Einzeltäter Teil 1: München

Dokumentarfilm | Deutschland 2023 | 85 Minuten

Regie: Julian Vogel

Dokumentarfilm über den Anschlag eines jungen Mannes auf das Münchner Olympia-Einkaufszentrum 2016, bei dem er neun Jugendliche ermordete. Der Film gehört zu einem dreiteiligen Projekt, das rassistische Anschläge in Deutschland beleuchtet und die These vom verwirrten Einzeltäter jeweils als Verharmlosung rechtsradikaler Netzwerke entlarvt. Dabei gibt er vor allem den Angehörigen eine Stimme, zeigt ihre verzweifelten Versuche, ihr Leben zu bewältigen, und begleitet sie bei ihrem jahrelangen Kampf um Anerkennung der wahren Umstände des Anschlags. Ein filmisch hervorragend erzählter, hochrelevanter Umgang mit Zeitgeschichte. Die anderen Teile beleuchten die Anschläge von Halle und Hanau. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
CORSO Film- und Fernsehproduktion/ZDF - Das kleine Fernsehspiel
Regie
Julian Vogel
Buch
Julian Vogel
Kamera
Julian Vogel · Luise Schröder
Musik
Milan Loewy
Schnitt
Gregor Bartsch
Länge
85 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Dokumentarfilm über den rassistischen Anschlag in München 2016 mit neun Todesopfern und über den Kampf der trauernden Angehörigen gegen die offiziell verbreitete Version vom Amoklauf eines verwirrten Einzeltäters.

Diskussion

Nächtliche Straßen bei einer Autofahrt, Reflexionen von Scheinwerfern im Dunkeln. Eine Männerstimme sagt: „Genau hier war das.“ Der Wagen steht vor einem Polizeirevier. Dort wurde ihm und anderen, die ihre Angehörigen vermissten, die Liste mit den Todesopfern des Anschlags vorgelesen. Es geht um seine Schwester Armela. Sie war 14 Jahre alt. Er fährt ihren Schulweg ab, erzählt, wie sie von unten der Mutter zugewinkt hat, die oben aus dem Fenster schaute und auf sie wartete, und er erzählt von der letzten Begegnung mit ihr, von der Umarmung am Fahrstuhl. „Sie ist in den Aufzug gestiegen und nicht wiedergekommen“, sagt er.

Der junge Mann, der das erzählt, ist Arbnor. Er habe es sich nicht ausgesucht, auf diese Art erwachsen zu werden, wird er am Schluss sagen. Seit Armelas Tod versucht er vor allem, seinen Eltern zu helfen, dabei hat er den Verlust bis heute selbst nicht verkraftet. Wie ihm geht es auch den anderen Angehörigen der Opfer des Anschlags auf das Münchener Olympia-Einkaufszentrum 2016. Hasan und Sibel haben ihren Sohn Can verloren, er war ebenfalls erst 14 Jahre alt. Hasan hat einen guten Job in einer Fabrik, und er hat einfach immer weitergearbeitet. Vielleicht konnte er das, weil seine Kollegen ihn stets unterstützt und begleitet haben. Er erzählt auch davon, wie er die Nachricht vom Tod seines Sohnes erhielt. Ein kurzer Satz: „Tut mir leid, er ist tot.“ Er weint und mit ihm seine Frau. Hasans Frau Sibel ist eine Kämpferin. Sie wollte nicht akzeptieren, dass die Tat ein Amoklauf sein sollte und damit ein Einzelfall. „Es kann wieder passieren“, sagt sie. Denn der Mord in München an neun Menschen mit Migrationshintergrund war von langer Hand geplant, und der rassistische Täter war in rechtsextremen Netzwerken aktiv.

Ein Stigma, mit dem sie nicht weiterleben konnten

Doch es bedurfte noch weiterer Schreckenstaten, bis die bayerische Regierung einlenkte. Erst nach den Anschlägen von Halle 2019 und Hanau 2020 wurde auch die Tat von München als rechtes Terrorverbrechen anerkannt. Die Angehörigen der Opfer mussten sogar damit drohen, die Fotos der Opfer von dem Denkmal zu entfernen, das die Stadt München für sie errichtet hatte, weil noch jahrelang darauf von einem Amoklauf die Rede war. Für die Angehörigen ein Stigma, mit dem sie so nicht weiterleben konnten und wollten. Schlimm genug, dass sie mit ihrer Trauer allein waren, aber dass so getan wurde, als ob ihre Kinder zufällig sterben mussten, in einer Art Unfall, das konnten und wollten sie nicht akzeptieren.

Von all dem erzählt Julian Vogel im ersten Teil seiner „Einzeltäter“-Trilogie in Form einer manchmal collagehaften, aber prinzipiell chronologischen Dokumentation, in der er relativ wenige Archivaufnahmen verwendet. Als Fixpunkte zur zeitlichen Einordnung dienen die jährlichen Trauerfeiern am Denkmal vor dem Einkaufszentrum, wo die Tat geschah. Doch sein Film ist dabei weniger emotional als erfüllt von einer leisen Melancholie, auch durch die ausdrucksstarken Zwischenbilder vom Münchener Alltag, die Julian Vogel zur Überleitung verwendet. Sie zeigen, wie das Leben, ganz schlicht und einfach gesagt, immer weitergeht, weitergehen muss. Meistens lässt Vogel die Angehörigen sprechen und kombiniert dabei Alltagsbilder, Off-Kommentare und Interviewsituationen. Arbnor kommt am häufigsten zu Wort und wird damit zum Anker in einer Geschichte, die von Trauer erzählt, aber auch von Empörung, und die kein gutes Licht auf den Umgang von Behörden mit Bürgerinnen und Bürgern wirft. Vor allem dann, wenn sie nicht in Deutschland geboren wurden. Da wird dann wohl auch mal etwas schlampig ermittelt, und die erste Idee – diese Tat muss ein Amokläufer begangen haben – wird erst zum Statement und dann zum Manifest.

Das Vertrauen in den Staat erschüttert

Arbnor erzählt auch davon, wie in Folge des Verbrechens sein eigenes Vertrauen in den Staat erschüttert wurde. Er ist nicht der Einzige. Da ist es eine große Hilfe für die Angehörigen, dass sie von einem Rechtsanwaltsbüro unterstützt werden, das im Namen der Hinterbliebenen Schriftsatz um Schriftsatz verfasst, alle sehr freundlich, höflich und zugewandt, in denen es immer wieder um dasselbe Thema geht: die Anerkennung der Tat als rechtsterroristischer Anschlag. Den Amoklauf bezeichnen sie als „verniedlichendes Narrativ“, denn er gilt als spontan und unpolitisch, mit zufällig gewählten Opfern. Doch all das gilt nicht für den Mörder von München.

Mehr als fünf Jahre dauerte es, bis die Tat endlich als Anschlag von rechts anerkannt wurde. Doch die Ermittlungsfehler, die am Anfang gemacht wurden, sind noch immer gegenwärtig. Auch davon erzählt Julian Vogel, sehr ruhig, beinahe abgeklärt, ohne dass ein einziger schriller Ton in seinen Film gerät. Er beschuldigt niemanden, obwohl es naheliegt, mindestens der Stadt München vorzuwerfen, dass es Defizite im Erkennen rechter Strukturen gibt und dass der Umgang der Ermittlungsbehörden mit Menschen, die einen Migrationshintergrund haben, von Vorurteilen geprägt ist. Arbnor, Hasan, Sibel und die anderen kennen das schon. Es ist für sie Alltag, aber sie bleiben stets höflich, auch wenn sie weinen müssen.

Der Film schafft Verbindungen

Julian Vogel zeigt immer wieder die Bilder der Angehörigen in ihrer Trauer; bei den Gedenkfeiern und im privaten Kreis. Es ist herzzerreißend mitanzusehen, wie sie sich gegenseitig zu trösten versuchen, wie sie miteinander und doch jeder für sich noch immer versuchen, mit ihrem Leben zurechtzukommen. Und er schafft Verbindungen: nicht nur zu den Anschlägen von Halle und Hanau, sondern auch zu rechten Netzwerken, wo der Mörder von München bis heute gefeiert wird. Vogels Film wird auf diese Weise zur Mahnung und zum Appell: nicht wegzuschauen und aktiv zu werden, wenn es um migrationsfeindliche Tendenzen geht.

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