Experimente im kirchlichen Raum

Ein Gespräch mit dem Filmemacher Christoph Böll

Veröffentlicht am
06. September 2019
Diskussion

Der Filmemacher Christoph Böll (Jahrgang 1949) entstammt einer sich selbst dem rheinischen Katholizismus zurechnenden Traditionsfamilie. Sein Großvater war Holzbildhauer, der Altäre und Kommunionbänke für Kirchen schnitzte. Sein Vater schrieb ein Buch über die Geschichte der Familie und die Geschichte ihres Glaubens. Und sein Onkel war der Schriftsteller Heinrich Böll, der die katholische Kirche mit kritischem Blick begleitete. Die katholische Prägung spiegelt sich auch im Werk von Christoph Böll, der seit den frühen 1970er-Jahren Filme macht. Dazu gehören seit einigen Jahren auch dezidiert kirchenthematische Filme.


Sie haben in den letzten Jahren eine Reihe kirchenthematischer Filme gemacht, darunter einen Film über den Abriss einer Klosterkirche, eine Dokumentation über die Jubiläen einer Wallfahrtskirche und eines Zisterzienser-Klosters und aktuell einen Film zum Evangelischen Kirchentag in Dortmund. Wie hat sich Ihr Interesse an dieser Thematik entwickelt?

Christoph Böll: Ich habe in meinem Leben oft die Erfahrung gemacht, dass die Dinge, die ich brauche, zu mir kommen. So ist das auch mit den Filmen, die ich jetzt im kirchlichen Raum gemacht habe. Fast so, als sollte ich mich noch einmal mit den Themen Kirche und Glauben beschäftigen, um eine innere Ruhe zu finden und mich mit mir selbst zu versöhnen.

In meiner Jugend war mir die kirchliche Erziehung zuhause oder in der Schule immer suspekt. Religion war mit Drohungen und Angst verbunden. Bis mir irgendwann klar wurde, dass die überhaupt nichts mit dem Gott zu tun hatte, den ich als kleines Kind geliebt und dem ich vertraut habe.


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Wenn ich zurückdenke, war das Schlimmste, dass meine Eltern mich nicht vor den angsteinflößenden Priestern meiner Kindheit beschützt haben.

Für diese Erkenntnis habe ich lange gebraucht. Die Filmerei hat mir dabei geholfen. Besonders der Film „Freu dich bloß nicht zu früh“ (1981) war ein wichtiger Schritt, um mir das bewusst zu machen. Das hat mir geholfen, mich davon zu befreien.


15 Jahre später haben Sie mit „Der Tag, als die Fische das Aquarium verließen“ (1996) eine Art surreale Groteske inszeniert, die eher als Abrechnung und weniger wie eine Versöhnung erscheint.

Böll: Das war auch eine Abrechnung mit meinem Vater. Mein Vater war von der Sexualität getrieben, die er wie ein Wahnsinniger bekämpfte. Ich denke, er wäre gerne Priester geworden, aber ihm war klar, dass ihm eine unausgelebte Sexualität keine Ruhe gelassen hätte. Als es Diskussionen gab, den Zölibat aufzuheben, hat er diese Idee total bekämpft, weil er selbst Priester hätte werden können, wenn es solche Voraussetzungen gegeben hätte. Dieser charakterliche Zwiespalt meines Vaters zeigt sich in dem Aquarium-Film darin, dass ich die Vaterfigur auch in der Rolle eines Erzbischofs auftreten lasse.

Der Film war eine persönliche Aufarbeitung und damit auch schon ein Schritt zur Versöhnung, weil ich es geschafft hatte, in den Bildern meine bis dahin unterdrückten Aggressionen auszuleben. Der Prozess einer Aussöhnung mit meinem Vater hatte schon vorher begonnen, in der Zeit seines Sterbens im Jahr 1989. Diese Zeit habe ich sehr intensiv erlebt. Ich kann mich daran erinnern, dass ich lange bei ihm am Bett gesessen bin und seine Hand gestreichelt habe. Diese Hand, mit der er seine Kinder verprügelt hatte, besaß nun keine Macht mehr über mich.

Versöhnung ist auch deshalb ein langer Prozess, weil sich ja auch die Verletzungen über einen langen Zeitraum ereignet haben.

Ein weiterer großer Schritt für mich war, als ich mit meiner Frau, der Malerin Bettina Bülow, die interessanterweise aus einer evangelischen Pfarrersfamilie stammt, eine Familie gegründet habe und wir ein Kind, Lukas, bekommen haben. Die religiöse Erziehung unseres Sohnes habe ich meiner Frau überlassen, der dadurch protestantisch aufgewachsen ist – außerhalb dieses repressiven Systems aus Schuld und Angst.


Haben diese Erfahrungen Ihren Blick in den späteren Kirchenfilmen geprägt?

Böll: Bei mir ist das so, dass ich auch die menschlichen Aspekte sehe. Als ich den Film über das Zisterzienser-Kloster in Bochum-Stiepel drehte, habe ich mich natürlich mit den Mönchen unterhalten. Viele von ihnen erzählten, dass ihre „Mama“ sie dorthin gebracht habe. Das fand ich erstaunlich, dass sie den Ausdruck „Mama“ gebrauchten, offenbar in dem noch immer bestimmenden Gefühl, von ihren Müttern dort abgeliefert worden zu sein. Das geschah sicher nicht gegen ihren Willen; dennoch offenbarten sich darin, menschlich gesehen, beträchtliche Baustellen – aus dieser Verkettung von Mama, Muttergottes und Kirche.

Mairenfigur im Zisterzienser-Kloster Bochum-Stiepel
Marienfigur im Zisterzienser-Kloster Bochum-Stiepel

In diesem Kloster existiert eine extreme Marienverehrung. In einer Szene sieht man den alten Chordirektor Heinrich Jansen, der ein Marienlied geschrieben hat, an der Orgel. Es ist sein letzter öffentlicher Auftritt. Vor der Kamera will er nichts sagen, doch er setzt sich an die Orgel, um noch einmal das „Stiepeler Mariengebet“ zu spielen, das er vor Jahrzehnten komponiert hat. Alle Mönche stehen da, singen mit und blicken auf eine Pieta mit dem toten Sohn im Schoße der Mutter. Sie schauen auf die Muttergottes wie auf ihre eigene Urmutter, mit einem frühkindlich unschuldigen Gesichtsausdruck. Unter menschlichen Gesichtspunkten finde ich das ergreifend, aber es ist auch zu erkennen, dass sie nie erwachsen geworden sind.


Vor diesem Film entstand der Film „Requiem für eine Kirche“ (2012), der den Abriss des Redemptoristen-Klosters Maria Hilf in Bochum in Form einer visuellen Elegie festhält.

Böll: Der Abriss einer Kirche ist für die betroffene Gemeinde ein entsetzlicher Abschied, weil so eine Kirche so viel erlebt hat an Taufen und Beerdigungen, Weihnachten und Ostern; in den Gemäuern steckt enorm viel an Emotionen. Als die Kirche in Bochum abgerissen wurde, kam mir meine eigene Messdienerzeit wieder ins Bewusstsein. Ich war in der Choral-Schola, später im Kirchenchor. Ich habe meine ganze kirchliche Karriere noch einmal durchlebt. Meine persönlichen Erfahrungen mit der Kirche spielen da also auch hinein.

So ein Abriss hat aber auch etwas Kathartisches. In der Kirche sind ja nicht nur schöne Sachen passiert. So gesehen, weiß ich nicht, ob es nicht ein notwendiges Schicksal für Kirchen ist, dass sie abgerissen werden, weil dort so viel Unheil angerichtet worden ist und sie kein gutes Karma haben. Wenn ich nur an meine eigene kirchliche Erziehung in den 1950er-Jahren denke, so etwas möchte man ja jedem ersparen. Aber die Redemptoristen waren in Bochum relativ beliebt.

Drei Monate, bevor der Abrissbagger kam, hatte ich einen Schlüssel zur Kirche und zum Kloster. Ich bin tagelang durch die Gebäudetrakte und Wohnbereiche geschlurft und habe alles gefilmt. Es gibt eine Menge Drehmaterial. Ich war auf dem Speicher und habe den Abbau der Glocken gefilmt und vieles andere mehr. Das war für den Abriss-Film viel zu viel. Denn beim Abriss-Film geht es nur um diesen radikalen Schluss-Effekt und nicht um irgendwelche historischen Hintergründe.

"Requiem für eine Kirche"
Etwas geht für immer kaputt: "Requiem für eine Kirche"

Ich bin deshalb einen emotionalen Weg gegangen. Der Abriss eines sakralen Ortes ist ja eine sehr emotionale Geschichte. Das spürt man mit jedem Baggerhieb, der die Fassaden zerstört, oder wenn die Dachziegel herunterfliegen. Man spürt, wie etwas für immer kaputt geht. Mir ist dabei auch klar geworden, wie viele Bögen der Architekt in diese Kirche gebaut hat, Bogen über Bogen, Fenster über Fenster. Als die Anlage errichtet wurde, haben sie gedacht, dass sie für die Ewigkeit bauen. Schöne Ewigkeit! Der Baggerführer war ein Experte, der schon 14 Kirchen abgerissen hat.


Zum Abriss-Film gehört aber auch ein Aufbau-Film, der anschließend entstand und in dem Sie den Neuaufbau eines Altenpflegeheims auf dem ehemaligen Klostergelände dokumentieren.

Böll: Das sind der Abriss und der Aufbau einer Geschichte. Der erste Film, also der Abriss-Film, drückt meine ganze Einsamkeit während des Drehens aus. Natürlich war ich dabei vollkommen einsam und habe stundenlang nicht gesprochen. Ich war der einzige, der dabei fotografieren und drehen durfte, weil es auch gefährlich ist, wenn Leute dabei herumlaufen. Für mich war es nicht gefährlich; ich wusste immer, wo der Bagger ist, um Abstand zu halten. Aber es war sehr anstrengend, die Kameras über den ganzen Kirchenschutt hin- und herzuschleppen. Ich habe mit zwei Kameras gedreht, die ich bedienen, einstellen und kontrollieren musste. Der Schutt lag zwei bis drei Meter hoch; das war ein Tohuwabohu, durch das ich mich kämpfen musste. Heute würde ich das gar nicht mehr schaffen.

Der andere Film war nicht ganz so einsam. Da hatte ich manchmal auch mit Bauarbeitern Kontakt, die mir Bescheid gaben, wenn etwas kam oder wann ich wo sein sollte. Der Baggerführer beim Kirchenabriss-Film war hingegen ein Blödmann, der mir nie verraten hat, wann wichtige Sachen passieren. Ich hätte zum Beispiel gerne den Abriss der Fassade mit der Rosette gedreht. Doch er hat mir nicht Bescheid gesagt. Ich kam eines Morgens dorthin, da lag bereits alles am Boden, und er hatte ein Scheißlächeln im Gesicht.


Ihr aktueller Film „Vere homo“ ist ein rund 90-minütiger Interviewfilm, der anlässlich des Evangelischen Kirchentags in Dortmund entstanden ist. Wie hat sich dieses Projekt ergeben?

Böll: Der Film entstand im Auftrag der Evangelischen Kirche von Westfalen. Die Ausgangsidee stammt von Thomas Wessel, dem Pfarrer der Bochumer Christuskirche. Seine Idee war die Eröffnungsfrage, die wir allen gestellt haben: „Glaubst du, dass Jesus zum Kirchentag kommt?“

Im Grunde eine unsinnige, aber dennoch interessante Frage, die die Leute auch witzig fanden. Schon die Vorstellung, dass Jesus zum Kirchentag nach Dortmund käme, war eigentlich nicht ernst zu nehmen. Trotzdem haben alle diese Frage auf eine spielerische Art aufgegriffen. Auch die naive Anschlussfrage, wohin sie mit Jesus beim Kirchentag gehen würden, haben sie ernsthaft beantwortet. Jeder zeichnete damit sein Jesus-Bild oder konnte es auf diese Weise umschreiben.

Zunächst haben wir in Dortmund testweise Straßeninterviews geführt und dabei schnell gemerkt, dass das funktionierte; die Menschen waren sehr offen und haben sich ohne Scheu geäußert. Ich hatte von vornherein das Gefühl, dass das nicht schiefgehen kann, solange man die Menschen ernstnimmt. Das ist die Voraussetzung, denn der Glauben ist eine intime Angelegenheit. Man muss das, was jemand glaubt oder nicht glaubt, respektieren; erst dann lassen sich die Menschen darauf ein, über ihren Glauben zu sprechen. Sie dürfen sich nicht verraten fühlen, durch unangemessene Fragestellungen oder unvorteilhafte Montagen. Jeder darf sich so geben, wie er ist.

"Vere Homo": Jeder darf sein, wie er ist
"Vere homo": Jeder darf sein, wie er ist

Da man für einen 90-Minuten-Film nicht unentwegt Leute auf der Straße befragen kann, haben wir auch ein paar Intellektuelle aus der Dortmunder Kulturszene in ihren Wohnungen interviewt. Ayla Wessel, eine in der Türkei geborene Dozentin für Kulturkommunikation und die Ehefrau von Thomas Wessel, hat die meisten Interviews geführt, ein paar stammen von mir.

Technisch habe ich bei diesen Aufnahmen einen großen Aufwand betrieben. Da ich die Gespräche nicht unterbrechen wollte, habe ich sie mit vier Kameras aufgezeichnet, um hinterher Möglichkeiten zum Schneiden zu haben. Auf diese Weise ist der Film gewachsen.


Wie haben Sie mit vier Kameras gleichzeitig gearbeitet?

Böll: Ich habe die Kamera in der Tat alleine gemacht. Ich ziehe meine eigene Sichtweise vor, eine andere will ich nicht. Das bedeutet allerdings auch viel mehr an Arbeit.

So hat eine meiner Kameras stets die Funktion eines Jokers. Diese Kamera stelle ich irgendwohin, vielleicht an eine besonders ungewöhnliche Stelle, das geschieht ganz intuitiv. Dann lasse ich sie laufen und beachte sie während des Drehens nicht weiter, während ich die anderen Kameras durchgängig kontrolliere. Erst hinterher sehe ich dann, was diese intuitive Joker-Kamera aufgenommen hat. Das sind oft fantastische, unvorhersehbare Aufnahmen.

Beim Abriss-Film stand die Joker-Kamera beispielsweise im Treppenhaus des Klosters. Da gab es ein Fenster, durch das man in den Kreuzgang sah. An dieser Stelle hatte ich den Joker aufgebaut. Später habe ich mir dann angeschaut, was der Joker gesehen hat. Er hat einen Moment festgehalten, wie ein Stein an einem Stahlseil genau in das Fenster hineinflog. Das war ein sensationelles Bild.


Wie positionieren Sie die vier Kameras bei einem Interviewfilm wie „Vere homo“?

Böll: Für mich war zunächst die Frage wichtig, wie ich den Dialog zwischen Ayla Wessel und den Gesprächspartnern festhalten kann. Ich habe mich entschieden, sie einander schräg gegenüber sitzen zu lassen, so dass man beide sehen kann, wie sie sich anschauen, eher auf Augenhöhe als in Konfrontation zueinander. Daneben gibt es dann den separaten Kamerablick auf die interviewte Person. Das waren für mich die Basisaufnahmen. Zusätzlich gibt es dann noch seitliche oder nahe Einstellungen als Luxusaufnahmen. Ab und zu kontrolliere ich die Kameras, um zu überprüfen, ob sich im Bild etwas verändert hat, weil sich die Personen bewegen und auf diese Weise vielleicht versetzt haben.


„Vere homo“ wirkt wesentlich karger als Ihre anderen Filme. Hatten Sie bei dem Film das Gefühl, sich nicht mehr im katholischen, sondern in einem protestantischen Universum zu bewegen?

Böll: Dass ich damit in einer anderen Welt war, habe ich gespürt, mehr aber auch nicht. Ich hatte das Glück, an einem der letzten Drehtage Almut Begemann kennenzulernen, die als Pfarrerin 28 Jahre lang an der Stadtkirche St. Petri in Dortmund gewirkt hat. Sie hat dort feministische Gottesdienste gefeiert, was ich zuvor noch nie erlebt hatte. Ich bin ja durch meinen Vater geprägt, der feministische Gottesdienste ganz entsetzlich gefunden hätte, weil Frauen seiner Meinung nach nicht an den Altar gehörten.

Almut Begemann ist eine Pfarrerin, die bemerkenswerte Experimente gemacht hat. So hat sie die Sitzbänke rausgeschmissen, damit die Leute nicht mehr alle in die gleiche Richtung blicken müssen, sondern dorthin schauen können, wohin sie wollen. Sie selbst trägt ein sehr helles Gewand, was auch außergewöhnlich ist.

Zentrales christliches Symbol ist bei ihr ein Bodenlabyrinth als Sinnbild für den Weg durchs Leben. Das finde ich ein schöneres Symbol als das Kreuz, weil es mit Meditation und Selbsterfahrung verbunden ist. Es ist ja ganz ungewöhnlich, „nur“ eine Stimmung zu schaffen, in der man sich still auf sich selbst besinnen kann, um auf diesem Weg zu Gott zu finden. Man findet ja nicht dadurch zu Gott, dass man unentwegt beschwatzt wird oder vorgeschrieben bekommt, wie der Hase laufen soll. So funktioniert das nun mal nicht.

Wahrscheinlich hatte auch Almut Begemann keine leichte Jugend. Ihr Vater war ebenfalls Theologe und nahm in der evangelischen Kirche eine wichtige Position ein. In der Familie, aus der sie stammt, bekleidete sie vermutlich eine Ausbrecherrolle. Sie ist zwar auch Theologin, vertritt aber eine andere Theologie.

Ein Bodenlabyrinth als Sinnbild des Lebens
Ein Bodenlabyrinth als Sinnbild des Lebens

Sehen Sie sich als spiritueller Filmemacher?

Böll: Am schönsten fände ich es, wenn ich inspirierte Filme machen würde, die eine Kraft in sich selbst haben und diese an die Zuschauer weitergeben.


Fotos: Christoph Böll Filmproduktion

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