Dokumentarfilm | Deutschland 2010 | 106 Minuten

Regie: Maria Speth

Dokumentarfilm über neun junge Frauen und Männer, die eine Zeit lang auf der Straße gelebt haben. Sie erzählen in einem neutralen weißen Raum von sich und ihrem Leben, aufmerksam beobachtet von der Kamera in einer virtuos austarierten Balance zwischen Distanz und Empathie. Dadurch erhalten sie Platz, um von Gefährdungen und Abstürzen, Vernachlässigung, Missbrauch und Liebesdefiziten zu sprechen, wobei sie indirekt etwas von der traumatisierenden Wucht preisgeben, die ihr Leben geprägt hat. Intensiv reflektiert der Film das Ineinanderwirken von sozialen Rahmenbedingungen und persönlichen Schicksalen und macht durch seine zurückhaltende, aber stringente Dramaturgie deutlich, wie die Porträtierten zu einer neuen (Für-)Sorge für sich selbst finden. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Madonnen Film/ZDF (Das kleine Fernsehspiel)
Regie
Maria Speth
Buch
Maria Speth
Kamera
Reinhold Vorschneider
Schnitt
Maria Speth
Länge
106 Minuten
Kinostart
19.05.2011
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Der Realismusbegriff der Filmemacher der Berliner Schule war von Beginn an eher weit gefasst. Trotz ihres inzwischen fast als Markenzeichen geltenden „präzisen Blicks auf die Wirklichkeit“ war damit nie ein unmittelbarer Zugriff auf die Realität im Sinne einer Authentizitätsbehauptung gemeint. Ganz im Gegenteil. Die meisten Filme, die man der Berliner Schule zurechnet – und dazu gehören auch die Arbeiten der Regisseurin Maria Speth –, zeichnen sich durch stilisierende Effekte aus, durch Realitätsverschiebungen wenn man so will. Deshalb ist es nur konsequent, wenn Maria Speth für ihren ersten Dokumentarfilm – ein Genre also, das im Vergleich zum Spielfilm noch immer viel stärker für die Reproduktion von Wirklichkeit steht – ein höchst artifizielles oder vielmehr auf artifizielle Weise neutralisierendes Setting wählt. Dabei scheint das Thema von „9 Leben“ geradezu prädestiniert für eine authentizitätsnahe Darstellung: Der Film porträtiert junge Frauen und Männer in Berlin, die für eine bestimmte Zeit auf der Straße gelebt haben bzw. dauerhaft auf der Straße leben. Mit seiner formalen Anordnung ist „9 Leben“ der Fotografie ebenso nah wie dem Film: Gedreht wurde in Schwarz-Weiß, aufgenommen wurden die Porträtierten in einem neutralen, „White Cube“-artigen Studio, die Einstellungen sind präzise kadriert und variieren meist zwischen Ganzkörperbild und Nahaufnahme. Durch diese sich klar als Stilmittel zu erkennen gebenden Setzungen werden überraschende Wirklichkeitseffekte erzeugt: Die von ihrem Kontext und ihrer Alltagsrealität (Straße, Gemeinschaft mit anderen Obdachlosen, Tätigkeiten wie Schnorren etc.) enthobenen jungen Menschen erscheinen so ungleich direkter, der Fokus wird auf ihre Persönlichkeit gerichtet, nicht auf die üblicherweise klischeegefährdete oder gar sozialpornografische Milieustudie. Um so mehr ertappt man sich als Zuschauer bei Vorurteilen bzw. bei vorgefertigten Bildern, etwa wie jemand, der auf der Straße lebt, auszusehen hat. Oder man wundert sich über die Eloquenz der Jugendlichen, ihre ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstreflexion. Gemeinsam ist Sunny, Toni, Krümel, JJ, Stöpsel, Soja und Za, dass sie schon sehr früh, im Alter von elf, zwölf oder 13 Jahren, beschlossen haben, von zu Hause wegzugehen. Das Leben auf der Straße schien trotz aller Härte, dem Alltag aus Geldbeschaffung und Drogen, Konflikten mit der Polizei, dem Jugendamt, mit Freiern etc. die bessere Alternative zum Elternhaus, das häufig von Gewalt, Ignoranz oder ganz einfach durch die Abwesenheit von Liebe geprägt war. Dass es keine standardisierte „Straßenlaufbahn“ gibt, auch das erzählen die unterschiedlichen Biografien, die bis zuletzt ausschnitthaft und inkohärent bleiben. Während der aus dem Kosovo stammende Straßenmusiker vom „Kick der Freiheit“ spricht und einem eher romantisierenden Bild der Straße anhängt, erinnert sich die seelisch stark angegriffene Sunny an einen düsteren Kreislauf aus Geld- und Drogenbeschaffung, erzählt von manipulativen Freunden und gewalttätigen Männern, von Selbstverletzungen und der dicken Mauer, die sie um sich errichtet hat. Um den Hals trägt Sunny, die seit einiger Zeit „clean“ ist, eine Kette mit einem Schloss, und auch ihre vielen Piercings und die Metallstachel an ihrer Lederjacke scheinen ihr offensichtlich das Gefühl von Schutz zu geben. Überhaupt spielen Kleidung und Körpergestaltung bei vielen Porträtierten als identitätsstiftende Ausdrucksmittel eine wichtige Rolle, die Kamera (Reinhold Vorschneider) registriert sie aufmerksam, unvoreingenommen. Das Ausgestelltsein der Figuren ist hier keine Einladung zum Voyeurismus, sondern folgt einem Konzept von Reduktion. Was in diesem etwas klinischen Setting fehlt, ist das Aufgehobensein in der gewohnten Umgebung; doch gerade durch die räumliche Begrenzung schafft Maria Speth den Porträtierten den notwendigen Platz, frei und richtungsoffen zu sprechen. Einige haben ihre Musikinstrumente mitgebracht, wie Za, die früher Elisabetha hieß und mit dem Cello einige Male erfolgreich bei „Jugend musiziert“ mitgemacht hat, bevor sie sich für Punk und Goth begeisterte, das Musikgymnasium abbrach und von zu Hause wegging, um auf dem Alexanderplatz zu leben. So unterschiedlich die familiären Hintergründe, Motive, Lebenseinstellungen, Welt- und Selbstbilder auch sind, ergibt sich gerade im Zusammenspiel der Einzelporträts so etwas wie ein Dialog. Man erkennt strukturelle Parallelen wie familiäre Gewalt, gesellschaftliche Missstände, aber auch das Spezifische der Biografien, denn letztendlich stehen hinter allen Geschichten individuelle Entscheidungen. Auf diese Weise vermeidet „9 Leben“ die Konstruktion einer fatalistischen Zwangsläufigkeit: Man könnte sich für Sunny, Toni, Krümel, JJ, Stöpsel, Soja und Za tatsächlich auch ein anderes Leben vorstellen.
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