Dokumentarfilm | Deutschland 2021 | 94 Minuten

Regie: Simon Marian Hoffmann

Im Jahr 2017 gründeten Schüler aus Stuttgart die Initiative „Bildungsgang“, um ihre Unzufriedenheit mit dem deutschen Bildungssystem zum Ausdruck zu bringen. Unter dem Slogan „Bildung neu denken“ erarbeiteten sie Ideen für eine Schule der Zukunft und brachten ihren Frust auch auf Demonstrationen und bei öffentlichen Performances zum Ausdruck. Der Dokumentarfilm begleitet die Aktionen der Gruppe und lässt einzelne von ihren Schulerfahrungen berichten. In der Kombination aus teils sehr kreativen Aktionen der Gruppe, einer äußerst beweglichen Kamera und einer rasanten Montage entwirft der Film erfrischende Thesen darüber, was Bildung eigentlich sein könnte oder sollte. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Camgaroo Productions/Kemperly Film Produktion
Regie
Simon Marian Hoffmann
Buch
Simon Marian Hoffmann
Kamera
Simon Schneider · Ruben Götz · Michael Hessenbruch · Valentin Schneider · Luis Klink
Musik
Actio Grenzgänger · Moritz Gaudlitz
Schnitt
Johannes Krug
Länge
94 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Dokumentarfilm über eine kreative Schülerinitiative aus Stuttgart, die sich seit 2017 mit erfrischenden Ideen zur Bildungsmisere zu Wort meldet.

Diskussion

Im deutschen Schulsystem liegt einiges im Argen. Jährlich verlassen 70 000 Schüler und Schülerinnen die Einrichtungen ohne jeden Abschluss; gleichzeitig fehlen derzeit 40 000 Lehrer. Wer mit schlechten Ausgangsvoraussetzungen eingeschult wird, hat kaum eine Chance auf einen erfolgreichen Abschluss. Dabei mangelt es nicht an Experten, die immer wieder die Misere aufzeigen und Korrekturen anmahnen. Schüler kommen dabei allerdings so gut wie nie zu Wort. Schon deshalb ist der Dokumentarfilm „Bildungsgang“ ungewöhnlich.

Hier haben ausschließlich Schulpflichtige, die gerade ihr Abitur gemacht haben, das Sagen. 2017 gründeten fünfzig Jugendliche die Initiative „Bildungsgang“. In Seminaren, öffentlichen Performances und auf Demos gaben sie ihren frustrierenden Erfahrungen während der Schulzeit Ausdruck. Einer der Aktivisten war der damals 20-jährige Simon Marian Hoffmann. Der hatte bereits mehrere Filme und Videoclips gedreht und begleitete die Aktionen mit der Kamera.

Für das Individuelle ist wenig Raum

Mehrere Akteure geben im Verlauf des Films immer wieder ihre persönlichen Erinnerungen zu Protokoll. Darin ist viel davon die Rede, dass ihre Interessen und unterschiedlichen Persönlichkeiten im Unterricht keine Rolle gespielt hätten. Alles sei auf Stromlinienförmigkeit ausgerichtet gewesen und die Schule hätte nichts mit dem Leben zu tun gehabt; außerdem würde ein Zeugnis absolut nichts über individuelle Fähigkeiten aussagen. „Ich hab’ es einfach nicht mehr ausgehalten“, resümiert eine junge Frau, die die Schule abgebrochen hat, „es fühlte sich alles falsch an.“

Den Aktivisten ist dabei durchaus klar, dass das Schulsystem ihrer Träume eine andere Gesellschaft nach sich ziehen oder voraussetzen müsste. Doch jenseits ihrer Maximalforderungen gehen sie das Ganze durchaus pragmatisch an und schlagen statt des Abiturzeugnisses einen Bildungsbrief ohne Noten vor, in dem die individuellen Fähigkeiten berücksichtigt werden sollten.

Manche der Forderungen und Visionen in „Bildungsgang“ kann man durchaus als naiv betrachten, zumal der Film über weite Strecken so tut, als hätte es in den vergangenen Jahrhunderten von Jean-Jacques Rousseau über die Reformpädagogik bis hin zur Neuzeit nicht immer wieder Bestrebungen gegeben, Schulsysteme zum Wohle des einzelnen Kindes reformieren. Gleichzeitig aber ist es sympathisch, dass sich die Jugendlichen nicht um die Historie kümmern, sondern mit großem Engagement von ihren aktuellen Erfahrungen ausgehen.

Die vielfältigsten Talente

Der Film ist dabei weit mehr als ein konventionell bebilderter Protestbericht im Reportage-Stil, was vor allem seiner Ästhetik zu tun hat. Schon die öffentlichen Performances der Gruppe zeugen von einem hohen Maß an Kreativität, wenn etwas das Bildungssystem in einem Sarg aus Plastikfolie zu Grabe getragen wird oder sich Beteiligte auf dem Stuttgarter Schlossplatz in Käfigen präsentieren. Dazu kommen Szenen in einer Mischung aus Tanz und Schauspiel, die wahrhaft bedrückend wirken. Es ist aber auch die überaus bewegliche Kamera, die diese Aktionen mit vielen Nahaufnahmen einfängt und in Verbindung mit einer rasanten Montage und Slow-Motion-Effekten wie eine Kunstperformance aussehen lässt. Und da unter den Aktivisten anscheinend die vielfältigsten Talente vorhanden sind, wurde auch die Musik zum Film überwiegend selbst gemacht. Außerdem gibt es zu einem Song einen Videoclip (mit Drohneneinsatz) obendrein.

Zwischendurch machen die Beteiligten aber immer wieder deutlich, dass es ihnen bei ihren Protesten nicht um Kunst, sondern um Bildung geht. Zur Großdemonstration müssen dann eben auch konventionelle Aufkleber und bunte Luftballons verteilt werden, und wenn die Lokalsender über die Aktion berichten, fehlen kurze Sequenzen so wenig wie das schriftliche Statement der zuständigen Ministerin, die die Vorwürfe gegen das Bildungssystem als völlig absurd abtut.

„Bildungsgang“ ist ein teilweise mitreißender Film über die deutsche Schulmisere, der längst nicht alle Aspekte berücksichtigt, in seinen utopischen Visionen aber etwas sehr Erfrischendes hat.

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