John le Carré: Der Taubentunnel

Dokumentarfilm | USA 2023 | 92 Minuten

Regie: Errol Morris

Ein dokumentarisches Porträt des britisches Spions David Cornwell, der in den 1960er-Jahren als Schriftsteller John le Carré weltberühmt wurde und mit seinen Romanen rund um die Agentenfigur George Smiley zu einem der prägendsten Autoren des Spionage-Genres wurde. Entlang der gleichnamigen Autobiografie le Carrés und der zentralen Metaphern, zu denen das Œuvre des Autors wieder und wieder zurückkehrt, beleuchtet der Dokumentarfilm facettenreich Werk und Leben und die faszinierenden Überschneidungen, die beide im Fall von John le Carré hervorgebracht haben. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
THE PIGEON TUNNEL
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
The Ink Factory/Fourth Floor Pic./127 Wall/AppleHero Squared/Jago Films
Regie
Errol Morris
Buch
Errol Morris
Kamera
Igor Martinovic
Musik
Philip Glass · Paul Leonard-Morgan
Schnitt
Steven Hathaway
Länge
92 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm | Dokumentarisches Porträt
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Ein dokumentarisches Porträt des britisches Spions David Cornwell, der in den 1960ern als Schriftsteller John Le Carré weltberühmt wurde und mit seinen Romanen rund um die Agentenfigur George Smiley zu einem der prägendsten Autoren des Spionage-Genres wurde.

Diskussion

Was die Türhüterparabel für das Werk Franz Kafkas ist, ist der Taubentunnel für das von John le Carré, den neben Ian Fleming wohl prägendsten Autor des Spionage-Genres. Nahezu alle Romane des britischen Schriftstellers (1931-2020) wurden unter dem Arbeitstitel „The Pigeon Tunnel“ verfasst. Der Taubentunnel ist die zentrale Existenzphilosophie und Metapher, nach der auch le Carrés Autobiografie und Errol Morris’ dazugehöriger Dokumentarfilm benannt sind. Was sie von der Kafkas unterscheidet, ist, dass sie einem Kindheitserlebnis entstammt. Der Taubentunnel existiert tatsächlich. Vom Dach eines Kasinos in Monte Carlo führt er bis an die Felsklippen, auf denen die Mitglieder des örtlichen Sportclubs auf das Meer blicken. Vom englischen Zierrasen des Clubs aus warten sie, die Schrotflinten im Anschlag, auf die Vögel, die der Freiheit entgegenfliegen. Die Tauben, die nicht Opfer der Oberklasse-Freizeitsportler werden, fliegen zurück in ihre Heimat: auf das Dach des Kasinos, wo erneut die Fallen auf sie warten, aus denen sie wieder in den Tunnel entlassen werden.

John le Carrés Vater selbst war einer der Männer, die vom englischen Rasen aus die Tauben unter Beschuss nahmen. Ronnie Cornwell war Unternehmer, Waffenhändler und Betrüger. Überall auf der Welt hatte er Affären, trieb Geschäfte, besaß Grundstücke, kaufte Häuser und Pferde. Im Haus der Familie gab es keinen Reichtum. Hier versteckte Ronnie sich vor den Schuldnern und vor dem Gesetz. Hier betrog und belog er Frau und Kinder. Das Leben des kindlichen und auch das des jungen Erwachsenen David Cornwell (der erst als John le Carré weltberühmt werden sollte), steht im Schatten des Charismas, der Eitelkeit und der Betrügereien des Vaters. Als Spion im Dienst des MI5 und MI6 führt der spätere Erfolgsautor dann selbst ein von Betrug, Täuschung und den dazugehörigen Eitelkeiten geprägtes Leben, das er als John le Carré ab den 1960ern zu einem singulären literarischen Werk machte.

Nicht auf der Suche nach einfachen Wahrheiten

„John le Carré: Der Taubentunnel“ untersucht den Betrug als autobiografisches, performatives, in erster Linie aber als das literarische Konzept, das le Carrés Romane ebenso prägt wie die existentialistische Leere hinter dem Taubentunnel. Le Carré ist gewissermaßen der perfekte Partner für Morris’ Interviewstil. Denn der amerikanische Dokumentarfilm-Gigant ist nie auf der Suche nach einfachen Wahrheiten, befeuert seine Gäste nicht mit Gegenstimmen. Er tritt nicht an, die abenteuerlichen Rationalisierungen eines Donald Rumsfeld („The Unknown Known“ (2013)) zu widerlegen oder das reaktionäre, rassistische und menschenfeindliche Weltbild eines Steve Bannon („American Dharma“ (2018)) geradezurücken. In diesem Sinne porträtiert Morris nicht die großen und schrecklichen Männer seiner Zeit – er gestaltet ihre Selbstporträts. Er lässt reden, räumt Platz ein, in dem sich Abgründe auftun können, oder eben, wie ein weiterer Teil seines erstaunlichen Œuvres belegt, die Menschlichkeit einen Raum finden kann.

Nicht allein um das Gesagte, sondern auch um den dazugehörigen Blick, den dazugehörigen Sprachgestus ist das Bildrepertoire des Films konstruiert. Morris inszeniert den Autor in aufwändigen Winkeln und Beleuchtungen, stellt sein Leben in Reenactments nach, findet die dazugehörigen historischen Bilder im Archiv, überlässt die entscheidenden Momente aber den Worten und dem Blick des Autoren, der über das Interrotron direkten Augenkontakt mit ihm und dem Publikum aufnimmt.

Selbstreflexionen

Nicht nur seiner scharfen Sprache, seines Humors und seiner Verhörerfahrung wegen ist le Carré ein so passendes Pendant zu Morris. Es ist die ihm eigene, als Form der Überlebensnotwendigkeit, aber auch als Stilmittel erprobte Selbstreflexion, die ihn, im Zusammenspiel mit seiner Eloquenz und seinen Performance-Fähigkeiten, zum selbstoffenbarenden Enigma machen.

Entlang der Selbstreflexion taucht „Der Taubentunnel“ ein in das Leben des Autors und das literarische Werk, das sich darin spiegelt. Der eigentliche Film balanciert dabei exakt entlang der Schnittstelle von le Carrés „Performance“ und der dazugehörigen Stilisierung Morris’.

Der Film dreht sich dabei weniger um spannende Anekdoten aus dem Kalten Krieg (obschon ein Leben wie das des Autors kaum ohne diese auskommt), als um das gemeinsame Rätseln über das Erlebte und das, was es für das daraus Geschaffene bedeuten oder gar für das Menschsein an sich bedeuten könnte. Was bedeutet die eigene Biografie für das Werk und das Werk für die eigene Biografie?

Dass Morris nicht angetreten ist, um sich die Antwort von le Carré vorkauen zu lassen, räumt der Film gleich mit Gesprächsbeginn ein. „Who are you?“ ist eben nicht die Frage, die der Filmemacher stellt, sondern die Frage, die der Autor ihm stellt. Was folgt, ist gewissermaßen eine Beschreibung des Faszinosums, das Betrug, Spionage und Eitelkeit umgibt, aber auch des Ethos, das sich der „Poet des Selbsthasses“, wie Morris ihn einmal nennt, daraus zusammenflickt.

In die innersten Räume des innersten Zirkels

Die Musik von Philip Glass zieht dazu und entlang der Sprachgewalt le Carrés lange Spannungsbögen mit den tiefen Streichern. Morris’ Bilder führen wieder und wieder buchstäblich in den Taubentunnel, in sich endlos gen Himmel schraubende Treppenstufen und andere Bildentsprechungen der großen Metaphern, mit denen der Autor die Welt zu greifen versucht. Grundiert wird das Opulente wieder und wieder von überdimensionierten Textzeilen, die der Film einschiebt, als habe er Angst, sein Publikum könne die Bedeutung des geschriebenen Wortes selbst vergessen.

Am Ende des Films sitzen sich die Männer nicht mehr in der imposanten Privatbibliothek, sondern im kargen Landhaus gegenüber. Ein Raum, der eben deswegen leer sein muss, weil er das repräsentiert, was le Carrés Werk einkreist. Morris geht sukzessive im Gleichschritt mit dem großen Nachkriegsautor. Er folgt ihm bereitwillig in die innersten Räume des innersten Zirkels. Doch der Kern, der die Welt im Innersten zusammenhält, ist hohl. Wer ihn sucht, findet nur das, was le Carré den kargen Raum des Selbst nennt. Ein Raum, der es wert ist, entdeckt zu werden.

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