Beruf Stuntwoman

Dokumentarfilm | Schweiz 2022 | 59 (Kinofassung: 85) Minuten

Regie: Elena Avdija

Ein Dokumentarfilm porträtiert drei Stuntfrauen, von denen zwei seit Jahren etabliert sind, während sich die Dritte gerade erst in der Ausbildung befindet. Die drei erzählen von ihrem Job, lassen sich bei Dreharbeiten begleiten und geben Einblicke in ihr Privatleben, wobei der Film nicht nur die Persönlichkeiten der Stuntfrauen herausarbeitet, sondern auch die rollenbedingten Besonderheiten und Herausforderungen, mit denen sich Stuntfrauen buchstäblich herumschlagen müssen. So wird er dramaturgisch ausgeklügelt zur Auseinandersetzung mit dem Filmgeschäft, die für die Tendenz zu einseitigen weiblichen Rollenzuschreibungen sensibilisiert. (O.m.d.U.) - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
CASCADEUSES
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Bande à Part Films/Alter Ego Prod./Arte France/RTS/SRG SSR/Bip TV
Regie
Elena Avdija
Buch
Elena Avdija
Kamera
Augustin Losserand
Musik
Marzella
Schnitt
Julie Lena · Myriam Rachmuth
Länge
59 (Kinofassung: 85) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Ein Dokumentarfilm über drei Stuntfrauen, die von ihrem Beruf erzählen und tiefe Einblicke in die weiblichen Rollenzuschreibungen in Filmen gewähren.

Diskussion

„Beruf Stuntwoman“ von Elena Avdija ist ein faszinierender Einblick in die Welt der Stuntfrauen, ein eigener Mikrokosmos, in dem es nicht nur um gefährliche Stunts geht, sondern auch um Rückenplatten, diskret angebrachte Schienbeinschoner, perfekt sitzende Perücken, gutes Make-up und schauspielerische Fähigkeiten. Die Schweizer Dokumentarfilmerin Elena Avdija zeigt auf beeindruckende Weise, wie hart und gefährlich dieser Beruf sein kann, aber auch, wie idealistisch und leidenschaftlich er ausgeübt wird. Doch vor allem thematisiert die spannende Dokumentation im Verlauf immer stärker den Hintergrund dieser eher ungewöhnlichen Frauenarbeit.

Der Film fungiert hier als Spiegel einer Mediengesellschaft, in der Frauen – häufiger als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren und deutlich häufiger als ihre männlichen Kollegen – die Opferrolle übernehmen müssen. Stuntfrauen werden geschlagen, gestoßen, getreten, an den Haaren durch die Straße gezerrt, vor Autos geschmissen, misshandelt und die Treppe hinuntergeworfen. Die Stuntfrauen machen alles mit, nicht nur, weil es ihr Job ist, den sie sich selbst ausgesucht haben, sondern auch, weil sie in einem System arbeiten, das ihnen keine Wahl lässt. Petra, Virginie und Estelle werden auf diese Weise zu exemplarischen Vertreterinnen einer Arbeit, die sie zwar lieben, die sie aber auch ständig an ihre Grenzen führt.

Der Hollywoodstar unter den Stuntfrauen

Die gebürtige Schweizerin Petra Sprecher ist sozusagen der Hollywoodstar der drei Protagonistinnen: Als Tochter einer Schweizerin und eines Nigerianers nennt sie sich selbst eine „moderne Heidi“. Sie lebt in Hollywood und hat in vielen großen Produktionen mitgewirkt, von „Minority Report“ bis „Pirates of the Caribbean“. Ursprünglich war sie Artistin und Akrobatin, vom Cirque de Soleil aus machte sie erst Karriere in Europa und wurde bald darauf zur gefragten Stuntfrau, nicht nur für schwarze Darstellerinnen. Sie flog durch die Luft mit Tom Cruise und stürzte für Mariah Carey von einem Treppengeländer. Inzwischen nimmt sie Schauspielunterricht, denn nach einer Hüft-OP träumt sie von einer neuen Karriere als Charakterdarstellerin. Trotzdem fällt sie weiterhin ab und an durch Glasscheiben und von Motorhauben. Ihre Einstellung zum Stunt ist von leiser Ironie und sympathischem Sarkasmus geprägt – eine echt taffe Frau. Sie beklagt sich nicht, aber sie erwähnt leichthin, dass die Stars, mit denen sie schon oft gezwungenermaßen auf engstem Raum zusammen war, nicht immer freundlich zu den Stuntleuten sind. Doch am meisten nervt sie, dass sie im Gegensatz zu ihren Glanzzeiten immer häufiger in der Opferrolle zu sehen ist. Früher durfte sie öfter mal fliegen, kämpfen und fechten – inzwischen wird sie meistens gestoßen, getreten, geschlagen und misshandelt. Aber die Hauptsache dabei ist, dass sie nicht auf der operierten Hüfte landet.

Ganz anders die Französin Virginie: Ebenso wie Petra ist sie schon viele Jahre im Geschäft. Als eine von wenigen Kolleginnen hat sie ein Kind, eine mittlerweile erwachsene Tochter, die sich für ihre Arbeit interessiert. Die meisten Stuntfrauen sind kinderlos – Mutterschaft ist keine gute Idee, wenn man im Geschäft bleiben möchte. Mittlerweile hat Virginie sich als Stunt-Koordinatorin positioniert, die erste Frau, die sich im französischen Filmbusiness mit diesem Job durchsetzen konnte. Selten tritt sie selbst noch einmal an, um den Jüngeren zu zeigen, wo der Hammer hängt. Sie trainiert ebenso wie ihre junge Kollegin Estelle im „Campus Univers Cascades“, einer Schule speziell für Stuntleute – auf Französisch heißen Stuntleute Cascadeure. Für Estelle ist das der Traumberuf, allerdings kämpft sie mit einem Trauma, das es ihr schwermacht, sich verprügeln oder misshandeln zu lassen.

Tiefer Einblick in Motivation und Erfahrungen

In Interviews mit den Stuntfrauen und ihren Kolleginnen und Kollegen werden jedoch nicht nur ihre jeweiligen Biografien vorgestellt, sondern die teils intimen Statements geben einen tiefen Einblick in ihre Motivation und ihre Erfahrungen. Die Ergebnisse ihrer Arbeit sind ebenso zu sehen wie ihre Auseinandersetzung damit. Es ist zudem beeindruckend zu sehen, wie sich die Frauen Tag und Nacht fit halten, um immer wieder neue Herausforderungen zu bewältigen, bei denen sie zumindest ihre Gesundheit, wenn nicht gar ihr Leben riskieren: Alles für die Kunst, alles für den Film, alles für den perfekten Take.

Dabei fängt die hervorragende Kameraarbeit von Augustin Losserand nicht nur die atemberaubenden Stunts der drei Protagonistinnen in all ihrer Schönheit und Gefahr ein. Der Film zeigt auch die harte Arbeit hinter den Kulissen, die notwendig ist, um eine Stuntszene perfekt zu machen. Ein besonderer Höhepunkt dabei ist ein Kampftraining auf High Heels, das sowohl in seiner Lockerheit als auch in seiner Professionalität besticht.

Der eigentliche Clou aber ist die ausgefuchste Dramaturgie. Elena Avdija startet schwungvoll und zeigt zunächst anhand von Virginies Einsatz die spannenden Herausforderungen und die verblüffenden Ergebnisse ihrer Arbeit. Sie leitet über zu Petra Sprecher und ihrer Story, und so ganz nebenbei wird immer klarer, welche Rolle Frauen oft im Film spielen: Sie sind Opfer. Das wird zusätzlich unterstützt von kurzen Clips aus zahlreichen Filmen, die als Blitzlichter in die Handlung eingeflochten sind. Estelle wird schließlich zum Symbol einer neuen Generation von Frauen beim Film, die sich aktiv mit ihrer Rolle und ihren Traumata auseinandersetzen.

Gewaltdarstellung als Anklage wie Appell

Allerdings bleibt dabei leider unerwähnt, dass die Darstellung von Gewalt gegenüber Frauen ebenso Anklage wie Appell sein könnte und nicht nur das Abbild einer frauenfeindlichen Gesellschaft. Vermutlich geht ein Großteil der Gewaltdarstellungen gegenüber Frauen zurück auf mehr oder weniger gut gemeinte Filmideen, in denen die Rolle der Frau kritisch betrachtet wird, wobei Absicht und Wirkung ähnlich zweifelhaft ausgelegt werden können wie beim Antikriegsfilm, der allzu oft dann doch ein Kriegsfilm ist. Der schmale Grat zwischen gut gemeint und gut gemacht kann dabei Welten trennen.

Insgesamt entwickelt sich „Beruf Stuntwoman“ auch in der vom Fernsehsender arte gezeigten 60-minütigen Kurzfassung (in der Kinofassung ist der Film 85 Minuten lang) von einer schwungvollen, zu Beginn leicht heroisierenden Berufsbeschreibung zu einer melancholisch angehauchten, das Publikum sensibilisierenden Auseinandersetzung mit dem Filmgeschäft. Schon allein dieser diskrete, aber eindeutig wahrnehmbare Stimmungswechsel macht den Film bis zu seinem liebenswert poetischen Schluss nicht nur interessant, sondern sehenswert.

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