Die Tagebücher von Victor Klemperer aus der Zeit von 1933 bis 1945 wurden erst Jahrzehnte nach seinem Tod zum Bestseller. Der 1960 verstorbene Dresdner Romanist Victor Klemperer schrieb aber nicht nur über den Alltag in der Nazi-Zeit und legte mit der „Lingua Tertii Imperii“ eine fundierte Sprachanalyse des Dritten Reichs vor. Der passionierte Kinogänger führte seit 1929 auch ein „Kinotagebuch“, mit Notizen über Schauspieler und knapp formulierten Besprechungen von Filmen. Die bisher noch nicht publizierten Manuskripte aus dem Tagebuch-Fundus sind jetzt unter dem Titel „Licht und Schatten“ erschienen.
Als Victor Klemperer 1941 eine Haftstrafe antrat, fällt im Kino-Tagebuch der Satz: „Einen Augenblick dachte ich: Kino!“ Ein Jahrzehnt früher schrieb der Professor der Technischen Universität Dresden noch begeistert: „Ich bin so sehr gern im Kino – es entrückt mich!“ Dabei schaute er sich nicht nur Meisterwerke an, sondern auch das massenhaft produzierte Unterhaltungskino. Sein breites Interesse hielt auch an, als der konvertierte Jude den Lehrbetrieb 1935 verlassen musste. Im Lichttheater konnte er danach nur noch kurze Zeit den sich häufenden Demütigungen und Entrechtungen der Nazis entkommen, bevor die Rassengesetze den Kinobesuch endgültig unmöglich machten.
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Gemeinsam mit seiner nicht-jüdischen Frau, die als eine
von wenigen trotz heftiger Depressionen zu ihm hielt, suchte er Ablenkung in Gaunerkomödien
ebenso wie in Madame-Bovary-Verfilmungen. Manchmal ging er auch alleine ins
Kino. In sein Tagebuch notierte er danach scharfsinnig die Machart des jeweiligen
Films, die möglichen Gründe für Regie-Entscheidungen oder die Absichten der
nationalsozialistischen Machthaber, die selbst in Unterhaltungsstoffen ihre
versteckten Botschaften unterzubringen wussten.
Vor meinungsfreudigen Urteilen zeigte Klemperer keine Scheu. 1929 muteten seine Kommentare über den Film „Eine schamlose Frau“ von Clarence Brown noch eher belustigt bis gereizt an: „Eine große schwedische Schauspielerin in solchem Mist und Nonsens. Freilich unter lauter Amerikanern. Greta Garbo, die dämonisch Liebende. Von ihrem ersten und wahren Freund getrennt, wirrste Schicksale, dann er zwischen sie und die tugendhafte Gattin gestellt. Der Ihre noch einmal, und dann geht sie, nein, fährt mit dem Auto in den Tod. All das völlig wirr, sinnlos, kitschig – aber die Garbo ist schön und ausdrucksvoll. Dennoch: Verzweiflung am Film!“
Den Einzug des Tonfilms hielt Klemperer zunächst fortschrittspessimistisch für den Sieg einer „gemordeten Kunst“. Denn: „Film muss Ausdruckskunst sein, dem Ballett ähnlich, oder er ist ein widerwärtiger toter Mechanismus und ein misstöniger dazu“. Erst 1932 änderte Klemperer seine Meinung, nachdem er „Der blaue Engel“ gesehen hatte. „Das Spiel, auch das Sprechen (auch im Klang) gut, oft erschütternd gut. Dass der Inhalt ein melodramatischer Kitsch ist – claro. Aber Wirkung hat er, und die Schauspielerei ist große Kunst. Durchweg. Diese Rosa Valetti, dieser Gerron usw. Jede einzelne Nebenrolle. Von den Helden sie, die Marlene Dietrich, fast noch besser als Emil Jannings. Diese selbstverständliche Tönung, nicht gemein, nicht schlecht, nicht sentimental – unbewusst menschlich und verkommen. Hier gab mir der Tonfilm viel“, gibt er schwärmend zu Protokoll.
Kino als Überlebensmotor
1936 zeugen lange Passagen von den gesellschaftlichen Veränderungen: „Die Mehrzahl des Volkes ist zufrieden, eine kleine Gruppe nimmt H. als das geringste Übel hin, niemand will ihn wirklich los sein, alle sehen in ihm den außenpolitischen Befreier, fürchten russische Zustände, wie ein Kind den schwarzen Mann fürchtet, halten es, soweit sie nicht ehrlich berauscht sind, für realpolitisch inopportun, sich um solcher Kleinigkeiten willen wie der Unterdrückung bürgerlicher Freiheit, der Judenverfolgung, der Fälschung aller wissenschaftlichen Wahrheit, der systematischen Zerstörung aller Sittlichkeit zu empören.“ Nur einen Satz weiter bot der letzte Kinobesuch den Grund zu einem abrupten Tonwechsel: „Broadway-Melodie. Ein ganz und gar amerikanischer Film, durchweg Stepptanz und negroide Musik, entzückend“ - das Kino als stimmungsaufhellender Überlebensmotor, welch eine Liebeserklärung!
Als Zeitzeuge und Betroffener fing Klemperer pointiert und hellsichtig das in den Filmen gespiegelte Zeitgeschehen ein, bis hin zu den antisemitischen Bemerkungen seiner Sitznachbarn angesichts der ideologisch aufpeitschenden Wochenschauen: „Am Dienstag im neuen Universum-Kino in der Prager Straße. Neben mir ein Reichswehrsoldat, ein Knabe noch, und sein wenig sympathisches Mädchen. Es war am Abend vor der Boykottankündigung. Gespräch, als eine Alsberg-Reklame lief. Er: ,Eigentlich sollte man nicht beim Juden kaufen.‘ Sie: ,Es ist aber so furchtbar billig.‘ Er: ,Dann ist es schlecht und hält nicht.‘ Sie, überlegend, ganz sachlich ohne alles Pathos: ,Nein, wirklich, es ist ganz genauso gut und haltbar, wirklich ganz genauso wie in christlichen Geschäften – und so viel billiger.‘ Er: schweigt.“
Mit einer Art Happy End
Nach langer Abstinenz und nur knapp der Deportation entkommen, berichtete Victor Klemperer Ende Februar 1945 über ein Wunder: „Als wir am Donnerstagabend in unser Quartier zurückkamen, fragte uns ein Soldat, ob wir ins Kino wollten, und schon saßen wir im Filmsaal. Das erste Mal nach sieben Jahren wohl, ein seltsames Gefühl.“ Im Sommer zeigten bei dem eingerosteten Cineasten die neuen Kinobesuche ihre Wirkung: „Noch einmal gut essen, gut trinken, gut Autofahren, gut am Meer sein, gut im Kino sitzen. Kein 20-Jähriger kann halb so lebenshungrig sein.“
Lesehungrig nach den immer noch frischen Einblicken in eine finstere Zeit bleibt man bis zum Schluss, erleichtert darüber, dass sich im Fall von Victor Klemperer die bitteren Verlusterfahrungen in einem kinotauglichen Happy End auflösen konnten.
Hinweis
Licht und Schatten. Kinotagebuch 1929-1945. Von Victor Klemperer. Hrsg. von Nele Holdack und Christian Löser. Mit einem Vorwort von Knut Elstermann. Aufbau Verlag, Berlin 2020. 363 S., 16 s/w Abb., 24 EUR. Bezug: In jeder Buchhandlung oder hier.