Dokumentarfilm | Deutschland 2024 | 178 Minuten

Regie: Romuald Karmakar

In langen, statischen Einstellungen vermisst der Dokumentarfilm so materiell-konkret wie abstrakt den Tierpark des Zoos in Zürich als Betrieb und Lebensraum. Und als eine Welt, in der Menschen Arrangeure und Zuschauer zugleich sind. Im Unterschied zu andere Zoofilmen sieht die Inszenierung dabei von allem Persönlichen ab, sowohl bei den Menschen wie bei den Tieren, und beschränkt sich aufs reine Beobachten. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Pantera Film
Regie
Romuald Karmakar
Kamera
Frank Griebe · Ian Oggenfuss · Romuald Karmakar
Musik
Roman Flügel
Schnitt
Romuald Karmakar · Karin Nowarra
Länge
178 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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IMDb

Dokumentarfilm über den Zoo Zürich als künstlichem Lebensraum und Naturbetrieb zwischen Ethik und Logistik.

Diskussion

Was wäre ein Zoo ohne Tiere? Das einzig Richtige, würden radikale Tierschützer sagen. So, als gäbe es noch irgendwo „die freie Wildbahn“, wo all diese Geschöpfe hingehören und ungestört leben können. Dass fast jeder Flecken Erde vom Menschen bestimmt ist, zeigen ein paar Zahlen. Der Masse nach, schreibt der Paläontologe Thomas Halliday in seinem Buch „Urwelten“, stellen Menschen heute 36 Prozent aller Säugetiere dieses Planeten. Weitere 60 Prozent sind domestizierte Tiere wie Rinder, Schafe, Schweine, Hunde, Pferde. Nur noch vier Prozent der gesamten Säugetier-Masse sind Wildtiere, und ein winzig kleiner Teil davon lebt in Zoos. Haben diese Tiere also Pech? Oder Glück?

Es dauert einige Minuten, bis in dem Dokumentarfilm „Der unsichtbare Zoo“ von Romuald Karmakar überhaupt Tiere zu sehen sind. Zunächst ist da ein Regenwald. Rauschen, Regen, Farne, Palmen, Zwitschern. Das Bild steht lange still und sensibilisiert den Blick für kleinste Lichtveränderungen. Ein Schau-Moment wie bei James Benning mit seinen Seen und Himmeln. Karmakar erklärt nichts, er zeigt vielmehr. Und lässt horchen. Es ist die hallende Akustik, die auf ein künstlich geschaffenes Biotop verweist. Schnitt: Futterabteilung. Kaltes Licht, mechanische Betriebsamkeit. Wieder fällt etwas, diesmal Körner, aus Rohren und Schütten in Behälter. Auf Obstkisten steht „Gorilla“. Noch immer ist kein Tier zu sehen, nur Maschinen und Beschriftungen wie „Körnermischung“ und „Elefanten-Würfel“. Ein Mensch fragt: „Waren das 3,5 Tonnen?“ Mengen, Massen, Materialien.

Der Mensch bestimmt alles

Wenn das Kino kritisch über den Zoo nachdenkt, über dessen Blick-Regime und inszenatorische Aufwände, dann denkt es immer auch über sich selbst nach. Schließlich wurzeln beide, Kino und Zoo, im 19. Jahrhundert, als das Angaffen des Exotischen zur Volksbelustigung wurde. Das ungenierte Belustigen ist inzwischen in die Zoosendungen des Fernsehens abgewandert, wo Tiere zu Pausenclowns umgedeutet und Mitarbeitende zu kumpeligen Agenten angeblicher menschlicher Absichten und Gefühle wurden: Na, Panda, schlecht gelaunt heute?

Karmakar wurde 1995 mit dem Spielfilm „Der Totmacher“ berühmt und hat mit dem experimentellen „Himmler-Projekt“ (2000) die NS-Ideologie dokumentarisch-fiktional seziert. Schon immer ging der Filmemacher in aller Klarheit und Furchtlosigkeit dorthin, wo es wehtut, ohne dabei Erwartungen an Emotionalität zu bedienen. Nach seinem Spielfilm „Die Nacht singt ihre Lieder“, dessen unausweichliche Kälte Teile der Filmkritik in eine glühende Hasswelle trieb, ist Karmakar mit „Der unsichtbare Zoo“ jetzt wieder auf der „Berlinale“ vertreten, in der Nebenreihe Forum, wohin der zuletzt vor allem in Ausstellungen präsente Künstler bestens passt. Finden sich hier doch noch am verlässlichsten Grenzüberschreitungen des Überkommenen und die gelebte Auffassung von Film als audiovisueller Kunst statt illustriertem, psychologisch grundsolidem Storytelling.

„Der unsichtbare Zoo“ vermisst so materiell-konkret wie abstrakt von Tableau zu Tableau den Tierpark als Betrieb und Lebensraum, als eine Welt, in der der Mensch Arrangeur und Zuschauer zugleich ist; bemüht, möglichst nicht selbst Teil des Bildes zu sein, das er geschaffen hat und das er rezipiert. Wir wissen ja und täuschen uns zugleich gerne darüber hinweg, dass der Mensch hier alles bestimmt: die Höhe der Bäume, die Grenzen der Bewegungsfreiheit, manchmal auch den Zeitpunkt des Todes.

Bilder voller Widersprüche & Schönheit

Über mehrere Jahre hat Karmakar den Zoo in Zürich mit der Kamera besucht. Die Züricher Institution, die 1929 eröffnet wurde, hat sich in den letzten Jahrzehnten vom Ausstellen möglichst vieler, möglichst exotischer Arten immer weiter entfernt und darauf verlegt, ganze Ökosysteme zu zeigen, mit nur wenigen Arten darin, die möglichst artgerecht leben sollen. Damit die Tiere auch mental fit bleiben, verstecken Mitarbeitende das Futter in den Gehegen. Dann zieht sich der Mensch zurück, bringt sich routiniert in Sicherheit. Bär oder Löwe kommen angetrottet und sind gut beschäftigt, bevor sie sich auf den Rücken rollen und ein Nickerchen machen.

Karmakar findet Bilder voller Widersprüche und unerwarteter Schönheit. Im Schnee kommt etwas Langhalsiges von links ins Bild und richtet große, bewegliche Ohren auf die Schneefahrzeuge, die am rechten Bildrand den Weg freiräumen. Anders als in den Zoosendungen des Fernsehens werden hier keine Absichten unterstellt; als Zuschauerin macht man es aber trotzdem. Wundern sich die Gazellen? Fühlte sich der Zebrahengst einsam, als er so langwimprig in die Morgenluft schnupperte, oder vermutet man das nur im Nachhinein, wenn man erfährt, dass er der Letzte seiner Herde ist?

Kein Kommentar gibt letzte Gewissheit, Sachinformationen vermitteln nur die Besprechungsszenen der Teams. Einmal geht es dabei um Salmonellen, die nur dann zum Problem würden, wenn Publikumskontakt bestünde; dem Tier selbst schaden sie nicht. Eine Behandlung birgt jedoch das Risiko einer Resistenz. Nähe und Abwehr sind genau abzuwägen. Und wie impft man einen Gecko?

„Der unsichtbare Zoo“ zeigt all das unparteiisch und meist in statischen Totalen, zwischen die Großaufnahmen von Tiergesichtern geschnitten sind. Oft bestimmt der Tierblick die Dauer der Einstellung. Eine Schneeeule mit geschlossenen Augen, ihr Gefieder exakt so weiß wie der Schnee ringsum. Als sie nach Minuten die Augen öffnet, erfolgt ein Schnitt, aber kein Gegenschuss. Was sieht sie? Andersherum beim Krokodil: Hinter Glas harrt es völlig unbewegt aus mit seinen offenen Echsenaugen. Man hört Kinderlieder, -grüße und -kommentare: Ob es echt ist? Hallo Krokodil! Alles scheint am Panzer abzuprallen. Dann schließt es die Lider. Schnitt.

Alles ist gleich gültig

Ein schlachtender Mensch steht vor einem ausgenommenen Kadaver und fragt die junge Kollegin, ob sie dieses oder jenes Organ erkenne. Die antwortet ungerührt: Niere. Die Menschen können ihre Zuneigung zu den Tieren aber nicht verbergen, wenn sie bei der Teambesprechung die Liste über Geburten und „Abgänge“ vortragen, oder wenn bei der Erwähnung eines bestimmten Jungtiers lächelnd erwähnt wird, dass dieses besonders niedlich aussehe.

Man hört Flugzeuge und sieht die monströse Schönheit eines Stahlgerüsts zum Bau eines riesigen Kunst-Baobab-Baums. Manches will nah ran, sehr nah: vom Schockmoment eines Amurtigers, der im Käfig brüllend mit seinen Pranken einen Ball umherschleudert, bis zum Tod eines Huftiers, das vor den Augen kleiner Kinder den Löwen zum Fraß vorgelegt wird. Dazu erklärt die Infotafel den „Kreislauf des Lebens“. Alles ist gleich gültig.

Der französische Dokumentarfilmer Nicolas Philibert hat mit „Nénette“ (2009) das Porträt eines 40 Jahre alten Orang-Utang-Weibchens gedreht. Auch wenn das rotbraune Fellwesen darin ständig im Bild ist, hört man auf der Tonspur vor allem die Kommentare der sie betrachtenden Menschen; im dicken Fensterglas spiegeln sich die Zoobesucher. Es sind Reflexionen im doppelten Sinn, denn im Grunde ist es ein Film über uns. Karmakar knüpft daran an – und geht weit darüber hinaus. Insbesondere lässt er alles „Persönliche“ – der Menschen, aber auch der Tiere – hinter sich. Doch das berührt mehr als alles andere.

Die Tiere schauen zurück

Auch wenn man sich mehr als zwei Stunden lang eingeschwungen hat in die vielen ethischen Zwischenräume, die sich beim Thema Zoo auftun, sind die Zweifel nicht unbedingt weniger geworden, ob sich Tiere im Zoo ganztags betrachten lassen müssen oder ob sie vielleicht genervt sind, traurig, leidend, ausgeliefert. Dann stehen die Dromedare plötzlich noch sinnloser herum und machen die Affen ihre Showeinlagen noch vergeblicher als zuvor.

Es ist die pandemiebedingte Zooschließung im März 2020, die Karmakar die eigentliche Pointe seines Films liefert. Am Ende von „Der unsichtbare Zoo“ zeigt er die menschenleeren Gänge, und er zeigt die Tiere, die in diese verlassenen Räume blicken. Das Tier, dem man vorher das leidvolle Ertragen nerviger Menschen unterstellte, schaut jetzt wirklich zurück, erst in der Totalen durchs Glas, dann, ganz nah an die Scheibe gedrückt, von der Leinwand herunter. Was ist ein Zoo ohne Menschen? Man sieht: eine Inszenierung, die ins Leere läuft. Ein Kino ohne Zuschauer. Wir sind doch längst wieder da, will man den Gorillas und Dromedaren zurufen, und das gehört definitiv nicht zu den Dingen, von denen man dachte, dass man sie jemals wollen würde. Das schafft nur die Manipulationsmaschine Kino.

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