Der Rhein fließt ins Mittelmeer

Dokumentarfilm | Israel 2021 | 95 Minuten

Regie: Offer Avnon

Zehn Jahre hat der israelische Filmemacher Offer Avnon in Deutschland gelebt. Sein Aufenthalt in dem Land, für das er als Sohn eines Holocaust-Überlebenden widersprüchliche Gefühle hegt, hat ihn zu einem sehr persönlichen Dokumentarfilm motiviert. Darin lässt er Deutsche, Juden und Polen über ihr Leben erzählen und ihre Sichtweise auf den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust und die Nachkriegszeit darlegen. In Israel reflektiert er auch über das schwierige Zusammenleben von israelischen Juden und Arabern. Bruchstückhaft, assoziativ und gedankenreich, bezieht der Film Landschaften und Gegenstände ein und ist mehr an Fragen und Einstellungen als an einem Dialog interessiert. Die Beurteilung der Bilder und Protagonisten überlässt er meist dem Publikum. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Israel
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Offer Avnon
Regie
Offer Avnon
Buch
Offer Avnon
Kamera
Offer Avnon
Schnitt
Offer Avnon
Länge
95 Minuten
Kinostart
04.05.2023
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Sehr persönlich-fragmentarischer Dokumentarfilm des israelischen Regisseurs Offer Avnon, der über Holocaust, Vertreibung und die Beziehung zwischen Deutschen und Juden sowie von Juden und Arabern reflektiert.

Diskussion

Die alte Frau, eine deutsche Nachbarin des Regisseurs Offer Avnon, soll aus ihrer Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus erzählen. Doch sie möchte nicht im Bild erscheinen und auch nicht namentlich genannt werden. Am liebsten soll Avon auch ihre Stimme nicht verwenden. Letzteres geht schlecht; den anderen Wünschen der betagten Bekannten kommt der israelische Regisseur nach.

Wenn die deutsche Zeitzeugin redet, blendet die Kamera zunächst nur den von ihr liebevoll gedeckten Kaffeetisch ein. Danach erscheinen zu ihren Redebeiträgen Bilder des Rheins. Beides sind starke Symbole – von deutscher Gemütlichkeit, aber auch vom deutschen Strom schlechthin, der viele deutsche Denker inspiriert hat, darunter auch den jüdischen Dichter Heinrich Heine.

Die alte Frau will nicht so recht erzählen. Sie wiegelt ab, erinnert sich auf Avnons Nachfragen hin aber schließlich doch an mehr als sie ursprünglich angedeutet hat. Sie agiert als eine von sehr unterschiedlichen Gesprächspartner:innen des israelischen Filmemachers, der „ohne plausiblen Grund“ eines Tages in Deutschland strandete und dort zehn Jahre lang lebte. Dabei habe er „die schöne Sprache des ehemaligen Erzfeindes“ gelernt, aber an keinem Tag den Holocaust vergessen.

Das Mahnmal „Gleis 17“

Das sind bittere, nachvollziehbare, aber paradoxerweise auch günstige Voraussetzungen, um sich auf eine filmische Suche zu begeben, die das komplexe Verhältnis zwischen Deutschen und Juden, Tätern und Mitläufern sowie den Opfern und ihren Nachkommen evozieren soll. Auch polnische und israelische Interviewte erzählen von Vergangenheit und Gegenwart.

Alle Redebeiträge sind fragmentarisch, stehen aber durch den Filmschnitt in Bezug zueinander und werden durch die sehr persönlichen Überlegungen des Regisseurs im Off ergänzt. Auf diese Weise bleibt vieles in der Schwebe; anderes dagegen erklärt sich oft von allein, vor allem wenn Avnon Gegenstände und Landschaften sprechen lässt: jüdische Friedhöfe, deutsche Bäume, Gitter, Duschen, Bahngleise – etwa das Mahnmal „Gleis 17“ am Berliner Bahnhof Grunewald, das an die vielen Tausend Juden erinnert, die von dort aus mit der Reichsbahn in die Vernichtungslager deportiert wurden.

Man muss allerdings einiges an Eigenleistung aufbringen, um gewisse Orte zu erkennen, denn meist werden sie in Großaufnahme und ohne Kontext in Szene gesetzt. Diese Vorgehensweise erweist sich als Leitmotiv des Films, der wenig erklärt, dafür umso mehr zeigt oder andeutet.

Geografische wie mentale Unvereinbarkeiten

Der absurde und doch treffende Filmtitel „Der Rhein fließt ins Mittelmeer“ weist auf geografische und mentale Unvereinbarkeiten hin und gibt den Beteiligten dennoch Raum, ihre Erfahrungen oder Interpretation der Geschichte darzulegen. So entpuppt sich ein ehemaliger Bundeswehrsoldat als besonders reflexionsresistent. Er spricht sich gegen „deutsche Selbstgeißelung“ aus und baut „zur Entspannung und Freizeit“ Modelle von Wehrmachtspanzern nach. Später stellt er nicht ohne Stolz Gemälde und Memorabilia aus NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg zur Schau; einige stammen von Mitgliedern seiner eigenen Familie. Mit dem Holocaust habe er kein Problem, sagt er mit einem erschreckenden Mangel an Geschichtsbewusstsein und Empathie. Der Gedanke, dass jemand wie er längere Zeit bei der Bundeswehr war, lässt schaudern.

Auch eine alte polnische Frau macht keinen Hehl aus ihrer Antipathie gegen Juden. Ohne jegliches Einfühlungsvermögen oder nachträgliche Einordnung in die Geschichte begründet sie ihre Einstellung (oder ist es ein Vorwand?) damit, dass jüdische Frauen aus dem Krakauer Ghetto sie damals gebeten hätten, ihnen Kosmetika zu bringen. In einer Mischung aus Naivität und Verzweiflung hofften die dort Eingepferchten, dass die Deutschen geschminkten Frauen gegenüber milder agieren würden, was die alte Frau offenbar noch immer als Anbiederung an den Feind interpretiert. Eine junge Polin steht im Kontrast zu ihrer Landsfrau. Sie arbeitet als Freiwillige in Israel, wo sie auch den österreichischen Holocaust-Überlebenden Kurt betreut, der während der Dreharbeiten 98 Jahre alt wird.

In den Äußerungen eines anderen Holocaust-Überlebenden aus Polen, des Vaters des Regisseurs, kommen jüdische Urängste zum Vorschein: Obwohl der in Haifa Lebende ein freundschaftliches Verhältnis zu seinem palästinensischen Fleischer unterhält, traut er seinen arabischen Nachbarn zu, dass sie alle Juden vernichten würden, wenn sie die Gelegenheit dazu hätten.

Die Assoziationen fließen

„Der Rhein fließt ins Mittelmeer“ handelt in bruchstückhafter Form von Wunden, die nicht verheilen, von Vorurteilen, Verdrängung, mangelnder Kommunikation und einer Sicht auf die Historie, bei der das Sein das Bewusstsein bestimmt. Die Zugehörigkeit zu einer nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppe sorgt neben einer eigenen Geschichtsauffassung auch für unterschiedliche Assoziationen mit gewissen Orten. So verbindet der Vater eines deutschen Freundes von Avnon Bahngleise nicht mit jüdischer Deportation, sondern mit weißen Armbinden, die deutsche Vertriebene nach dem Krieg dort bei ihrer Ankunft in Deutschland hinterlassen hätten. Bei jüdischen Protagonisten, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, spürt man das durch ihre Eltern und Großeltern vererbte Trauma, bei Deutschen der Kriegs- und Nachkriegsgenerationen eher Verdrängung oder Relativierung.

Offer Avnon geht es weniger um Ausgewogenheit als vielmehr um unterschiedliche Perspektiven, mehr um Gefühle als um rationale Überlegungen. Der Film wirft viele Fragen auf, gibt kaum Antworten und mutet es den Zuschauern zu, die Ergänzungsarbeit übernehmen.

Zur Ergänzung aufgefordert

Dieses Prozedere ist nicht ohne Fallen, denn einige Protagonisten versteht man durch einen mangelnden Kontext entweder nicht oder interpretiert ihre Aussagen womöglich falsch. So kann man Fragen danach, ob sich Geschichte wiederholt oder der Holocaust einzigartig ist, nicht durch die zu Kurzaussagen geschnittenen Redebeiträge einer Psychologin oder eines Ahnenforschers klären. Avnon wird nicht allen Gesprächspartnern gerecht; manche verkommen zu Statisten. Stellenweise kann man Situationen, Menschen und Meinungen nicht einordnen, und so stößt auch seine Methode des Fragmentarischen und Assoziativen bisweilen an Grenzen.

Ein Dialog zwischen den unterschiedlichen Befragten ist nicht intendiert. Wechselwirkungen entstehen durch die teilweise konträren Ausführungen der Gesprächspartner und ihrer Beziehung zum Regisseur, der Fragen stellt, aber während ihrer Ausführungen wenig eingreift.

Am Ende hat Avnon sein deutsches Kapitel abgeschlossen und zieht wieder nach Israel. Dadurch zeigt er eine weitere Perspektive auf; sein Blick auf Israel hat sich durch seinen zehnjährigen Aufenthalt in Deutschland verändert. Für Widersprüche in der israelischen Gesellschaft ist der Filmemacher sensibilisiert und zeigt diese auf seine unaufdringliche Art mit aussagekräftigen Bildern und Gesprächen, aber so, dass er ihre endgültige Beurteilung dem Publikum überlässt.

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