Schlachthäuser der Moderne

Dokumentarfilm | Deutschland 2022 | 80 Minuten

Regie: Heinz Emigholz

Ausgehend von den Bauten des italienischstämmigen Architekten Francisco Salamone (1897-1959) in Argentinien, zu denen Rathäuser, Friedhofsportale, aber auch Schlachthäuser gehören, vermisst der Dokumentarfilm, wie sehr die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts in die Architektur hineinspielt. Eine weitere Linie führt dabei zum Berliner Stadtschloss, von dem aus Kaiser Wilhelm II. eine vernichtende Kolonialpolitik betrieb und das heute das Humboldt Forum beherbergt. In enthüllenden Kamera-Einstellungen sowie einem beharrlichen Kommentar spürt der Film seiner These materialisierter Geschichte nach und brandmarkt insbesondere die Kontinuität faschistischer und antisemitischer Weltbilder. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Filmgalerie 451
Regie
Heinz Emigholz
Buch
Heinz Emigholz
Kamera
Heinz Emigholz · Till Beckmann
Musik
Kiev Stingl
Schnitt
Heinz Emigholz · Till Beckmann
Länge
80 Minuten
Kinostart
19.01.2023
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. die abendfüllenden Dokumentarfilme „Mamani in El Alto“ (D 2022, R: Heinz Emigholz, 95 Min.) und „Salamone, Pampa“ (D 2022, R: Heinz Emigholz, 62 Min.) sowie ein Booklet mit Texten zu den Filmen von Heinz Emigholz.

Verleih DVD
Filmgalerie 451 (16:9, 1.78:1, DD5.1 dt.)
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Doku über die vom faschistischen Geist geprägten Bauten des italienischstämmigen Architekten Francisco Salamone aus den 1930er-Jahren in Argentinien sowie ideologische Querverbindungen zwischen der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts und der Architektur.

Diskussion

Die Worte „Matadero municipal“ prangen in großen Lettern an den Türmen, die an der Frontseite der Gebäude in die Luft ragen. „Schlachthäuser der Gemeinde“ waren das also einmal, und einigen von ihnen sieht man das innen immer noch an. Das Eisengestänge an den Decken, das zum Aufhängen und Transport der Tierkadaver verwendet wurde, ist oft noch an seinem Platz, obwohl die große Mehrzahl der Bauten, die Heinz Emigholz in „Schlachthäuser der Moderne“ filmt, nicht länger ihrem ursprünglichen Zweck dient. Manche sind umfunktioniert worden und beherbergen zum Beispiel Museen; viele befinden sich im Zustand des Verfalls. Grasüberwuchert, allein und verloren stehen sie in den Weiten der argentinischen Pampa, Monumente eines vergangenen, zu weiten Teilen auf Viehzucht basierenden Wirtschaftsbooms und zugleich Zeugnisse einer durchaus rätselhaften architektonischen Ambition.

Denn von außen sehen diese Mataderos ganz und gar nicht so aus, wie man sich Schlachthäuser vorstellt, also Funktionsgebäude, die andernorts schon aufgrund des Tierbluts, das an ihnen haftet, eher in schlichter Allerweltsarchitektur versteckt werden. Die Bauwerke, die Emigholz filmt, schauen hingegen fast wie kleine Paläste aus. Mit ihren harschen, nackten, grob ornamentalisierten Betonfassaden wirken sie zwar nicht wirklich prunkvoll, aber doch dominant und selbstbewusst, auf Beherrschung des sie umgebenden Raums zielend. Sie wurde in den 1930er-Jahren nach Plänen des italienischstämmigen Architekten Francisco Salamone errichtet.

Zur selben Zeit, damit setzt der Film ein, baute Salamone in Argentinien aber auch Rathäuser und Friedhofsportale. Gebäude also, die schon ihrem Wesen nach auf Repräsentation, auf symbolischen Überschuss zielen. Es sind in der Tat vor allem die herrisch und karg in die Höhe schnellenden, die Gebäude symmetrisierenden Türme, die Salamones eklektisch-modernistischer, zweifellos origineller, oft faszinierender, aber nicht unbedingt menschenfreundlicher Architektur ihre Einheit geben.

Metapher für die deutsche Gewaltgeschichte

Dass Salamones Türme nicht nur Stätten der Macht und Stätten der Erinnerung, sondern auch Stätten des Todes zieren, ist kein bloßer Zufall einer Werkbiografie. Das zumindest ist die Ausgangsüberlegung von „Schlachthäuser der Moderne“. Die bizarren Schlachthausruinen in der Pampa gerinnen für Emigholz zu einer Metapher, die weit über ihren unmittelbaren ökonomischen Kontext hinausgreift – in die Architekturgeschichte natürlich, aber auch in die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Insbesondere in die deutsche Gewaltgeschichte, die mit den Kolonialkriegen und Völkermorden in Deutsch-Südwestafrika zu Beginn des Jahrhunderts einsetzt, sich im Holocaust und zwei Weltkriegen in historisch singulärer Manier fortsetzt und nach 1945 auch ein Nachspiel in Argentinien hat: Das Land wird zur Wahlheimat zahlreicher exilierter Nazis, die einerseits von einem vierten Deutschen Reich träumen, sich andererseits lokalen Faschisten als Ratgeber andienen.

Eine andere Linie führt über das 20. Jahrhundert hinaus in die Gegenwart, und zwar ebenfalls in die deutsche. Genauer gesagt zum Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, das einst preußischen Königen und deutschen Kaisern als Winterresidenz diente und heute das Humboldt-Forum beherbergt. Emigholz lässt keinen Zweifel daran, was er von einem der meistdiskutierten Bauprojekte der Berliner Republik hält. „Buchstäblich Mist gebaut“ habe man da auf der Spreeinsel, heißt es im Voice-Over; anschließend konfrontiert der Film die Realität des monumental-hybriden Gebäudes mit den Untaten und Ansichten seines ehemaligen Bewohners Wilhelm II., der als passionierter Völker- und Kriegsgefangenenmörder sowie krass antisemitischer „Proto-Hitler“ dingfest gemacht wird.

Architektur als materialisierte Geschichte

Dass Architektur einen sozialen Gehalt hat, dass Architektur in letzter Konsequenz nichts anderes ist als materialisierte Geschichte: das ist eine Gewissheit, die alle Emigholz-Architekturfilme prägt. Die meisten Arbeiten in seinen inzwischen kaum noch zu überblickenden Filmserien „Architektur und Autobiografie“ sowie „Photographie und jenseits“ setzen sich allerdings die Aufgabe, diesen Gehalt im filmischen Blick auf Architektur direkt sichtbar werden zu lassen. Auch zwei im Herbst 2022 auf dem DOK Leipzig Festival präsentierte Parallelprojektionen zum Schlachthaus-Film sind in diesem Stil gehalten: „Salamone, Pampa“ untersucht die Bauten des argentinischen Architekten ausführlicher und ohne Begleitkommentar; und „Mamani in El Alto“ widmet sich der von indigenen Kunsttraditionen beeinflussten knallbunten, oft fast raumschiffartig das Stadtbild in Unordnung versetzenden Architektur des Bolivianers Freddy Mamani, die in „Schlachthäuser der Moderne“ als dialektische Schlusspointe auftaucht.

Auch in „Schlachthäuser der Moderne“ selbst finden sich die charakteristischen Emigholz-Einstellungsfolgen, in denen ein Gebäude Schritt für Schritt aus unterschiedlichen Distanzen und Perspektiven erschlossen wird. Dazu tritt jedoch von Anfang an ein zwar nicht kontinuierlicher, aber beharrlicher Voice-Over, und später im Film taucht unter anderem ein Mann im Neoprenanzug aus einem argentinischen See auf und spricht über das krude Weltbild der Exil-Nazi-Community.

Was tun, wenn das Denken irre wird?

In dem Maße, in dem die gedanklichen, historischen und geografischen Sprünge wagemutiger werden, entgrenzen sich auch die filmischen Mittel. Dennoch ist es möglicherweise nicht ganz angemessen, oder jedenfalls nicht ausreichend, die spielerische, hybride Form, die Emigholz seinem Film gibt, auf den Begriff des „Essayfilms“ zu bringen. Im Kern bleibt der Blick ein dokumentarischer und der manifesten, historischen Realität der Architektur als einer Kunst des materialisierten Denkens verpflichtet. Die Frage, die sich „Schlachthäuser der Moderne“ stellt, lautet: Was tun, wenn dieses Denken irre wird? Vor allem dem Berliner Stadtschloss kommt man nicht bei mit einer bloßen audiovisuellen Rekonstruktion seiner Form. Die Obszönität, die es darstellt, verweist auf eine Krise der Repräsentation, die auch das Kino von Heinz Emigholz erfasst.

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