Drama | Deutschland/Ukraine 2024 | Minuten

Regie: Arkadii Nepytaliuk

Eine Therapeutin nimmt zu Beginn des Ukraine-Kriegs im Frühjahr 2022 Menschen, die in Not geraten sind, in ihrem Auto mit. Die Geschichten der zehnteiligen ukrainischen Fernsehserie basieren auf wahren Schicksalen, sind jedoch in die Backstory der (fiktionalen) Heldin integriert, die episodenübergreifend erzählt wird. Die Serie mag zuweilen zu versöhnlich wirken, doch hebt sie sich von den Kriegsbildern aus Medien und Dokumentarfilmen ab und konzentriert sich auf persönliche Geschichten. Sie schildert sowohl eine Gesellschaft im Ausnahmezustand als auch altbekannte Probleme wie Korruption oder Profitgier. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Ukraine
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Beta Film
Regie
Arkadii Nepytaliuk · Eugen Tunik
Buch
Eugen Tunik
Kamera
Volodymyr Ivanov
Musik
Mykhailo Gaydai · Hanna Istomina
Schnitt
Volodymyr Zapryagalov · Hanna Istomina
Darsteller
Anastasia Karpenko (Lydia) · Chrystyna Fedorak (Olga) · Igor Koltovskyy (Dmytro) · Kateryna Hryhorenko (Dasha) · Nadiya Levchenko (Natalya)
Länge
Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Kriegsfilm | Serie
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Eine ukrainische Drama-Serie über eine Therapeutin, die in den ersten Kriegswochen nach dem russischen Überfall Menschen durch die Ukraine fährt, deren gesamte Infrastruktur gerade zusammenbricht, und das Leid der Mitfahrenden hautnah kennenlernt.

Diskussion

Die meisten Filme der letzten zwei Jahre, die von der jetzigen Ukraine handeln, sind dokumentarische Werke, die Leid und Zerstörung thematisieren. In ihnen sind tatsächliche Gebäude und Landschaften versehrt und haben echte Menschen Schreckliches erlebt. Zu erfassen ist dies für ein Publikum, das keinen Krieg kennt, nur bedingt, und auch die Dauer des Krieges veranlasst viele Beobachter außerhalb der Ukraine, das Elend zwischen Lwiw und Donezk zu verdrängen. Womöglich um diesen Gefühlen etwas entgegenzusetzen, haben sich nun Filmemacher aus der Ukraine mit europäischen Produzenten zusammengetan und eine fiktionale Drama-Serie gedreht, die vom Krieg in der Ukraine erzählt, aber mit einer Hauptheldin und anderen wiederkehrenden Figuren so etwas wie Identifikation schaffen kann. Unter schwierigsten Bedingungen in Kyjiw und Umgebung gefilmt und auf realen Erfahrungen von Ukrainerinnen und Ukrainern basierend, handelt „In Her Car“ sehr konkret von Menschen, deren bisher normales Leben durch den Krieg auf den Kopf gestellt wird.

Von nun an geht es um Leben und Tod

Im Zentrum der zehnteiligen Serie – jede Folge ist etwa 30 Minuten lang – steht die Therapeutin Lydia, die Anastasia Karpenko charismatisch verkörpert. Sie will mit dem Auto eigentlich nur nach Charkiw fahren, um sich von ihrem Mann Dmytro (Igor Koltovsky) scheiden zu lassen. Die stets ernst wirkende Frau mit dem forschenden Blick und den zum Pferdeschwanz gebundenen dunklen Haaren hat auf Instagram über 30.000 Follower. Auf der Plattform gibt sie den Menschen in Kurzvideos Tipps und hofft, Fremden damit das Leben zu erleichtern. Doch ihre eigenen Familienverhältnisse sind nicht gerade geordnet. Der von ihr getrennte Mann lebt mit seiner Geliebten zusammen, die gemeinsame Tochter studiert Regie in Berlin.

Die erste Folge stellt Lydia und ihre Bereitschaft, anderen zu helfen, vor. Es wird aufgerollt, wie sie im Laufe der Serie dazu kommen wird, völlig Unbekannte innerhalb der Ukraine von A nach B zu chauffieren. Auf dem Weg nach Charkiw nimmt sie spontan die junge Olga mit, die offensichtlich knapp bei Kasse ist und die sie in Poltawa absetzen kann. Olga hat sich mit ihrer Schwester überworfen und streitet sich mit ihr um das Erbe ihres kürzlich verstorbenen Vaters. Beide Schwestern sind Konkurrenten um die Gunst eines Mannes, Kolja, und beide beschuldigen die jeweils andere, ihn ihr ausgespannt zu haben. Als Lydia an einer Tankstelle Benzin tanken will, schlägt wenige Kilometer weiter eine Bombe ein. Es ist der 24. Februar 2022: Russland hat die Ukraine überfallen; der Krieg hat begonnen. Von nun an geht es um Leben und Tod. Familiärer Zwist erscheint nur noch nebensächlich, nun geht es darum herauszufinden, ob Olgas Schwester noch lebt. Lydia kann sich nur zu gut in Olga hineinversetzen, denn sie selbst hat ihre Schwester verloren, die 2014 in Luhansk bei einem Angriff von Separatisten beim Krieg im Donbas ums Leben kam.

Einzelschicksale werden geschickt in die Gesamtstory verwoben

Die erste Folge offenbart bereits das Prinzip der Serie: Eine Frauenstimme erzählt zu Anfang ein ukrainisches Märchen. Es stammt von einer CD, die Lydias Schwester, eine Schauspielerin, aufgenommen hatte und die Lydia in ihrem Wagen aufbewahrt. Die Moral des Märchens hat einen Bezug zur Story der jeweiligen Folge. Die ersten Szenen wiederum bebildern den dramatischen Höhepunkt der Handlung, die daraufhin als Rückblende erzählt wird. Wenn die wechselnden Protagonist:innen Lydia ihre Geschichte erzählen, wird ein Teil davon ebenfalls mit einer Rückblende illustriert.

Wurden Lydia und Olga in der ersten Folge von der russischen Invasion überrascht, verinnerlichen im Laufe der Serie die wechselnden Figuren den Krieg immer mehr. Einige wollen selbst fliehen, andere ihre Lieben in Sicherheit bringen. Zwar sind die Passagiere scheinbar willkürlich ausgewählt, doch es stellt sich heraus, dass sie eine Verbindung zu Lydias durchgehender persönlicher Geschichte haben. Die Therapeutin empfindet eine irrationale, aber tiefe Schuld: Sie wirft sich vor, ihre Schwester nicht gerettet zu haben, obwohl das nicht in ihrer Macht lag. Stattdessen kristallisiert sich immer mehr heraus, dass ihr Ehemann Dmytro etwas mit der Angelegenheit zu tun hat. Er spielt ein undurchsichtiges Spiel – sowohl mit seiner (Noch-)Frau als auch mit seiner Geliebten Inga.

Diese Verwicklungen mögen zunächst überkonstruiert wirken, doch sie sind geschickt in die Gesamtstory eingebunden. Dass Lydia Menschen transportiert, die direkt oder indirekt etwas mit ihrer Schwester zu tun hatten, ist gar nicht so weit hergeholt, da ihr Passagiere auch vermittelt werden und ihr Bekanntenkreis groß ist.

Missstände in der ukrainischen Gesellschaft

Einmal kutschiert sie Inga zur polnischen Grenze, weil Dmytro sonst nicht der Scheidung zustimmen würde. Dann wiederum befördert sie ein französisches Ehepaar, dessen Sohn mit einer Ukrainerin liiert ist und für das Rote Kreuz arbeitet. Im Laufe der Episoden lösen sich häufig die Konflikte der wechselnden Figuren und lernen alle etwas dazu – wie die Märchenfiguren, von denen am Anfang der Folge die Rede ist. Mitunter wirkt das zu versöhnlich, doch so offenbaren sich auch Seiten an den Figuren, die Lydia (und damit auch die Zuschauer) ihnen zunächst nicht zugetraut hätten. Dennoch wird die durchgehende Story Lydias durch Wendungen in jeder Folge weiterentwickelt und verdichtet.

Über die eigentliche(n) Geschichte(n) hinaus weist die Serie auf Missstände in der ukrainischen Gesellschaft vor dem Krieg hin, etwa die allgegenwärtige Korruption oder das Streben nach Bereicherung. Zudem zeigen die Macher auf, wie sich die Pfeiler der Zivilgesellschaft schrittweise auflösen. Selbst wenn Lydia ihren Mann juristisch belangen wollte, kann sie es nicht, denn die Gerichte arbeiten nicht mehr. Der Krieg zerstört alles, was früher für die Menschen in der Ukraine selbstverständlich war.

Außer der allgegenwärtigen Angst um die eigene Existenz oder das Leben von Familienangehörigen schildert „In Her Car“ auch ein Klima des zunehmenden Misstrauens. Patrouillierende Soldaten suchen Saboteure, prorussische Sympathisanten. Es wird klar, dass diese Verdächtigungen bereits seit dem Donbas-Konflikt in der Ukraine existierten, dass die russische Invasion nur die furchtbare Eskalation eines bereits existierenden, bis dahin territorial begrenzten Krieges im Osten ist.

Das Klima wird rauer

Das Klima im Land wird generell rauer. Junge Männer, die sich von ihrem Wohnort entfernen, werden schnell als Deserteure angesehen. Zwar zeigt die Serie auch Verwüstung und Zerstörung, vor allem konzentriert sie sich aber auf persönliche Schicksale und die Autofahrten Lydias, die dabei ihre psychologischen Erkundungen weiterbetreiben kann. Denn sie ist nicht die Einzige, die sich quer durch das Land begibt. Vor der polnischen Grenze stauen sich kilometerweit die Autos von Flüchtenden, einige Straßen sind nicht mehr befahrbar und jede Bewegung von einem Flecken des Landes zum nächsten potenziell gefährlich.

Dennoch freut man sich immer wieder, in den Folgen auch intakte Wohnviertel in Städten zu erblicken. Zwar entspricht dies der ukrainischen Städtelandschaft vom Anfang der Kämpfe, doch die Dreharbeiten fanden ja bereits zu einem fortgeschritteneren Stadium des Krieges statt. Informationen über Zerstörung und Leid vermitteln oft nur Nachrichten in Radio oder Fernsehen. So kann man die Serie relativ gut ertragen und hebt sie sich von den Gräueln authentischer Bilder ab. Auch hinter der Kamera wurde die Solidarität großgeschrieben. Mehrere europäische öffentlich-rechtliche Sender – darunter zdf_neo, FTV (Frankreich), SRF (Schweiz) und SVT (Schweden) – schlossen sich zu dem Projekt zusammen und halfen so, ukrainische Filmschaffende vor Ort zu unterstützen. Als Showrunner und Ko-Regisseur fungiert Eugen Tunick, während der perfekte Look der Bilder dem Kameramann Volodymyr Ivanov zu verdanken ist. So ist es den außergewöhnlichen Produktionsumständen und den daraus entstandenen Storys zu verdanken, dass die Serie sowohl ein einheimisches als auch ein internationales Publikum ansprechen wird. Die Fiktionalisierung kann – trotz einiger Schwächen – dabei helfen, Zuschauer außerhalb der Ukraine für die menschliche Komponente des Krieges zu sensibilisieren. Die koordinierte Veröffentlichung der Serie in mehreren Ländern am 21. Februar 2024 soll einen gemeinsamen europäischen Akzent zum zweiten Jahrestag der russischen Invasion in der Ukraine setzen.

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