Tin & Tina
Horror | Spanien/Rumänien/USA 2023 | 119 Minuten
Regie: Rubin Stein
Filmdaten
- Originaltitel
- TIN & TINA
- Produktionsland
- Spanien/Rumänien/USA
- Produktionsjahr
- 2023
- Regie
- Rubin Stein
- Buch
- Rubin Stein
- Kamera
- Alejandro Espadero
- Musik
- Jocelyn Pook
- Schnitt
- Nacho Ruiz Capillas
- Darsteller
- Milena Smit (Lola) · Jaime Lorente (Adolfo) · Carlos González Morollón (Tin) · Anastasia Russo (Tina) · Teresa Rabal (Schwester Asunción)
- Länge
- 119 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Horror
Spanischer Horrorfilm um ein Ehepaar, das nach einer traumatischen Fehlgeburt zwei sonderbare Kinder adoptiert, deren tiefe Frömmigkeit erschreckende Formen annimmt.
Der Schäferhund schlägt scharf an, als Lola und Adolfo ihren Hof mit den frisch adoptierten Geschwistern Tin und Tina betreten. Die engelsgleichen Kinder mit den weißen Haaren zucken ängstlich zusammen, der schmächtige Bruder sucht Schutz hinter seiner Schwester. Doch der Hund lässt nicht nach. Nur die stramme Leine hält ihn davon ab, seine gefletschten Zähne in den Kindern zu versenken. Fast als wittere das Tier eine Bedrohung durch die Neuankömmlinge - und das Schicksal, das ihm wenige Wochen später blüht: Er wird ausgeweidet vor dem Ledersofa im Wohnzimmer liegen.
Spanien durchlebte am Abend des 23. Februar 1981 ein einschneidendes Erlebnis, dass die Bevölkerung in Atem hielt. Der missglückte Putschversuch durch rebellische Franquisten und Teile des spanischen Militärs, bei dem das Parlament mitsamt der Abgeordneten für mehrere Stunden in Geiselhaft genommen wurde, gilt bis heute als wahre Geburtsstunde der spanischen Demokratie. Gebannt verfolgten Millionen Menschen die Übertragungen aus dem Parlamentssaal sowie die entschlossenen Ansagen des damals regierenden Königs Juan Carlos I. gegen die Putschisten über Funk und Fernsehen.
Schauerfiktion trifft auf politische Realität
Genau in dieser Nacht lässt Rubin Stein sein Langfilmdebüt „Tin & Tina“ beginnen. Das frisch verheiratete Ehepaar Lola (Milena Smit) und Adolfo (Jaime Lorente) hatte nur wenige Stunden zuvor am Traualtar mit einem Kuss seine Verbundenheit im Beisein Gottes besiegelt, doch noch auf der Kirchenschwelle holt sie ein harter Schicksalsschlag ein: Die Wehen der schwangeren Lola setzen unerwartet ein, im Krankenhaus kommt es zu Komplikationen. Der Verlust wiegt doppelt: Nicht nur hat die junge Frau die erwarteten Zwillinge verloren: auch ihr Körper ist dermaßen in Mitleidenschaft gezogen worden, dass der Traum von der eigenen Familie zerstört scheint. Während das Paar sich schluchzend in den Armen liegt, verfolgt das Krankenhauspersonal den Putschangriff auf die spanische Demokratie auf einem kleinen Fernseher im Flur. Ein Sinnbild für das, was danach dem Ehepaar widerfahren soll, denn für ihren weiteren Lebensweg werden Lola und Adolfo kein Wahlrecht haben.
In den nachfolgenden zwei Stunden widmet sich Stein einer Vielzahl thematischer Verflechtungen, die dem spanischen Horrordrama mehr Substanz verleihen sollen. So steht die Mutterfigur im Zentrum der Geschichte: apathisch und lebensfern siecht sie nach ihrem Verlust in der viel zu großen Familienvilla dahin, während ihr Mann am angemessenen Umgang mit seiner seelisch gebrochenen Frau verzweifelt. Als er vorschlägt, Kinder aus einem Klosterheim zu adoptieren, scheinen die Beweggründe der beiden Liebenden durch: Während es Lola darum geht, einen fehlenden Teil ihres Lebens durch ein Kind zu vervollständigen, will Adolfo lediglich dem gesellschaftlichen Konformismus entsprechen, zu dem neben einer kirchlich getrauten Ehe und gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen eben auch ein Stammhalter gehört. Allerdings versäumt es der Regisseur, mehr auf diese partnerschaftliche Diskrepanz einzugehen, und arbeitet sich lediglich an zuschauerorientierten Oberflächlichkeiten ab: Während Lola etwa weiterhin mit sich und den fremden Kindern in ihrem Haus hadert, gibt sich Adolfo ganz als verantwortungsscheuer Spaßmacher, der alles fernab des abendlichen Spiels oder gemeinsamen Fernsehschauens der Verantwortung der Mutter überlässt.
Ein theologisches Streitthema
Beinahe kitschig wirkt die engelsgleiche Erscheinung der beiden Kinder mit ihrer fahlen Haut, weißem Haar und wehenden Nachthemden. Anstelle von Farbe und Lebendigkeit bringen sie eine buchstäblich entsättigte Art von purer Unschuld mit in ihr neues Zuhause, der die Eltern blind verfallen. Doch das klösterliche Leben im Heim hat tiefe Spuren hinterlassen, und schon bald nach den ersten mit Kulleraugen erzwungenen Tischgebeten der ansonsten nicht gläubigen Eltern deutet sich eine Katastrophe altbiblischen Ausmaßes an.
„Tin & Tina“ greift auf das urtheologische Streitthema der Theodizee zurück, das Ringen damit, wie sich die vermeintliche Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes mit dem Leid und dem Bösen in der Welt, etwa dem Tod des eigenen Kindes, vereinbaren lässt. Wie kann ein allmächtiges und gutes Wesen, dem die Menschen so sehr am Herzen liegen, einfach zulassen, dass ihnen Leid geschieht? Rubin Stein nähert sich dieser aufwühlenden Streitfrage jedoch ohne Tiefgang, sondern nutzt sie zusammen mit einer immensen Anhäufung religiöser Symbolik lediglich zur Zuschauerprovokation. Das erfüllt zwar seinen Zweck und bedient das filmische Bild vom katholisch geprägten Spanien, wirkt jedoch spätestens mit der Rezitation altbiblischer Motive wie Blitzen als Zorn Gottes zu dick aufgetragen. Die Kinder interpretieren die Bibelverse, die sie täglich im Singsang aufsagen, wortwörtlich und sehen sie als Anleitung Gottes für eine bessere Welt. So kommt es zu einigen „Unfällen“ im Haus, wobei die Eltern schier ohnmächtig und sogar desinteressiert gegenüber ihren orientierungssuchenden Adoptivzöglingen auftreten und dem Erwartbaren freien Lauf lassen.
Clevere Kinematografie sorgt für Unbehagen
Die weitere Verwebung mit dem politischen Zeitgeschehen Spaniens Anfang der 1980er-Jahre offenbart jedoch einen spannenden metaphorischen Gegensatz, denn während die Menschen in Spanien im Parlament für ihre demokratische Freiheit und Selbstbestimmung kämpfen, müssen sich Lola und Adolfo zunehmend einer unsichtbaren, absolutistischen Macht beugen, der mit menschlicher Logik nicht beizukommen ist. Erzwungen und plump wirkt hingegen Lolas wachsende Emanzipation von ihrem konservativen Mann, dem sie zunehmend durch Trotz und Misstrauen zu entgleiten droht. Trotzdem schafft es „Tin & Tina“ durch seine clevere Kinematografie, das Unbehagen der Szenerie auf den Zuschauer zu übertragen. Nie scheint ganz klar, ob Lola gerade wirklich ihre Kinder bei einer Untat beobachtet oder ob sie es sich im Rausch von Beruhigungsmitteln und Selbstzweifeln nur eingebildet hat. Auch die beiden Kinderdarsteller schaffen es, ihren naiven Unschuldsminen einen Hauch von Ambivalenz zu verpassen, und so bleibt es letztlich dem Zuschauer überlassen, zu entscheiden: Sind wirklich die Kinder die Bösen, oder doch die anderen?