit alles, was zählt. Im Intro von „Sandman“ erinnert der Titelheld daran, wie sehr wir damit seine Machtsphäre unterschätzen. Tatsächlich lebe jeder Mensch in zwei Welten, in der wachenden Welt und in jener Welt, in die uns der Schlaf trägt. Der Sandman, auch Dream beziehungsweise Lord Morpheus genannt, Herr der Träume und Albträume und eine von sieben „The Endless“ genannten Wesenheiten, ist für die Gestaltung dieser Anderwelt und die Überwachung ihrer Kreaturen zuständig. Und wenn er diesen Job nicht tut, dann hat das nicht nur Auswirkungen auf die Träume, sondern auch auf die Wachwelt.

Mit diesen Auswirkungen werden es die Zuschauerinnen der Serie weidlich zu tun bekommen: Gleich in Folge 1 fällt Dream (Tom Sturridge) im Jahr 1916 in die Hände eines überambitionierten britischen Okkultisten (Charles Dance) und verbringt die nächsten Jahrzehnte in einem gläsernen Gefängnis in dessen Keller. Als ihm ca. ein Menschenleben später die Flucht gelingt, liegt die Traumwelt in Trümmern, Träume und Albträume haben sich in alle Winde zerstreut, und die Wachwelt ist gezeichnet von den Folgen mysteriöser Schlafstörungen, die viele Existenzen zerstört haben. Geschwächt von seiner Gefangenschaft, geht Dream daran, die Dinge wieder geradezurücken – und muss dabei auch lernen, Veränderungen zuzulassen und eine gewisse Bescheidenheit zu entwickeln, was seine eigene Rolle angeht.

Ein 1990er-Comic-Meilenstein

Mit der „Sandman“-Reihe bei DC-Comics schuf Neil Gaiman ab 1989 jenes Werk, das ihn international bekannt machen sollte und seinen Ruhm als einer der besten Fantasy-Autoren seiner Zeit begründete. Die Zeit war reif dafür: Art Spiegelmans „Maus“ hatte in den 1980ern einen wichtigen Impuls dafür geliefert, Comics als Kunstform respektabel zu machen (1992 sollte Spiegelman als erster Comicautor überhaupt einen Pulitzer-Preis bekommen), und bei der Kultschmiede DC sorgten neben Gaiman andere britische Autoren, allen voran Alan Moore (u.a. „Watchmen“), für eine Emanzipation von vertrauten Superhelden-Mustern. Bei der Kreation der „Sandman“-Reihe spielte Gaiman mit Versatzstücken aus dem DC-Universum, vor allem aber schwebte ihm vor, eine Fantasywelt im Stil von Robert Zelazny zu entwerfen, in der alte Mythen und die Moderne postmodern aufeinanderprallen. Ähnlich wie später in „American Gods“ oder „Good Omens“ jongliert er elegant mit unterschiedlichsten kulturgeschichtlichen Elementen, von biblischen Figuren über den heidnischen Götter-Pantheon bis hin zu William Shakespeare, und mit verschiedenen Zeit- und Wirklichkeitsebenen. Dramaturgisch gebändigt wird die Erzählfülle durch die Missionen, die Gaiman seinen Sandman verfolgen lässt; motivisch zusammengehalten dadurch, dass es bei allen Abwegen immer um die Conditio humana und speziell um die vielschichtigen Bedeutungen geht, die unsere Fähigkeit zu träumen für die Spezies Mensch hat.

Nah an der Vorlage

Wie schon bei der Adaption von „Good Omens“ fungiert Gaiman selbst als Showrunner der Serienverfilmung, und wieder gelingt es ihm, dem Stoff treu, aber nicht sklavisch ergeben zu bleiben und klug zu raffen. Die Auftakt-Staffel speist sich aus den ersten Sammelbänden der Comic-Reihe („Präludien und Notturni“; „Das Puppenhaus“): Folge 1 bis 5 kreist um Dreams Gefangenschaft und um seine Bestrebungen, danach erst seine Macht und dann das Traumreich wiederherzustellen, indem er seine verlorenen Talismane wiederbeschafft – ein Säckchen mit Traumsand, einen Helm (dessen Gasmasken-ähnliches Design an die DC-Figur Sandman angelehnt ist, wie sie ursprünglich in Comics der 1940er-Jahre auftrat) und ein Rubin-Amulett.

Folge 6 stellt einen berührenden kleinen Exkurs dar, in dem Dream in eine Art Sinnkrise verfällt und erst durch den Austausch mit zwei der schönsten Nebenfiguren der Comicreihe, seiner Schwester Death und seinem unsterblichen menschlichen Freund Hob Gadling, wieder neue Motivation findet. Und Folge 7 bis 10 kreisen schließlich um Dreams Versuche, gefährliche Folgen seiner langen Abwesenheit in den Griff zu kriegen, vor allem das Marodieren eines mörderischen Albtraums, der „Der Korinther“ genannt wird, und das Auftauchen eines sogenannten „Traumstrudels“ in Gestalt einer jungen Frau namens Rose Walker, die zwar nichts Böses will, aber das Potenzial hat, sowohl Wach- als auch Traumwelt zu zerstören.

Auch in Serienform überwiegt der Reiz des Episodischen den Sog der übergeordneten Spannungsbögen. Die große Zuneigung, die Gaiman zu seinen Geschöpfen hat, und sein warmherziger Blick, der schön übersichtliche Held-Schurke-Unterscheidungen unterläuft, finden eine Resonanz in dem ausgezeichneten Casting, das dazu beiträgt, die Comic-Figuren in der Serie zu lebensvollen Charakteren auszubauen. Kongenial ist die Besetzung der Titelrolle mit dem 1985 geborenen Briten Tom Sturridge, der nicht nur optisch bestens in den kultigen Goth-Kid-Look der Comicfigur hineinpasst, sondern (in der Originalfassung) vor allem dank seiner Stimme und seiner sehr britischen Fähigkeit, mit Sprache umzugehen, so viel Würde und Grandezza entfaltet, wie es für ein unsterbliches und quasi-göttliches Wesen braucht. Die ambivalenten Seiten der Figur – ihre grundsätzliche Güte und ihr Verantwortungsbewusstsein, eine gewisse Fragilität, die aber auch in Härte bis hin zu Grausamkeit und Überheblichkeit umschlagen kann – bringt er bestens rüber.

Schurken, Raben, starke Frauen und Lucifer höchstselbst

Als Anspielpartner haben ihm Gaiman und Co. eine Reihe verdienter Darsteller:innen gegenübergestellt. So glänzt David Thewlis in der Rolle des John Dee, dem Dream sein Rubin-Amulett wieder abjagen muss: Er befreit die Rolle nahezu vollständig vom „Doctor Destiny“-Superschurkenflair, sondern rückt den Schmerz der Figur in den Mittelpunkt, die schwer an ihrer verkorksten Familiengeschichte trägt, eigentlich mit Hilfe des Rubins eine bessere, ehrlichere Welt erschaffen will, dabei aber blind dafür ist, was sie anderen Menschen antut (was wie im Comic in einer klaustrophobisch-dichten Episode anhand des Mikrokosmos eines Diners, bei dem Dee mit einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Leuten zusammentrifft, exemplifiziert wird). Der Komiker Patton Oswalt liefert die Stimme für Dreams Raben-Begleiter Matthew und gibt damit ein hervorragendes Gegengewicht für den melancholisch-grüblerischen Titelhelden ab.

Außerdem glänzt die Serie mit starken Frauenfiguren. Zusätzlich zu charismatischen Protagonistinnen wie Death (Kirby Howell-Baptiste) und Rose Walker (Vanesu Samunyai), die schon in den Comics angelegt sind, haben die Serienmacher dafür einige Figuren weiblich umbesetzt: Weil die DC-Figur John Constantine aus rechtlichen Gründen für die „Sandman“-Serie nicht zur Verfügung stand, gibt Jenna Coleman eine weibliche Verwandte des coolen Exorzisten, die Dream bei der Wiederbeschaffung seines Traumsandes hilft, und ist dabei alles andere als eine Notlösung. Gwendoline Christie schließlich spielt Lucifer höchstselbst (für dessen Comic-Vorbild Gaiman einst den androgynen David Bowie im Sinn hatte), mit dem Sandman sich in der Hölle auf ein Magie-Duell einlassen muss, um seinen Helm wiederzuerlangen – ein blondgelockter gefallener Engel, hinter dessen sanft-höflicher Fassade Christie sozusagen das Eis des untersten Höllenkreises durchblitzen lässt. Und Vivienne Acheampong, die aus dem Bibliothekar des Traumlands eine loyale, aber alles andere als unterwürfige weibliche rechte Hand von Lord Morpheus macht, hat schließlich entscheidenden Anteil dabei, dass dieser am Ende von Staffel 1 wichtige Lektionen lernt.

Auch wenn „Sandman“ als Effekt-Spektakel funktioniert – die visuelle Gestaltung orientiert sich eher am aktuellen Fantasy-Kino als am Stil der Comics –, liegt somit die Magie der Serie vor allem in der Begegnung mit dem wunderbarem Figuren-Kosmos. Dabei wird entwaffnend Gaimans Humanismus sichtbar: In seinen Geschichten über Götter, Dämonen und andere übersinnliche Wesen geht es letztlich immer um den Glauben an die Menschheit; um einen optimistischen, allen menschlichen Fehlern und Irrsinnigkeiten trotzenden Blick auf die Vitalität unseres irdischen Chaos und die Kräfte der menschlichen Herzen. Selbst wenn es zwischendurch direkt in die Hölle geht: Die Hoffnung, die Dante einst aus dem Inferno ausschloss, lässt Neil Gaiman für uns selbst dort nicht fahren.

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