Neben der Zeit

- | Deutschland 1995 | 107 Minuten

Regie: Andreas Kleinert

Eine junge Frau in einem ostdeutschen Städtchen verliebt sich in einen desertierten russischen Soldaten. Als sie ihn mit nach Hause zu Mutter und Bruder nimmt, bröckeln die Illusionen und Lebenslügen der nur scheinbaren familiären Idylle. Eine eindrucksvoll gespielte, sinnbild- und nuancenreich inszenierte Tragödie, die sich zum dramatischen Modellfall menschlicher Defizite verdichtet. Wirklichkeitsflucht und die Angst vor Veränderung werden als Ursache von Lebenslügen entlarvt. - Sehenswert.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Ö-Film/Euskal Media/ORB/SR/WDR
Regie
Andreas Kleinert
Buch
Andreas Kleinert · Isabelle Wolff
Kamera
Sebastian Richter
Musik
Andreas Hoge
Schnitt
Ines Blum
Darsteller
Rosel Zech (Mutter) · Julia Jäger (Sophie) · Sylvester Groth (Georg) · Michail Poretschenkow (Sergej) · Christine Schorn (Frau Plessow)
Länge
107 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
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Diskussion
In der Abenddämmerung rast ein ICE an dem ostdeutschen Städtchen Nedlitz vorbei. Der Höchstgeschwindigkeitszug hat seine eigene Zeitrechnung, im Vergleich dazu ist das Leben in Nedlitz erstarrt, ja, fast zum erliegen gekommen. Dennoch gibt es hier Menschen, doch sie leben in einem seltsamen zeitlichen Vakuum irgendwie "neben der Zeit". Ganz zu Anfang, als sich die ersten Filmbilder noch in kakophonischer Unruhe an der Musik des Vorspanns reiben, steigert sich die ausgelassene Stimmung in der Bahnhofsgaststätte zu einem immer schneller und dämonischer werdenden Tanz auf dem Vulkan: die Kellnerin tanzt gemeinsam mit Sophie, die auf dem Bahnhof arbeitet, auf den Tischen, die Szene eskaliert, die Menschen geraten in eine Art Ekstase und offenbaren etwas, das ansonsten tief in ihnen verborgen zu sein scheint. Dies ist alles andere als eine realistische Zustandsbeschreibung, und Andreas Kleinerts Film als eine "wirkliche" Bestandsaufnahme ostdeutscher Befindlichkeiten zu sehen, wäre ein fatales Mißverständnis. Ausgehend von der konkreten Verankerung in der Tristesse dieser Kleinstadt verdichtet sich sein Film vielmehr zu einem sinnbildreichen Tragödienspiel à la Tschechow, zu einem dramatischen Modellfall grundsätzlicher menschlicher Defizite: Wirklichkeitsflucht, Verdrängungen, Hang zur Scheinidylle, Angst vor jeder Form von Veränderung - das sind die Motivationen, die die Ereignisse eskalieren lassen.

Die attraktive Sophie wird zum Dreh- und Angelpunkt der Tragödie, die über ihre kleine Familie hereinbrechen wird. Kurz bevor die kleine Bahnstation und die Gaststätte geschlossen werden, begegnet ihr ein junger russischer Soldat, der desertiert ist, um nicht mit den abziehenden Truppen zurück in die Heimat zu müssen. Sergej hat sich in der verfallenden Kaserne eingerichtet und weckt gezielt Sophies Aufmerksamkeit, indem er ihr schließlich sogar eine Verletzung vortäuscht. Nur zu bereitwillig läßt sich Sophie in schwärmerischer Verliebtheit auf Sergej ein, ohne zu begreifen, daß sie damit die trügerische Idylle in ihrer Familie auf eine schwere Belastungsprobe stellt. Zu Hause lebt sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Georg in einem seltsamen Abhängigkeitsverhältnis: zurückgezogen aus allen weltlichen Lebenszusammenhängen, genügen die drei sich selbst und bieten sich gegenseitig Schutz und Zuneigung, wobei ihre Rollen ineinanderfließen: Georg ist mal sanftes Kind, dann herrschsüchtiger Vaterersatz, dann wiederum klammert er sich an Sophie, in der er weniger die Schwester als das Idealbild einer Geliebten sieht. Die Mutter wiederum giert nach Harmonie und Idylle, breitet mit jeder Geste und jedem Blick ein imaginäres Tuch über die Wirklichkeit, angsterfüllt das Geheimnis ihrer Vergangenheit hütend: nach ihrem Seitensprung mit einem russischen Soldaten hatte sich ihr Mann das Leben genommen. Sophie schließlich mag sich aus Liebe, vielleicht aus Naivität und Sanftheit der Situation angepaßt haben, ist aber dennoch diejenige, die sich stets ein Fenster zur Welt offenhält. Dennoch ahnt sie nichts Böses, als sie Sergej zu sich nach Hause einlädt, damit er bei ihr und ihrer Familie einzieht. Doch die Illusionen und Lebenslügen bröckeln und lösen einen Erdrutsch aus: so, wie Sergej den Anzug des verstorbenen Vaters angezogen bekommt, so spielen die Beteiligten zunächst noch unterschiedliche Lebens- und Rollenformen durch, um sich mit der neuen Situation zu arrangieren. Doch Sergej paßt in nichts hinein - in jeder Hinsicht. Er wird zu Bedrohung, gegen die man sich wehren muß.

Im zweiten Teil des Films konzentrieren sich die Ereignisse mehr oder weniger auf einen Schauplatz, an dem sich das beklemmende Drama im Verlauf von nur einer Nacht unaufhaltsam erfüllt. Eindrucksvoll beobachtet Kleinert die Gefühlsregungen seiner Figuren und fächert sie, unterstützt von hervorragenden Darstellern, zu einer subtilen Palette auf. Dabei erreicht seine Inszenierung eine nie genau vorherzuberechnende Schwebe, wenn sich allmählich Spiel und Ernst, Illusion und Wirklichkeit durchdringen und sich eine heikle Balance einstellt; so raufen sich Georg und Sergej manchmal wie kleine Jungen, bevor im nächsten Augenblick die Verzweiflung in Georgs Augen tritt und sich die abschließende Katastrophe bereits erschreckend klar andeutet - und man weiß, daß der Traum vom Abheben, den die die drei jungen Menschen auf der Startpiste der Kaserne noch so unbekümmert eingeübt haben, nur eine Illusion bleiben wird. "Neben er Zeit" ist eine hierzulande ungewohnt gewordene schwere Kinokost, der man nur wünschen kann, daß der Zuschauer noch bereit und fähig ist, sich auf das themen-und nuancenreiche Spiel mit Symbolen und Andeutungen von menschlichen Abgründen einzulassen. Kleinerts Ernsthaftigkeit des filmischen Erzählens sowie seine Fähigkeit, die Ereignisse nicht nur an der Oberfläche abzubilden, sondern sie auch in einer adäquaten Bildsprache vielfältig auszuloten, machen seinen Film im deutschen Kino zu einer Rarität, die ihresgleichen sucht.
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