Hohlbeins - Der Greif
Fantasy | Deutschland 2023 | 360 (sechs Folgen) Minuten
Regie: Sebastian Marka
Filmdaten
- Originaltitel
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2023
- Regie
- Sebastian Marka · Max Zähle
- Buch
- Sebastian Marka · Erol Yesilkaya
- Kamera
- Willy Dettmeyer
- Schnitt
- Andreas Baltschun · Lucas Seeberger · Angela Tippel
- Darsteller
- Jeremias Meyer (Mark) · Lea Drinda (Becky) · Theo Trebs (Thomas) · Sabine Timoteo (Petra, Marks Mutter) · Zoran Pingel (Memo)
- Länge
- 360 (sechs Folgen) Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 16
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Fantasy | Literaturverfilmung | Serie
Der Auftakt einer Fantasyserie nach dem Bestseller „Der Greif“ von Wolfgang und Heike Hohlbein: In den 1990ern bekommt es ein Teen in einer deutschen Durchschnittsstadt mit den Kreaturen des „Schwarzen Turms“ zu tun, einer düsteren Parallelwelt.
Es ist wohl unvermeidlich, dass irgendwann Radioheads „Creep“ ertönt: Wir befinden uns in den 1990er-Jahren, die Hauptfigur der Serienverfilmung von Wolfgang und Heikes Hohlbeins „Der Greif“ ist ein jugendlicher Außenseiter, verliebt und obendrein ein Musikfan, der einen Großteil seiner Freizeit im Plattenladen seines älteren Bruders verbringt. Eine Steilvorlage für eine Soundtrack-Orgie! Der Plattenladen kommt, wie die Verliebtheit, nicht in der Vorlage vor, sondern ist Teil des erzählerischen Fleisches, das die Serienmacher Sebastian Marka und Erol Yesilkaya auf die Knochen des Originals packen, um es zu etwas auszubauen, was ein multimediales Fantasy-Franchise werden soll.
In den 1980ern kam man als Fantasy-Fan an den Hohlbeins nicht vorbei
Angesichts der Tatsache, wie erfolgreich in den letzten Jahren retro-verliebte Fantasy-Formate wie „Stranger Things“ oder die „Es“-Verfilmungen waren, war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis jemand auf die Idee kommen würde, in Deutschland Ähnliches zu versuchen und dafür auf eine Hohlbein-Vorlage aufzubauen. Wenn man in den 1980er-Jahren auf Fantasy stand und in deutschen Buchhandlungen nach Lesefutter stöberte, kam man an den dicken, schwarzen Bänden aus dem Verlag Ueberreuter, auf deren Rücken in knalligen Farben Titel wie „Märchenmond“, „Midgard“, „Elfentanz“ oder „Drachenfeuer“ prangten, schwerlich vorbei: Für Wolfgang Hohlbein, den wohl erfolgreichsten Vielschreiber der deutschen Genreliteratur, markierte das Jahrzehnt den Durchbruch, und daran waren neben Reihen wie dem „Enwor“-Zyklus und der „Hexer von Salem“-Serie nicht zuletzt besagte Jugendbücher, die Hohlbein in Kooperation mit seiner Frau Heike verfasste, verantwortlich. 1989 erschien „Der Greif“, einer der Bestseller des Paares.
Während „Märchenmond“ und Co. in High-Fantasy-Fußstapfen wandelten, das heißt ganz oder großteils in magischen Anderwelten spielen, flirteten die Hohlbeins hier mit der literarischen Phantastik à la „Der Golem“, und nicht zuletzt schlug sich auch die Liebe zum Horrorgenre nieder: Es geht um einen Jungen in einer normalen deutschen Stadt, dessen Leben vom Einbruch unheimlicher Kreaturen aus der Bahn geworfen wird und der schmerzhaft lernt, dass neben seiner Realität, die zunehmend brüchig wird, ein magisches Taschenuniversum existiert, die Welt des „Schwarzen Turms“, und dass diese unheilvoll mit seinem Schicksal und dem seiner Familie verquickt ist.
„Smells Like Teen Spirit“-Vibes
Mit Stephen Kings Anfang der 1980er-Jahre gestartetem „Dark Tower“-Zyklus hatte das nichts zu tun; die Inspiration für ihren Schwarzen Turm scheinen die Hohlbeins eher aus den mittelalterlichen Bildwelten gotischer Kathedralen, gepaart mit einem Schuss Lovecraft’scher Albtraum-Architektur, geholt zu haben, und erzählerisch blieben sie bescheidener als King: Wo dieser einen ausufernden Multiversums-Entwurf schuf, lieferten die Hohlbeins 1989 ein kompaktes Abenteuer, das nur am Rand mit der Idee potenzieller weiterer Parallelwelten liebäugelt und das temporeiche Vorantreiben einer abenteuerlich-fantastischen Handlung übers detailreiche Ausmalen von Figurenhintergründen und „Worldbuilding“ stellt.
Das neue „Der Greif“-Franchise bei Amazon geht nun daran, diesen Nukleus auszudehnen: Mit einer Prequel-Reihe aus drei Kurzgeschichten von Wolfgang Hohlbein und Erol Yersilkaya, einer Hörspiel-Serie bei Audible sowie der freien Serienadaption des Romans. Und deren Macher wiederum bauen in der ersten Staffel ein Handlungsgerüst auf, das breiter angelegt ist als die Vorlage. Vor allem, indem sie die Lebenswelt der Hauptfigur ausschmücken, nostalgische „Smells Like Teen Spirit“-Vibes einflechten und das Gefühl des Aufwachsens in einer (west-)deutschen Durchschnittsstadt in den 1990er-Jahren heraufbeschwören. Dabei erweitern sie auch das Ensemble: Während der Roman ganz auf seine Hauptfigur Mark konzentriert ist, flankiert die Serie ihn mit einer Handvoll jugendlicher Figuren, die einerseits ein erweitertes Identifikationsangebot schaffen (indem zum Beispiel auch Mädchenfiguren eine Rolle spielen), andererseits den Fantasy-Stoff um eine große Portion Teen-Drama erweitern.
Der Schatten des Schwarzen Turms
Mark Zimmermann (Jeremias Meyer) gilt in seiner (in Anlehnung an Wolfgang Hohlbeins Biografie „Krefelden“ getauften) Heimatstadt als Sonderling. Das liegt an seiner Verschlossenheit, aber auch an einer skandalösen Familiengeschichte (die via Rückblenden in die 1980er-Jahre eingeflochten wird): Marks Vater ist bei einem selbst verursachten Brand in einer Kirche ums Leben gekommen, nachdem er vorher anscheinend in einem psychotischen Schub seine beiden Söhne „entführt“ hat; Marks älterer Bruder Thomas (Theo Trebs) wurde später von der Mutter, einer Krankenschwester (Sabine Timoteo), eine Zeitlang in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen, weil er die vermeintlichen Wahnvorstellungen seines Vaters von einem Schwarzen Turm und dessen monströsen Bewohnern teilt; seitdem herrscht zwischen ihm und der Mutter eisige Funkstille. Mark kommt, mit Hilfe regelmäßiger Sitzungen beim Psychologen Dr. Peters (Thorsten Merten), vergleichsweise gut zurecht, hält zu seinen Mitmenschen aber Distanz; seine engeren sozialen Kontakte beschränken sich auf die Mutter, Thomas und den Heavy Metal liebenden Memo (Zoran Pingel), einen Jungen, der im Plattenladen jobbt. Als an seiner Schule eine neue Mitschülerin namens Becky (Lea Drinda) auftaucht, wird das neben der Musik zum Lichtblick in Marks Leben: Dass andere Schüler wie das It-Girl Sara (Flora Li Thiemann) sie vor Mark angesichts seiner dubiosen Familiengeschichte warnen, schert die selbstbewusste Berlinerin nicht, die gerade zu ihrem von der Mutter getrenntlebenden Vater gezogen ist, bei dem es sich ausgerechnet um Marks Therapeuten Dr. Peters handelt. Zwischen ihr und Mark beginnt es zu funken.
Doch das Glück des Frischverliebtseins wird konterkariert von einer anderen Entwicklung: Thomas schenkt Mark zum 16. Geburtstag die „Chronik“ der Familie seines Vaters, ein ledergebundenes Buch, das voll ist mit Infos rund um den Schwarzen Turm und seinen Herrn, den Greif. Und damit kommen gefährliche Dinge in Gang. Mark wird, zunächst zufällig, dann beabsichtigt, einen Weg in den Schwarzen Turm finden und entdecken, dass er über eine seltene Fähigkeit verfügt. Damit hofft er, die Herrschaft des Greifs brechen zu können, der mit Hilfe seiner gehörnten, aus Stein geschaffenen Schergen Menschen versklavt und auch Thomas in seine Gewalt bringt.
Wenig Gespür für die Horror-Aspekte des Buchs
Den Reiz des Hohlbein-Romans machen nicht zuletzt Episoden aus, in denen schön gruselig davon erzählt wird, wie sich die scheinbar solide Realität als durchlässig für die Schrecken des Schwarzen Turms entpuppt und Mark dabei niemanden hat, an den er sich hilfesuchend wenden kann, weil er damit rechnen muss, von seiner Mutter, Ärzten, der Polizei et cetera eher für wahnsinnig gehalten als ernstgenommen zu werden: wenn etwa eine froschförmige Vase neben einem Krankenhausbett oder die Stuck-Ornamente in einer Uni-Bibliothek ein unheimliches, aggressives Eigenleben entwickeln, wenn à la „Poltergeist“ ein Fernsehbildschirm zur Öffnung wird, durch die Wesen des Turms in die Realität dringen, ein Fahrstuhl in einem Kaufhaus zu einer Art Passage in die Hölle und der Kaufhausdetektiv zum Monster wird oder in der vielleicht schaurigsten Episode sich ein Kinderheim, in das Mark gesteckt wird, als trügerische Illusions-Falle entpuppt. Fans des Buches dürften enttäuscht sein, dass kaum eine dieser Szenen es (zumindest in der ersten Staffel) in die Serie geschafft hat. Leider ist das, was die Macher stattdessen bieten, nur teilweise ein guter Ersatz dafür. Zwar gibt es einige Szenen, in denen auch hier mit dem Einbruch von Turm-Kreaturen in die Realität gespielt wird, inszenatorisch wird aus diesen allerdings nicht viel an atmosphärischem Gruselpotenzial rausgeholt – eher noch an Action, wenn etwa ein Ding, das in seiner zwischen Pflanzen- und Insektenhaftigkeit changierenden Monstrosität an die Demodogs aus „Stranger Things“ erinnert, zum Finale hin für einen Spektakel-Höhepunkt sorgt.
Trotz einiger sehenswerter Schauplätze – gedreht wurde unter anderem im brandenburgischen Kloster Chorin – gelingt es zudem nicht, ein in sich stimmiges visuelles Pendant für die albtraumhafte Gothic-Horror-Anmutung zu finden, die der Schwarze Turm im Buch hat, schon weil ein Großteil der Szenen, die in dieser Anderwelt spielen, an einem Ort gedreht sind, dessen steppenartige Landschaft aus Sand, Fels und etwas Grün eher an Western denken lässt. Die Gehörnten, die diese Landschaft bevölkern und die wie im Roman äußerlich an mittelalterliche Dämonenfiguren angelehnt sind, wirken da fast etwas deplatziert. Auch wenn sie per se – dank der Verkörperung durch Tänzerinnen und Tänzer sowie einer eigens entwickelten Lautsprache – durchaus eindrucksvoll gestaltet sind.
Zwiespältige Erweiterungen
Gelungen ist in der Serie nicht zuletzt die Handlung rund um die Liebe zwischen Mark (der in der Serie einige Jahre älter ist als im Buch) und Becky – nicht nur, weil sowohl Jeremias Meyer als auch Lea Drinda ihre Sache sehr gut machen, sondern vor allem, weil die Autoren diese Beziehung geschickt dafür nutzen, das Glaubwürdigkeits-Dilemma, das die Hauptfigur hat, mit noch mehr emotionaler Dringlichkeit aufzuladen: Mark vertraut Becky die Wahrheit über den Schwarzen Turm an und hofft auf ihre Unterstützung; Becky, die Psychologen-Tochter, kommt dadurch in einen peinigenden Zwiespalt: Wenn sie Mark glaubt – stärkt sie dann ihrem Freund den Rücken, oder leistet sie dessen Wahnvorstellungen Vorschub und trägt zur Verschlechterung seines Zustands bei?
Unter den neu hinzuerfundenen Figuren der Serie hat sie damit den interessantesten Konflikt zu bewältigen; die anderen Charaktere bleiben deutlich blasser. Zoran Pingel als Memo, der Mark bei seinen Abenteuern im Schwarzen Turm zur Seite steht und dabei überraschende Überlebensfähigkeiten entwickelt, gibt zwar einen durchaus sympathischen Sidekick ab, bekommt aber zumindest in der ersten Staffel nicht genug Spielraum, um mehr zu werden als der genreübliche Sam zu Marks Frodo (bis hin zu einer Handlungsvolte gegen Staffelende, die ziemlich schamlos aus „Die Rückkehr des Königs“ abgekupfert wirkt). Und andere jugendliche Figuren – Flora Li Thiemann als Sara und ihr Freund Ben (Yuri Völsch) – bremsen mit ihren formelhaft gezeichneten Teen-Problemen die eigentliche Handlung eher aus, als dass sie für zusätzliche Spannung sorgen.
Auch Gehörnte haben Herz
Was in kommenden Staffeln noch spannend werden könnte, in der Auftaktstaffel aber etwas halbherzig angegangen wird, sind Veränderungen, die eine der wichtigsten Nebenfiguren aus dem Roman betreffen: Yezariael ist im Buch ein kleiner, eher possierlicher als unheimlicher Gehörnter, dem Mark aus einem Impuls heraus das Leben rettet und der danach die Seiten wechselt und den Jungen unterstützt. In der Serie tritt diese Figur nun dagegen als imposanter Anführer eines Gehörnten-Trupps auf, der Jagd auf Mark macht, und bekommt eine tragisch getönte Freundschafts- beziehungsweise Liebesbeziehung zu einem Artgenossen angedichtet. Die Zeit, die die Macher dafür verwenden, die Figur aufzubauen und die Gehörnten, ihre Lebensweise und ihr Sozialgefüge näher zu beleuchten, ist dann aber doch zu knapp, um einen wirklich starken Eindruck zu hinterlassen. Da bleibt noch einiges an Luft nach oben.
Und der Greif? Sieht, wenn er sich gegen Ende der Staffel denn endlich manifestiert, auf enttäuschende Weise aus wie ein Bastard-Kind von deutschem Bundesadler und „Game of Thrones“-Drachen und wird dramaturgisch dafür in Dienst genommen, um in der Konfrontation mit Mark die Moral von der Geschicht’ ins Spiel zu bringen: Gekämpft werden muss hier nicht wirklich gegen ein monströses Anderes, sondern gegen die dunklen Emotionen, den Hass und die Grausamkeit, im eigenen Herzen. Bleibt zu hoffen, das die Serie genug Zeit bekommt, um diese Botschaft in folgenden Staffeln noch etwas runder zu vermitteln, als das bisher der Fall ist.