Dokumentarfilm | Deutschland/Österreich 2022 | 95 Minuten

Regie: Melanie Liebheit

Nach Beendigung ihrer Lehre packt die österreichische Jugendkochweltmeisterin Agnes Karrasch 2018 ihre Koffer und bricht zu einer mehrjährigen Wanderschaft durch die internationale Spitzengastronomie auf, die sie nach Bergisch Gladbach, Barcelona und auf die Färöer-Inseln führt. Die Langzeit-Studie beobachtet sie bei ihren vielfältigen Erfahrungen auf der Suche nach einer nachhaltigen und experimentierfreudigen Küche. Neben dem Porträt der talentierten Jungköchin und dem Alltag in den jeweiligen Restaurants geht es stets auch um die Frage, wie sich die Ansprüche, Gewohnheiten und die berüchtigten Umgangsweisen der Sternegastronomie mit persönlichen Lebensvorstellungen verbinden lassen. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
SHE CHEF
Produktionsland
Deutschland/Österreich
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Horse&Fruits Filmprod./ORF - Österreichischer Rundfunk
Regie
Melanie Liebheit · Gereon Wetzel
Buch
Melanie Liebheit · Gereon Wetzel
Kamera
Gereon Wetzel
Musik
Wolf-Maximilian Liebich
Schnitt
Roland Stöttinger
Länge
95 Minuten
Kinostart
18.05.2023
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Heimkino

Die Edition enthält eine Audiodeskription für Sehbehinderte.

Verleih DVD
Camino (16:9, 1.85:1, DD5.1 dt.)
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Doku über die Lehrjahre einer jungen Köchin, die von 2018 an um die Welt reist und in drei Sterne-Restaurants Erfahrungen sammelt.

Diskussion

Um die junge österreichische Köchin Agnes Karrasch muss man sich nicht sorgen. Als Linkshänderin bleibt ihr zwar der Zugang zu High-End-Messern japanischer Fertigung verwehrt, aber europäische High-End-Messer sind ja auch nicht ohne und liegen „wie angegossen“ in der Hand. Trotzdem ist immer Platz für Pflaster und Mullbinden, wenn Karrasch ihre Koffer packt, was in dem Dokumentarfilm „She Chef“ von Melanie Liebheit und Gereon Wetzel häufiger als geplant passiert.

Für Kost & Logis

Agnes Karrasch ist die Protagonistin der Langzeit-Beobachtung und zu Beginn des Films zugleich Weltmeisterin und Rookie. 2018 gewann Karrasch die „Expogast“-Koch-Jugendweltmeisterschaft im Team Österreich, ein formidabler Abschluss ihrer Lehrzeit im Wiener Restaurant „Steirereck“. Da sie in der Sphäre der Sterneküche weitermachen und möglichst unterschiedliche Küchen kennenlernen will, beginnt die Kochweltmeisterin mit 25 Jahren ihre Wanderjahre auf der Ebene der Praktikantin, die offenbar auf der Basis von Kost und Logis arbeitet.

Der Film begleitet sie auf drei Stationen. Zunächst ist es das Restaurant Vendôme in Bergisch Gladbach, wo auf höchstem Niveau französisch und vegetarisch gekocht wird. Dann folgt das Restaurant Disfrutar in Barcelona, in dem mit Oriol Castro, Mateu Casanas und Eduard Xatruch eine Variante der Molekularküche fröhliche Urständ feiert. Und schließlich ist sie im Koks auf den Färöer-Inseln, einem abgelegenen 2-Sterne-Restaurant, wo der Chef Poul Andrias Ziska mit einer Kombination aus Tradition und Neuer Nordischer Küche zu glänzen versteht. Wenn man denn auf Wildkräuter, rohen Fisch, Muscheln, Walfischspeck, Wurst aus Innereien, Sturmvogel und fermentiertes Lammmagenfett steht.

Vom Kopf auf die Füße gestellt

Vor etwas mehr als einem Jahrzehnt reüssierte Gereon Wenzel mit seinem Film „El Bulli – Cooking in Progress“, der in die seinerzeit noch sehr avantgardistische Molekularküche einführte und den visionären Starkoch Ferran Adriá in seinem Kochlabor porträtierte. Was spektakulär erschien und auch kontrovers diskutiert wurde, war retrospektiv eher ein Nachruf zu Lebzeiten. Wenig später war das „El Bulli“ Geschichte – und die Karawane der Avantgarde zog weiter – nach Kopenhagen, beispielsweise.

Mit „She Chef“ stellen die Filmemacher:innen die Hierarchie in der Küche nun vom Kopf auf die Füße. Denn nicht Chefs oder Starköche stehen im Mittelpunkt, sondern die Praktikantin, die mit ihren Talenten und Fertigkeiten überrascht. Karrasch fügt sich ein und besitzt eine erstaunliche emotionale Intelligenz. Sie ist aufmerksam, zugewandt und binnen kurzem Teil des jeweiligen Teams.

Zugleich geht es aber auch um die Reflexion über eine mögliche Existenz in der Sternegastronomie. Eine befriedigende Perspektive wäre ein eigenes Restaurant. Die Argumente, die gegen einen Alltag in der Sternegastronomie sprechen, sind hinlänglich bekannt. Die Hierarchien, die Arbeitsbedingungen, die Arbeitszeiten, die kaum mit einer Familiengründung vereinbar scheinen, die rüden Umgangsformen. Davon ist in „She Chef“ allerdings wenig zu sehen, der sich der Ästhetik des „direct cinema“ verpflichtet fühlt.

Die Hierarchien sind zwar alles andere als flach, und die Sprachprobleme in Barcelona dürften das Potenzial von Karraschs Praktikum eingeschränkt haben. Schließlich funkte auch noch die Corona-Pandemie dazwischen, die zur Schließung der Restaurants weltweit führte. Geplante andere Stationen fielen der Pandemie zum Opfer, bis schließlich ein Restaurant auf einer Insel gefunden wurde, die von Covid-19 bislang ausgespart worden war: das Restaurant Koks auf den Färöern.

Hoffnung für kommende Zeiten

Hier nun, so will es der der Pandemie geschuldete Zufall, findet Agnes Karrasch einen Arbeitszusammenhang, der ihrem Ideal recht nahe zu kommen scheint: ein junges Team mit einer flachen Hierarchie, Umgangsformen, die den überschaubaren Räumlichkeiten mit offener Küche geschuldet sind, eine nachhaltige, aber gleichwohl experimentierfreudige Küche und eine tragfähige Work/Life-Balance. Karrasch, die im Verlauf des Films ganz andere Pläne hatte, beschließt dann, für längere Zeit auf den Färöern zu bleiben.

Man kann dabei fast den Eindruck gewinnen, dass der „Elefant im Raum“, die schwierigen Arbeitsverhältnisse in der Sterne-Gastronomie, ein Mythos überholter Zeiten sind und dass ein Generationswechsel die Verhältnisse schon zum Besseren gewendet hat. Tatsächlich aber artikuliert Agnes Karrasch in den Pressematerialien des Films genau diese Hoffnung für kommende Zeiten. Vielleicht will „She Chef“ einfach ein zweites Mal geschaut werden, mit Aufmerksamkeit für Zwischentöne. Ein bebildertes Thesenpapier zu problematischen Männlichkeitsauswüchsen in der Sterne-Gastronomie war wohl nie intendiert. Das wäre mit Agnes Karrasch als „Opfer“ wohl auch nicht zu haben gewesen.

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