Toxic
Drama | Litauen 2024 | 100 Minuten
Regie: Saulė Bliuvaitė
Filmdaten
- Originaltitel
- AKIPLEŠA
- Produktionsland
- Litauen
- Produktionsjahr
- 2024
- Produktionsfirma
- Akis Bado
- Regie
- Saulė Bliuvaitė
- Buch
- Saulė Bliuvaitė
- Kamera
- Vytautas Katkus
- Musik
- Gediminas Jakubka
- Schnitt
- Ignė Narbutaitė
- Darsteller
- Vesta Matulytė (Marija) · Ieva Rupeikaitė (Kristina) · Giedrius Savickas (Sarunas) · Vilma Raubaitė (Vilma) · Eglė Gabrėnaitė (Romas)
- Länge
- 100 Minuten
- Kinostart
- 24.04.2025
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Drama um zwei heranwachsende Mädchen aus Litauen, die von einer Karriere als Model träumen, um der tristen Provinz zu entkommen.
Der Vater von Kristina möchte mit seiner neuen Freundin alleine sein, doch das enge, hellhörige Haus erlaubt keine Intimität. Auf die Bitte, für eine Weile nach draußen zu gehen, reagiert das 13-jährige Mädchen schroff und abweisend. Also versucht der Vater, den Vorschlag mit ein wenig Geld attraktiver zu machen. Nach einem harten Verhandlungsgespräch, bei dem sich der Preis schließlich verdoppelt, gibt Kristina (Ieva Rupeikaite) nach.
Die litauische Regisseurin Saulè Bliuvaite zeichnet in ihrem Debütfilm ein Leben, das von Leere, Armut und damit auch unweigerlich von Geld geprägt ist. Soziale Beziehungen sind hier nicht nur eine natürliche Gegebenheit, sondern bieten auch die Möglichkeit, daraus Kapital zu schlagen. Als Kristina einmal mit einem Jungen knutscht, unterbricht sie kurz, um sich zu vergewissern, ob er für den Sex nicht auch bezahlen würde.
Auf dumme Ideen kommen
„Toxic“ spielt in einer provinziellen, trostlosen Industrielandschaft. Kleine, behelfsmäßig gebaute und schon ziemlich heruntergekommene Häuser reihen sich an staubigen Wegen lose aneinander. Die eigentlich beschauliche Natur, die sich darum erstreckt, wird von mächtigen Fabrikbauten dominiert. Es ist ein Ort ohne Perspektiven, an dem gelangweilte Jugendliche wie Kristina schnell auf dumme Ideen kommen. Ohne Anlass wird etwa ein Toilettenhäuschen umgeworfen, in dem sich gerade jemand befindet.
Der Film bringt zwei sehr unterschiedliche Protagonistinnen zusammen. Die konfrontative Kristina, die am liebsten mit den Freunden ihres Vaters Basketball spielt oder sich mit Gleichaltrigen betrinkt, stößt bald auf die stille Marija (Vesta Matulyte). Das großgewachsene Mädchen mit dem lahmen Fuß lebt zeitweise bei seiner Großmutter und wird von seinen Mitschülerinnen gemobbt. Auch mit Kristina gerät Marija aneinander, doch nach einer Schlägerei im Dreck sind die beiden plötzlich gute Freundinnen.
Bliuvaite versucht diese Beziehung nicht über Dialoge konkreter zu definieren, sondern nimmt sie in stimmungsvollen Bildern von körperlicher Nähe einfach so hin. Vielleicht verbindet die Mädchen eine Zweckgemeinschaft oder auch der Traum, die verhasste Heimat für ein besseres Leben hinter sich zu lassen. Eine Modelschule, die mit Aufträgen in Tokio und Paris lockt, wird für die beiden Freundinnen deshalb bald zum Sehnsuchtsort.
Ein Bandwurm für die Linie
Dort werden sie abgemessen und begutachtet und mit schmeichelnden Worten ermutigt. Um den hohen Ansprüchen gerecht zu werden, stecken sich die Mädchen nach dem Essen den Finger in den Hals oder bestellen sich aus dem Darknet eine Pille, die einen Bandwurm enthält. Dass den Versprechungen der Modelschule nicht unbedingt zu trauen ist, vermittelt „Toxic“ bereits durch die Inszenierung. Der Castingraum ist ein karger, mit kaltem Neonlicht bestrahlter Keller, in dem die leicht bekleideten Mädchen wie Fleischberge in einem Schlachthaus aufeinanderliegen.
Es ist keine herkömmliche Geschichte, die den Film zusammenhält, sondern der Traum von einem schöneren Leben. Oft werden Momentaufnahmen aneinandergereiht, die fragmentarisch und manchmal auch ein wenig rätselhaft bleiben. Neben sozialkritischen Ansätzen und einem manchmal etwas überambitionierten Stilwillen wird dabei aber nicht immer klar, worauf der Film eigentlich hinauswill. Was genau hier „toxisch“ ist, bleibt in der Schwebe.
Eine wichtige Rolle, um die Enge der eigenen Existenz zu vergessen, spielt der Rausch. Immer wieder greifen die Jugendlichen zu Alkohol und Drogen; auch „Toxic“ gleitet regelmäßig ins Delirium ab. Sein sozialrealistisches Setting fängt der Film mit schiefen oder verzerrten Kameraperspektiven ein und legt hypnotische elektronische Musik darüber. Ein wenig zu gierig stürzt sich der Film mitunter auf das Abgründige und Eklige; so geht die Kamera ganz nahe heran, wenn die Mädchen sich übergeben, oder zeigt, wie sich Kristina in einer schmutzigen Toilette die Zunge piercen lässt.
Flucht in ferne Traumwelten
Einprägsamer ist „Toxic“ dort, wo der Film weniger plakativ vorgeht, etwa wenn fast nebensächlich gezeigt wird, wie die Gefahr eingehegt wird, die von gleichaltrigen Jungs ausgeht. Einem Mädchen rät Kristina bei einer improvisierten Party im Wald, nur so zu tun, als würde es von der herumgereichten Schnapsflasche trinken, damit es sich bei möglichen Übergriffen noch wehren kann.
Dem Elend stellt „Toxic“ Träume nach einem schwerelosen und erhabenen Leben gegenüber. Wie Musikvideos werden Szenen inszeniert, in denen die Mädchen wie Models vor monumentalen Industriegebäuden stolzieren oder sich Kristinas Vater mit seiner Freundin in Zeitlupe zu einem anmutigen Tanz vereint. Im Gegensatz zu seinen Figuren, die sich in eine ferne Traumwelt flüchten, ästhetisiert der Film als ermächtigende Geste das Schäbige selbst.
Auch die Besonderheit von normabweichenden Körpern interessiert Bliuvaite mehr als eine idealisierte Schönheit. Neben Marija mit ihrem lahmen Bein gibt es auch einen Jungen mit Glasauge und eine riesenhafte Gleichaltrige. Der Film setzt sie cool und stylish in Szene, auch wenn die Bilder mitunter so rigoros durchkomponiert sind, dass die geometrischen Anordnungen die Figuren in den Hintergrund drängen. Doch auch wenn die Form in „Toxic“ bisweilen zu offensiv ist und die Narration zu lose, finden sich in dem überhöhten Realismus von Saulė Bliuvaitė doch immer wieder faszinierende Momente.