Die Miniserie „Das Damengambit“ ist eine der erfolgreichsten Netflix-Produktionen überhaupt. In den ersten 28 Tagen wurde sie bereits von 62 Millionen Haushalten aufgerufen und hat einen wahren Schachboom ausgelöst. Bei Ebay steigerte sich der Verkauf von Schachspielen angeblich um über 200 Prozent. Neben der großartigen Hauptdarstellerin Anya Taylor-Joy hat auch das elaborierte Production Design des Szenenbildners Uli Hanisch einen wesentlichen Anteil am Erfolg der Serie. Fans pilgern zu den Drehorten und analysieren die Vintage-Tapetenmuster in ausführlichen Blogbeiträgen, Architekturzeitschriften reichen die jeweiligen Bezugsadressen nach. In einer Mischung aus Stilisierung und Behauptung übersetzt Hanisch die Wahrnehmungsweise der Protagonistin kongenial in Räume, Settings und Designs.
„Das Damengambit“ erzählt die Entwicklungsgeschichte des Waisenkinds Elisabeth Harmon, genannt Beth (Anya Taylor-Joy), das in seiner sozialen Interaktion gehemmt, dafür im Schachspiel herausragend begabt ist. In sieben Folgen begleiten wir Beths Aufstieg in die internationale Schachelite und erleben zugleich ihre mühsame Entwicklung vom einsamen Wunderkind zur erfolgreichen jungen Frau, die lernt, sich selbst und ihren Freunden zu vertrauen. Angesiedelt in den USA der späten 1950er- und 1960er-Jahre bietet die Serie zugleich eine Zeitreise in eine Welt scheinbar unhinterfragter Geschlechterrollen, in die die brillante Schachspielerin, die reihenweise Großmeister vom Brett fegt, nicht so recht passen will.
Beth und Grenouille als Geschwister im Geiste
Die Buchvorlage „The Queen’s Gambit“ von Walter Trevis erschien 1983, zu einem Zeitpunkt, als Autismus einer breiten Öffentlichkeit noch kaum bekannt war. Dennoch lässt die Figurenzeichnung der Protagonistin mit ihrer außergewöhnlichen Inselbegabung im Schach, ihrer steifen Körperhaltung und ihren mangelhaften sozio-empathischen Beziehungen an das Asperger-Syndrom denken. Trevis’ Roman gibt eine introspektive Erzählweise vor und bleibt, auch als seine Heldin in die Medikamenten- und Alkoholabhängigkeit abrutscht, stets wertneutral.
Ganz ähnlich geht Patrick Süßkind zwei Jahre später in seinem Roman „Das Parfum“ vor. Auch sein Protagonist Grenouille ist ein gehemmtes Waisenkind, ein Außenseiter, der die Codes seiner Mitmenschen nicht versteht. Auch Grenouille kompensiert sein soziales Defizit mit einem Ausnahmetalent, einem äußerst differenzierten Geruchssinn, doch im Unterschied zu Beth kann er dies nicht in einen konstruktiven Wettkampf überführen, sondern wird beim Versuch, alles Bisherige zu übertrumpfen, destruktiv zum Mörder.
Als der deutsche Szenenbildner Uli Hanisch, der 2005 Tom Tykwers Verfilmung von „Das Parfum“ ausgestattet hatte und 2020 mit „Das Damengambit“ nach „Babylon Berlin“ seine zweite Arbeit für eine Serie vorlegte, den Roman von Trevis las, erkannte er sogleich zwei Geistesverwandte, was ihm den Zugang zur Gestaltung sehr erleichterte. Der „Wahrnehmungsfilter der Protagonistin“, so sagt er, wurde zu seinem Initial. Wie blickt Elisabeth auf die Welt? In „Das Parfum“ hatte Hanisch das Paris des 18. Jahrhunderts mit den Augen von Grenouille gezeigt. Der angehende Parfümeur blickte fremd auf seine Umgebung, deren Zeichen und Symbole er nicht verstand. Beth konzentriert sich anfänglich nur auf die Schachfiguren, doch im Laufe der Zeit verändert sie ihre Perspektive. Sie schaut aus ihrer Isolation zunächst mit Distanz, dann jedoch zunehmend neugierig auf die Welt, die sie selbst zu gestalten beginnt. Für einen Szenenbildner der perfekte Ausgangspunkt.
Übertreibungen, Stilisierungen und stumpfe Winkel
Uli Hanisch ist einer der
renommiertesten deutschen Production Designer, der seit vielen Jahren mit Tom
Tykwer zusammenarbeitet und zuletzt mit seinem opulenten Szenenbild für
„Babylon Berlin“ international für Aufsehen sorgte. Die Netflix-Macher wandten
sich direkt an ihn, als sie in Europa nach Drehorten suchten. Hanischs
Gestaltungskunst besteht nicht einfach darin, Locations in glaubwürdige Sets zu
verwandeln oder eine historische Zeit akkurat zu rekonstruieren, er antizipiert
zudem die Narration und Dramaturgie einer Geschichte und übersetzt sie in filmische
Räume. Aus der Vogelperspektive erscheinen seine Grundrisse meist
expressionistisch verzerrt. Rechte Winkel wird man hier kaum finden,
stattdessen kann die Kamera organisch an stumpfen Ecken entlanggleiten, ohne in
Sackgassen zu geraten.
Der erste Entwurf für das Haus, in dem Beths Adoptiveltern Alma und Allston Wheatley (Marielle Heller und Patrick Kennedy) leben, war für den Regisseur Scott Frank daher eine Überraschung. Anhand eines Modells wurden jedoch schnell die Inszenierungsmöglichkeiten dieser unorthodoxen Raumgestaltung deutlich: Vom Treppenhaus aus kann Beth ihre Stiefmutter beim Klavierspiel beobachten, der Türbogen erscheint wie ein Bühnenportal; die Küchenzeile mit Theke erlaubt eine Tiefenstaffelung bis zum Kamin.
Während diese Raumverzerrungen für die Zuschauer in der Regel unsichtbar bleiben, drängen sich die Tapetenmuster und -farben der Sets prominent in den Vordergrund. Die Set-Dekorateurin Sabine Schaaf hat „mit totaler Unerschrockenheit“ die wildesten Muster kombiniert, wie Hanisch berichtet. Die Dekors ähneln pastellfarbenen Eiskugeln in Pistazie, Erdbeer und Vanille. Orange und Türkis bilden hierzu einen starken Kontrast. Muster wuchern von Wänden über Textilien und Lampenschirme, florale Ornamente treffen auf geometrische Formen. Rauten lassen an ein verzerrtes Schachbrett denken.
Die Sprache der Dinge
Hanisch hat ein großartiges, fesselndes und bestechendes Szenenbild geschaffen, dem es weniger um Realismus als um Glaubwürdigkeit geht. Die Stilisierungen und Übertreibungen, die er vornimmt, um die Wahrnehmungsfilter von Beth und ihrer Stiefmutter zu visualisieren (die beide zudem medikamentenabhängig sind), ähneln durchaus seinen bisherigen Arbeiten. Warum fallen die Reaktionen diesmal derart euphorisch aus? Der Unterschied besteht darin, dass das Szenenbild hier lustvoll gefeiert wird. Jedes Ausstattungsdetail und jeder Blick darauf ist durch die Inszenierung motiviert. Regie (Scott Frank), Kamera (Steven Meizler) und Szenenbild agieren als Komplizen. Das wird deutlich, wenn Beth das erste Mal ihr eigenes Zimmer betritt und die Kamera einen kurzen Moment hinter ihr verharrt. Betrachtet Beth wirklich nur den pinkfarbenen Raum oder erschafft sie ihn mit ihren großen staunenden Augen?
Fragt man Hanisch nach den unterschiedlichen Filmauffassungen in Europa und den USA, dann fällt ihm die Haltung zu den Dingen ein. In Hollywood traue man sich, den Blick länger durch Räume schweifen und an Gegenständen verweilen zu lassen, ohne das Gesicht der Protagonisten zu zeigen. Requisiten werden zu symbolisch aufgeladenen Zeichen, Emotionen können mitempfunden werden. In Europa hingegen werden die Schauspieler meist groß in den Blick genommen und in ihrem Gesichtsausdruck spiegelt sich vermittelnd das Gesehene.
Eine interessante Beobachtung, die man bis zu Hitchcock zurückverfolgen könnte, der bekanntlich ein Meister darin war, Objekte durch den Kamerablick emotional aufzuladen. Natürlich ließen sich auch Gegenbeispiele finden, doch vielleicht fällt es dem amerikanischen Unterhaltungskino tatsächlich leichter, nonverbal und „äußerlicher“ zu erzählen?
Die Narration des Schachturniers
Beim „Damengambit“ fällt auf, dass die Kamera sich nicht scheut, Beth von hinten zu zeigen. Sie erobert die Welt von Turnier zu Turnier, von Stadt zu Stadt, sie läuft Treppen hinauf, durch Hotellobbys hindurch, und die Kamera begleitet sie auf Schritt und Tritt und betrachtet alles, als sähe sie es ebenfalls zum ersten Mal. Dabei folgt die Erzählung der Narration der Schachturniere. So wie sich Beth von kleinen Wettkämpfen zur Landesmeisterschaft und schließlich zu internationalen Turnieren hocharbeitet, so wechseln auch die Austragungsorte von einfachen Schulsporthallen über Konferenzräume und Ballrooms bis zum gewaltigen Saal mit Zuschauertribüne im Moskau des Jahres 1968. Denn während Schach in den USA der 1960er-Jahre als unglamouröses Spiel gilt, ist es in der UdSSR ein Nationalsport, dessen Meister wie Helden verehrt werden.
Beth jagt von Ort zu Ort, von Hotel zu Hotel und lernt die Welt vornehmlich über Innenräume kennen. Nationale Unterschiede werden vom Szenenbild daher überdeutlich ins Bild gesetzt, die jeweiligen Farbkonzepte helfen dabei. Und als kleinen Spaß hat Hanisch für jedes Turnier ein passendes „Demonstration Board“ gestalten lassen, das den Spielstand im entsprechenden Ornament ins Bild fasst – mal rüschig, poppig oder geometrisch streng.
Berlin ist Las Vegas, ist Mexiko-Stadt, ist Paris, ist Moskau…
Die Karl-Marx-Allee eignet sich bestens als Moskauer Filmkulisse, wie man spätestens seit „Die Bourne Verschwörung“ (2004) weiß. Dass sich die Westberliner Messearchitektur in Las Vegas und ein Ostberliner Tanzpalast in ein Hotel in Mexiko-Stadt verwandeln lassen, hat man so bisher aber noch nicht gesehen. Insbesondere für Berlinerinnen und Berliner ist es ein Fest, den Verwandlungen vertrauter Orte zu folgen. Dabei zeigt sich die Diversität der Berliner Architektur als besonderes Potenzial. Die Netflix-Macher waren verblüfft, wie stark der US-amerikanische Einfluss in der Westberliner Nachkriegsmoderne spürbar ist. Als eine der ersten Locations wurde das Palais am Funkturm ausgewählt, das auch heute noch mit seiner 1950er-Jahre-Eleganz besticht. Hanisch verwandelt es in das Mariposa-Hotel in Las Vegas. Die rückseitige Ansicht mit Wasserspielen vermittelt, um einige Palmen erweitert, südliches Flair. Den gewaltigen Innenraum mit der Freitreppe, in dem bis zu 2000 Gäste Platz finden, strukturiert er mit einer überdimensionierten Würfelskulptur und Sitzgruppen im Fifties-Look.
Grandios ist auch die Metamorphose des
Friedrichstadt-Palastes in das Aztec Palace Hotel in Mexiko-Stadt. Nur eine
Nacht stand für den Umbau der drei Foyer-Etagen zur Verfügung. Es wurden
Teppiche verlegt, Sessel aufgebaut, Folien zur Verlängerung der Glasmosaiken geklebt
und schließlich ein 25 Meter hohen Kamerakran eingerichtet, der Beth bei ihrer
ersten Begegnung mit den russischen Spielern begleitet. Das Gebäude aus dem
Jahr 1984 überzeugt als mexikanische Kulisse aufgrund seiner streng geometrischen
Gliederung und dank der charakteristischen Buntglasfenster in Orange, Rot, Grün
und Blau.
Beth erschafft ihre Welt
Das fulminante Finale in Moskau schließlich wurde im nur punktuell erleuchteten Bärensaal des Alten Stadthauses sakral inszeniert. Hier findet der entscheidende Wettkampf gegen die russischen Großmeister statt. Auch hierfür wurde historisches Referenzmaterial konsultiert. Alles an der Raumgestaltung zielt auf Machtdemonstration und Einschüchterung. Acht Turmbauten reichen zu den „Demonstration Boards“ hinauf. Die minimale Ausleuchtung erzeugt eine spannungsreiche Atmosphäre, bis Beth schließlich das erlösende Schachmatt erzwingt. Anschließend verlässt sie die steinerne Halle und beginnt sich erstmals den städtischen Außenraum zu erschließen.
Wie sehr die Frage der Gestaltung in dieser Geschichte auch eine Emanzipationsfrage ist, wird in der sechsten Folge deutlich. Beth hat ihrem Stiefvater das Haus abgekauft und unterzieht dieses einem Makeover: sie entrümpelt, entfernt Rüschenvorhänge, wird moderner. „Das Haus fühlte sich anders an, jetzt, wo es ihr gehörte. Sie würde ein paar neue Möbel besorgen […]. Sie wollte, dass es im Wohnzimmer heller, freundlicher aussah“, heißt es im Roman. Elisabeth beginnt, Objekte mit Emotionen in Verbindung zu setzen und selbst auf deren Wirkung Einfluss zu nehmen. Sie kauft ein neues Sofa, hängt moderne Kunst auf und wird so zur Szenenbildnerin ihres Lebens.
Gewidmet ist die Serie übrigens dem verstorbenen Aktionskünstler Iepe Rubingh, der in Berlin das Schachboxen begründete, eine Sportart, bei der sich Blitzschachpartien mit Boxrunden abwechseln. Betrachtet man das erste Synchronschachspiel, das Beth gegen zwölf Jungen der High School gewinnt, so erscheint dies durchaus einem Boxkampf vergleichbar. Als Mädchen wäre sie physisch allerdings chancenlos. Der Film erschafft jedoch eine Welt, in der alles möglich ist: das kleine Mädchen besiegt die großen Männer und zugleich die eigenen Dämonen und nimmt schließlich die weitere Gestaltung ihres Lebens selbst in die Hand. Das Szenenbild hilft ihr dabei.
Die Autorin ist Kuratorin an der Deutschen Kinemathek, Berlin. Dort wird das Arbeitsarchiv von Uli Hanisch verwahrt und erschlossen.