Medicine for Melancholy

Drama | USA 2008 | 88 Minuten

Regie: Barry Jenkins

Ein Mann und eine Frau landen nach einer Party gemeinsam im Bett; am nächsten Morgen will die Frau den One-Night-Stand zunächst auf sich beruhen lassen, doch dann verbringen sie und der Mann doch noch einen Tag und eine weitere Nacht miteinander und lernen sich näher kennen, während sie sich durch San Francisco treiben lassen. Der Regie-Erstling von Barry Jenkins, stilistisch eigenwillig in stark entsättigten Farben, liefert eine fein beobachtete, nüchtern-lakonische „Boy meets Girl“-Story und verbindet diese elegant mit politischen Themen wie der Gentrifizierung der kalifornischen Metropole und Reflexionen der Figuren zu ihrer Identität als Afroamerikaner. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
MEDICINE FOR MELANCHOLY
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Strike Anywhere/Bandry
Regie
Barry Jenkins
Buch
Barry Jenkins
Kamera
James Laxton
Schnitt
Nat Sanders
Darsteller
Wyatt Cenac (Micah) · Tracey Heggins (Jo') · John Thurgood (Loft Typ) · Brent Weinbach (Kellner) · Victor Mikshansky (Cabby)
Länge
88 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Liebesfilm

Ein ungewöhnlicher Liebesfilm: Nach einem One-Night-Stand verbringen ein Mann und eine Frau in San Francisco noch einen Tag und eine weitere Nacht miteinander. Beim gegenseitigen Kennenlernen geht es auch um ihre Identität als Afroamerikaner.

Diskussion

Er sei skeptisch gegenüber nächtlichen Eingebungen, erklärte Alfred Hitchcock einmal seinem Regiekollegen François Truffaut. Euphorisch notiere man sich nachts eine Drehbuchidee, um morgens einen banalen Gedanken auf dem Notizzettel zu lesen: „Mann liebt Frau“. Was heißt hier Liebe? Nennen wir es „Beziehungsanbahnung“. Wie immer kommt es auf eine inspirierte Erzählung an, um aus dem grundsätzlich banalen Thema eine starke Geschichte zu machen. In Barry Jenkins’ Regieerstling „Medicine for Melancholy“ von 2008 hat das afroamerikanische Zufallspaar, das den Film trägt, eine Nacht miteinander verbracht. Anders als in Hitchcocks Kino, in dem ein Filmkuss fast einem Heiratsversprechen gleichkommt, ist ein One-Night-Stand nach der Jahrtausendwende kaum der Rede wert. Morgens in einem fremden Bett erwacht, in einer Wohnung, in der sie bei einer Party versackt sind, begrüßen sich die beiden wie zwei höchstens flüchtig Bekannte. Während der frisch getrennte Micah die Frau, die sich einsilbig als Angela vorstellt, wohl gerne näher kennenlernen würde, will Joanne – wie sie wirklich heißt – die Sache schnell vergessen. Dumm nur, dass sie ihr Portemonnaie mitsamt Führerschein im geteilten Taxi vergisst. Schließlich sitzt Micah auf dem Sofa in der Wohnung, die Joannes reichem weißen Lover gehört (der im Film nur als Telefonstimme auftaucht) und nutzt die Chance, die Spröde besser kennenzulernen und Joanne doch noch immerhin einen Tag und eine Nacht an sich zu binden.

Die Kluft zwischen Worten und Handlungen

Barry Jenkins, der mit „Moonlight“, dem „Oscar“-Sieger von 2017, seinen Durchbruch erlebte und danach mit „Beale Street Blues“ (2018) und vor allem der Serie „The Underground Railroad“ (2021, nach Colson Whiteheads Roman um Sklaverei) zwei bemerkenswerte Reflexionen schwarzer (Leidens-)Geschichte in den USA drehte, stellt sich bereits im Low-Budget-Film „Medicine for Melancholy“ als Meister der Zwischentöne vor. Anders als Joanne ist Micah, gespielt vom Stand-Up-Comedian Wyatt Cenac, durchsichtiger in der Motivation, aber Jenkins legt ihm keine passenden Sätze in den Mund, sondern vertraut ganz auf die nonverbalen Ausdrucksmöglichkeiten seines Darstellers. Joannes (Tracey Heggins) Ambivalenz zwischen der Flucht ins Gewohnte und dem Sich-treiben-lassen mit der Zufallsbekanntschaft skizziert Jenkins (von dem auch das Drehbuch stammt) mit köstlichen Details, angefangen mit dem Portemonnaie, das die Protagonistin in bester Taschentuch-Tradition im Taxi „vergisst“.

Kurz darauf lässt die Protagonistin den Eindringling zuhause einfach im Wohnzimmer sitzen, während sie selbst eine Dusche nimmt, ohne den dreisten Micah hinauskomplimentiert zu haben. Eine ähnliche Diskrepanz zwischen Worten und Verhalten findet man bei der Frauenfigur in Claire Denis’ Liebesfilm „Vendredi soir“ (2002), die Jenkins als eine wichtige Inspirationsquelle für seinen Erstling genannt hat.

Identitätspolitik

„Medicine“ spielt in San Francisco. Dass man das nicht gleich merkt, liegt neben dem Verzicht auf wiedererkennbare Sehenswürdigkeiten – keine Golden Gate Bridge – auch an der extremen Entsättigung, die Kameramann James Laxton dem Material zuteilwerden lässt. Fast könnte man das Ganze für einen Schwarz-weiß-Film halten, wenn nicht das Blassrosa von Kleidungsstücken, die ursprünglich wohl knallrot waren, verraten würde, dass die Farbe hier nachträglich herausgezogen wurde. Hier und da tritt eine Spur von kalifornischem Himmelblau hinzu. Im Ergebnis unterstreicht der ungewöhnliche visuelle Stil des Films die Lakonik und Nüchternheit der Begegnung. Die Monochromatik hat aber auch einen politischen Hintergrund, wie sich spätestens dann herausstellt, wenn Micah eine Diskussion um die zunehmende Gentrifizierung San Franciscos anzettelt. Jenkins erlaubt sich sogar, unvermittelt eine Dokumentarsequenz einzufügen, in der eine Aktivistengruppe über horrende Immobilienpreise und unerschwingliche Mieten diskutiert.

Hinzu tritt das Thema Identitätspolitik: Joanne wirft Micah vor, dass er sich von den rassistischen Klischees der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft beeinflussen lässt, anstatt einfach seine Individualität zu leben. Micah fühlt sich durch Joannes angebliche Indifferenz gegenüber dem Thema „Race“ irritiert. Und ihre Beziehung zu einem weißen Kunstkurator stört ihn auch – wobei Jenkins es dem Publikum überlässt, dies als schlichte Eifersucht gegenüber einem Nebenbuhler abzutun oder die identitäre Ebene ernst zu nehmen.

Lovestory mit Kontext

Es herrscht jedenfalls ein gehöriges Maß an Reibungsenergie zwischen den Figuren. Sie kommen nicht voneinander los, müssen sich zugleich – und sei es für einen Tag und eine Nacht – arrangieren. Ein Besuch des Kunstmuseums SFMOMA wird kurzfristig abgeblasen und stattdessen, auf Micahs Wunsch hin, das Museum of the African Diaspora (MoAD) besichtigt. Joanne, die das Museum nicht kannte, sieht sich an einer der Hörstationen mit der historischen Erzählung eines aus Afrika deportierten Mannes konfrontiert, der von den Schrecken der Sklaverei berichtet. Kann man über die eigenen Wurzeln hinwegsehen, einfach quasi grundlos dahinleben? Wie nebenbei wirft Barry Jenkins diese Frage auf, ohne dass sich der Eindruck aufdrängt, seine Liebesgeschichte wäre mit Politik überfrachtet. Mann liebt Frau? Frau liebt Mann? Dahinter steckt mehr. Das Rätsel, welches das probate Mittel gegen Melancholie wäre, bleibt übrigens ungelöst.

Kommentar verfassen

Kommentieren