Wer liest im Buch der Natur? In seinem Abschluss-Essay verknüpft Till Kadritzke seine Gedanken zur politischen Cinephilie mit dem Werk Siegfried Kracauers, aus dem er zwei Perspektiven auf Film herausliest und aktualisiert. Sein Aufhänger: Ein neues Werk von Regisseur Steve McQueen, "Lovers Rock".
Schon geht es auf die Tanzfläche, auch die Kamera kann es kaum erwarten. Der Raum ist langsam gut gefüllt, der DJ gut drauf, zieht am Joint. Die Mitte des Raums füllt sich mit Blicken und Bewegungen. Eine Polizeisirene vom Band markiert den Übergang zum nächsten Track, dessen Intro, man merkt es am Kreischen, alle sofort erkennen, sich in Lauerstellung begeben. Dann werden auf den ersten Beat die Arme ausgefahren und „Everybody Is Kung-Fu Fighting“, Fäuste nach vorn, Fäuste durchs Bild, am Rand parodiert einer Bruce Lee, flirtend, ein anderer wartet lieber auf den nächsten Track, hat vielleicht ein bisschen Angst vor diesen Frauen in der Tanzmitte, mit ihren bunten Kleidern und ihren Kicks. „Tanzaufnahmen kommen manchmal einer unbefugten Einmischung in die Gefühlswelt der Tanzenden gleich. Ihr selbstvergessenes Entzücken mag sich in wunderlichen Gesten und verzerrten Gesichtern äußern, die nicht dazu bestimmt sind, beobachtet zu werden, es sei denn von jenen, die sie nicht beobachten können, weil sie selbst am Tanz teilnehmen.“
Die Szene stammt aus Steve McQueens „Lovers Rock“, dem zweiten Teil seiner „Small Axe“-Anthologie über Schwarzes Leben im London der 1970er- und 1980er-Jahre; das Zitat stammt aus Siegfried Kracauers „Theorie des Films“. Tanzen ist für Kracauer eine der spezifisch filmischen Bewegungen, erzielt allerdings nur dort einen „filmischen Effekt, wo es einen Bestandteil physischer Realität bildet“, nicht etwa dort, wo einfach Bühnentanz oder Theaterballett abgefilmt wird.
Die physische Realität dieses Tanzens: die äußerst gut besuchte Hausparty, mit der Cynthia ihren Geburtstag feiert. Aber sie ist von innen bedroht, von außen umzingelt, die Polizeisirene als Übergangs-Jingle ist kein Zufall. Martha, die Protagonistin des Films, wird nicht nur immer wieder von der Musik auf die Tanzfläche gezogen, sondern unternimmt auch Ausflüge an den Rand. Im Garten vereitelt sie mit einem Messer eine versuchte Vergewaltigung, den Typen wird man nur in Richtung Tanzfläche los. Und einmal rennt sie ihrer Freundin Patty hinterher, die keinen so guten Abend hat wie Martha. Schon nach wenigen Metern auf der Straße begegnet sie einer Gruppe weißer Jungs, die ihr nachstellen, die für sie nur dumpfe Anmache und ein paar Affengeräusche übrighaben.
„Lovers Rock“ besteht fast nur aus dieser Party, der Film fühlt sich nach Echtzeit an, nach einer Ode ans Feiern, ans Flirten, ans Tanzen. Dieses Tanzen ist ganz eindeutig ein Bestandteil physischer Realität. Zugleich aber ist diese physische Realität von einer sozialen Realität geformt, die nicht weniger real ist. Es gibt die Tanzfläche, Zone des Werdens, ein Raum voller Bewegung, nichts als filmische Bewegung. Aber es gibt auch den Garten, und es gibt auch die Straße.
Wissbegierde und Schönheitssinn
In diesem letzten Essay will ich mich erneut einigen der Fragen annähern, denen ich mich in dieser Essay-Reihe zur politischen Cinephilie gewidmet habe, und zwar mit der Hilfe von Siegfried Kracauers Schriften zum Film. Diese Schriften durchzieht eine doppelte Bewegung, die, so scheint mir, meinem im Einstiegsessay dieser Reihe beschriebenen Zwiespalt entspricht: dem Zwiespalt, im Schreiben über Film immer wieder politische von cinephilen Argumenten trennen zu müssen, obwohl diese doch eigentlich zusammengehören sollten.
Kracauers Texte zum Film sind beseelt von einer leidenschaftlichen Cinephilie. Aus ihnen spricht die Begeisterung für ein Medium, das spezifische Eigenheiten besitzt, und Fähigkeiten, von denen die anderen Künste nur träumen können. Damit geht eine Verachtung für alles „Unfilmische“ einher, das sich eines Films bemächtigt. Zugleich ist da aber das Wissen um die Macht der Bilder, um ihr intimes Verhältnis zu Interessen und Wünschen, um ihre Voreingenommenheit, als teure Investitionen, zum je herrschenden Status quo. Kurz: das Wissen um die Verwobenheit des Films mit dem Politischen.
Einerseits also der Film als Medium, dem ein einzelner Film mal mehr, mal weniger entspricht, und dessen Qualität sich nicht zuletzt an dieser Entsprechung bemisst. Andererseits der Film als Ressource einer „geheimen Geschichte“, die sich „hinter der offen daliegenden Geschichte der ökonomischen Schwankungen, sozialen Erfordernisse und politischen Machenschaften“ abspielt, innerhalb derer die einzelnen Filme zu einem „Schlüssel zu verborgenen und geistigen Prozessen“ werden.
Es geht also um das Potenzial eines Mediums, „die Wirklichkeit zu erretten“, wie es im Untertitel zur „Theorie des Films“ heißt, eines Mediums aber, das in der Welt da draußen sehr reale, mitunter zerstörerische Wirkungen zeitigt, die einer eigenen Analyse bedürfen. Was Kracauer über die Wirkung der Fotografie schreibt, gilt demnach auch für sein eigenes Werk: in ihm „durchdringen sich … Wissbegierde und Schönheitssinn“.
Damit sind auch zwei unterschiedliche Perspektiven aufs Kino angesprochen, und zwei Modi der Filmkritik, die sich nicht ausschließen, aber auch nicht so leicht in Einklang zu bringen sind: eine cinephile Perspektive, die einen Film zunächst auf seinen genuin filmischen Gehalt überprüft, das Kino nicht auf das Theater des Drehbuchs, nicht auf die Strenge der Kunst, nicht auf die Abstraktion der Literatur reduziert sehen will; und eine politische Perspektive, die nicht nur diesem Kino selbst, sondern in diesem Kino auch den Dingen auf den Grund gehen will. „Der Filmkritiker von Rang“, schreibt Kracauer denn auch, „ist nur als Gesellschaftskritiker denkbar.“
Die cinephile Perspektive: Der filmische Film
In seiner erstmals 1960 in den USA veröffentlichten „Theorie des Films“ versucht Kracauer zunächst, die spezifischen Eigenschaften des Films als Medium zu klären. Er interpretiert den Film als Fortführung und Erweiterung der Fotografie, sieht ihn, ähnlich wie diese, der Spannung zwischen einer realistischen und einer formgebenden Tendenz unterworfen. „Filme sind sich selber treu, wenn sie physische Realität wiedergeben und enthüllen“, sie entsprechen dem Medium „in dem Maße …, in dem sie die Welt vor unseren Augen durchdringen,“ heißt es auf den ersten Seiten.
Aus der Beschreibung dieser Eigenheiten entwickelt Kracauer normative Schlüsse und einen kritischen Maßstab: Filme würden genau dann „Anspruch auf ästhetische Gültigkeit erheben können, wenn sie sich ihren Grundeigenschaften gemäß verhalten; das heißt, sie müssen … physische Realität wiedergeben und aufdecken.“ Die realistische Tendenz im Kino war für ihn der formgebenden Tendenz überlegen, diese sollte sich nicht über jene erheben, „sondern sich schließlich ihr einordnen.“ Denn als einzige Kunst, „die ihr Rohmaterial mehr oder weniger intakt läßt“, entspringt die wirkliche Filmkunst „der Fähigkeit ihrer Schöpfer, im Buch der Natur zu lesen.“ Dieses Buch der Natur hatte für Kracauer nichts mit Blumen und Wiesen zu tun, sondern war Synonym für jene „physische Realität“, der der Film unabänderlich zustrebt, ja die er aus einer eigenen, neuartigen Perspektive in den Blick zu bekommen verspricht.
Damit mussten sich zwei Arten von Filmen als tendenziell „unfilmisch“ verunglimpft sehen, die in heutigen Debatten häufig gegeneinander ausgespielt werden: der „Kunstfilm“ und der „Message-Film“. Kracauer wehrte sich einerseits gegen die Vorstellung, dass in der möglichst eigenwilligen künstlerischen Stilisierung der ästhetische Wert eines Films steckt: „Der Begriff ‚Kunst‘ läßt sich seiner festgelegten Bedeutung halber nicht auf wirklich ‚filmische‘ Filme anwenden – das heißt Filme, die sich Aspekte der physischen Realität einverleiben, um sie uns erfahren zu lassen. Dennoch sind sie es und nicht die an traditionelle Kunstwerke erinnernden Filme, die ästhetisch gültig sind.“ Andererseits bricht sich in der „Theorie des Films“ eine Skepsis gegenüber Filmen Bahn, die gerade nicht durch die Form bestimmt werden, sondern durch einen Inhalt, der der aufgezeichneten und aufgedeckten physischen Realität äußerlich ist. Eine Skepsis gegenüber Filmen also, denen man ihren „geistigen Ursprung“ anmerkt. Filme, schreibt Kracauer, „scheinen um so filmischer zu sein, je weniger sie sich direkt auf inwendiges Leben, Ideologie und geistige Belange richten.“ In zugespitzter Form: „Begriffliches Denken ist ein filmfremdes Element.“
Jene Filme, die ich in meinem Auftaktessay unter dem Schlagwort der „politischen Anklageschrift“ gefasst habe – „subtil nur zum Schein, eigentlich immer lesbar, vor allem übersetzbar in einen entsprechenden politischen Diskurs“ – lassen sich mit Kracauer also noch präziser kritisieren. Ihr physisches Rohmaterial scheint als bereits verarbeitetes eingespeist zu sein, anstatt dass es „intakt bleibt wie auch transparent gemacht wird“. Diesen Filmen sind ihre geistigen Ursprünge so deutlich anzumerken, dass ihre einzelnen Elemente die für Kracauer so wichtige Unbestimmbarkeit und Vieldeutigkeit verlieren. Erst diese nämlich könnten „eine Fülle verschiedener Stimmungen, Emotionen, unartikulierter Gedankengänge auslösen“, die Dinge selbst haben schließlich „eine theoretisch unbegrenzte Zahl psychischer und geistiger Entsprechungen.“
Ein noch immer wichtiger und stets legitimer Vorwurf gegen Filme mit sogenanntem politischem Anspruch lautet also: Sie streichen genau jene Unbestimmbarkeit heraus, die den Dingen nur im Kino zuteil kommt. Sie leiden an einer Krankheit, die Kracauer bei der Untersuchung des Theater- und Avantgardefilms diagnostiziert hat: Sie verwenden die materiellen Phänomene „nicht in deren eigenem Interesse, sondern in der Absicht, ein sinnvolles Ganzes zu etablieren; und indem sie irgendein solches Ganzes herausstellen, verweisen sie uns von der materiellen Dimension zurück auf die der Ideologie.“
Der Begriff der Ideologie allerdings verweist auf eine zweite Kracauer’sche Perspektive auf Film, die im Folgenden zu klären sein wird. Und er verweist auf ein Problem. Schließlich ist die Vorstellung eines objektiven, ideologiefreien, offenen Blicks auf physische Realität in den letzten Jahrzehnten nicht ganz zu Unrecht in Verruf geraten. Selbst dort, wo ein Film nur „im Buch der Natur“ zu lesen scheint, bleibt die Frage: Wie ist dieses Buch beschaffen, und wer liest da in ihm?
Die politische Perspektive: Die Welt, in der wir leben
Kracauers Analyse des Films als Schlüssel zu einer „geheimen“ oder „psychologischen“ Geschichte verdankt sich einer Perspektive aufs Kino, die mehr gemeinsam hat mit der seit der Jahrtausendwende angesagten Affekttheorie als mit dem etwas angestaubten Begriff der Ideologiekritik. In der „Theorie des Films“ geht Kracauer davon aus, dass „Filmbilder ungleich anderen Arten von Bildern vorwiegend die Sinne des Zuschauers affizieren und ihn so zunächst physiologisch beanspruchen, bevor er in der Lage ist, seinen Intellekt einzusetzen.“
Die Affekttheorie ist nun keine, die sich dem reinen Affekt, dem filmischen Affekt, dem befreienden Affekt zuwendet, sondern eben dem politischen. So spricht Kracauer dem Film eine große Bedeutung für die Propaganda zu. Diese müsse, um wirksam zu sein, „ihre Überzeugungskraft durch Einflüsterungen und Anreize verstärken, die imstande sind, nicht so sehr den ‚Kopf‘ als die ‚Bauchmuskeln‘ zu beeinflussen.“ Denn „wer geneigt ist, an eine Idee zu glauben, mag sie vom Intellekt her ablehnen und doch unter dem Druck unbewußter Triebkräfte … gefühlsmäßig akzeptieren.“
Was in der „Theorie des Films“ sich vorwiegend auf den Propagandafilm im engeren Sinne bezieht, weitet sich in Kracauers Studie „Von Caligari zu Hitler“ aus. Hier hat Kracauer solche Filme untersucht, die nicht klassische Propaganda betreiben, sondern vielmehr gerade aufgrund ihrer scheinbar unpolitischen Form die „inneren Dispositionen des deutschen Volkes“ am Vorabend des Nationalsozialismus aufzudecken vermögen. Die Vorherrschaft bestimmter erzählerischer und bildlicher Motive im deutschen Film der 1920er- und 1930er-Jahre kennzeichnet diese „als äußere Projektionen innerer Bedürfnisse.“ In der Einleitung schreibt Kracauer so über das Kleinbürgertum der Weimarer Republik: „Ihre Kapitulation vor den Nazis beruhte mehr auf emotionalen Fixierungen als auf Einschätzung der wirklichen Lage.“ Damit ist Kracauer nicht nur einer der frühesten Theoretiker der Affektpolitik, sondern auch früher Vertreter einer politischen Analyse, die Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem zehn Jahre später erschienenen „Anti-Ödipus“ in Anlehnung an Wilhelm Reich so formulieren: „Nein, die Massen sind nicht getäuscht worden, sie haben den Faschismus in diesem Augenblick und unter diesen Umständen gewünscht.“
Zwischen dem Erscheinen der „Theorie des Films“ 1960 und des „Anti-Ödipus“ 1970 hat sich jedoch Entscheidendes zu verschieben begonnen. Der soziale und kulturelle Aufstand schwarzer, feministischer, queerer Bewegungen gegen weiße und heteromännliche Herrschaft, der in den 1960er-Jahren endgültig ausbricht, greift nicht nur die Herrschenden an, sondern auch die Prämissen dieser Herrschaft. Die einst einigermaßen klar bestimmbar scheinenden Grenzen zwischen Wissen und Ideologie, zwischen Wahrheit und Täuschung, beginnen dort zu verschwimmen, wo Wissen und Wahrheit als Technologien komplexer Machtregime entzaubert werden. Das, was Kracauer in seinen Schriften der 1920er- und 1930er-Jahre noch als recht homogene „bürgerliche Ideologie“ aus den Unterhaltungsfilmen der Zeit herausliest, differenziert sich dabei auch in Bereiche aus, die man heute mit dem Label der Identitätspolitik benennt. Die unbewussten Einstellungen, denen Kracauer im Kino auf den Grund gegangen ist, sind nicht mehr nur in jenen kleinbürgerlichen Dispositionen zu suchen, die klar auf den Faschismus der 1930er-Jahre hinsteuern, sondern auch in kolonialrassistischen, in heterosexistischen, in allerlei anderen Reinheits-Fantasien.
Mit dieser Ausdifferenzierung der Herrschaftskritik geht auch eine buchstäbliche Pluralisierung vermeintlich universeller Positionen einher, die an Kracauers Filmtheorie einige Fragen stellt. Wenn also Kracauer dem Kino im historischen Teil seiner „Theorie des Films“ die Aufgabe zuspricht, seinen Zeitgenossen angesichts des Schwindens der Gewissheiten zur Mitte des 20. Jahrhunderts keine neue Ideologie, sondern schlicht „die Welt, in der wir leben“ finden zu lassen, nämlich „indem wir sie mittels der Kamera zu erfahren suchen“, dann stellt sich jene Frage, von der sich das deutsche Feuilleton so gern provozieren lässt: Wer ist denn dieses „Wir“? Wenn Kracauer „die Erfahrung von Dingen in ihrer Konkretheit“ als Heilmittel gegen die Abstraktheit der Wissenschaft in Stellung bringt, dann würde man nur wenige Jahre später fragen: Wessen Erfahrung? Wer ist das Subjekt dieser Erfahrung?
Und wenn Kracauer im Abschnitt „Der Fluß des Lebens“ die Qualität wahrlich filmischer Filme darin sieht, dass sie auf eine Realität hindeuten, „die passenderweise ‚Leben‘ genannt werden mag“, dann mag man nochmals an Lorraine Hansberrys Ausruf denken, der sich ebenfalls um das Problem der universellen Erfahrung dreht: „Leben? Fragt diejenigen, die von ihm nur in vom Feind zugeteilten Rationen gekostet haben.“ Um zum Leitfilm zu kommen: Der Fluss des Lebens in „Lovers Rock“ ist umstellt. Wie und auf welche Weise das Leben in welche Richtungen fließt, das hängt eben von den Umständen, der Perspektive, der Positionierung innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung ab. Die soziale Realität bestimmt die je spezifische Erfahrung der physischen mit.
Dass diese Relativierung mehr als ein akademischer Move ist, lässt sich etwa in James Baldwins Essay-Band „The Devil Finds Work“ lernen, in der sich der Autor an prägende Kino-Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend erinnert. So schreibt Baldwin über eine Aufstandsszene im Revolutions-Drama „Flucht aus Paris“: „Ich wusste nicht, wer diese Leute waren, oder warum sie auf den Straßen waren – aber sie waren weiß, und ein weißer Mob kann für einen schwarzen Jungen nichts Beruhigendes verheißen, selbst wenn er noch nicht sagen kann warum.“ D.W. Griffiths rassistischen Filmklassiker „Birth of a Nation“ nennt Baldwin die „ausgeklügelte Rechtfertigung eines Massenmords“, und nur weil der Film dies nicht zugeben könne, „sind wir einem verworrenen und absurden Plot ausgeliefert“.
Bei Kracauer taucht Griffith dagegen als Filmkünstler auf, dem dritten Kapitel „Die Darstellung physischer Realität“ ist ein Ausspruch von ihm vorangestellt: „Vor allem habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, die Menschen sehen zu lehren.“ Baldwin dagegen schreibt: „Man sagt, die Kamera könne nicht lügen, aber nur selten erlauben wir ihr, etwas anderes zu tun. Denn die Kamera sieht das, worauf man sie richtet: die Kamera sieht, was man sie sehen lassen will. Die Sprache der Kamera ist die Sprache unserer Träume.“ Kracauers in den 1920er-Jahren im Zuge seiner „Ladenmädchen“-Textreihe geäußerte Beschreibung von Filmen als „Tagträume der Gesellschaft, in denen ihre eigentliche Realität zum Vorschein kommt, ihre sonst unterdrückten Wünsche sich gestalten“, bekommt in Baldwins Filmtexten eine identitätspolitische Wendung. Diese Wendung ist kein Verrat am Film, sondern ganz im Einklang mit Kracauers affektanalytischem Programm. Sie fordert, die geheime Geschichte einer anderen Zeit zu schreiben.
Perspektivenwechsel: Der filmische Blick aufs Politische
Der Fall von D.W. Griffith, der die Menschen sehen lassen will und dabei Massenmord legitimiert, weist auf eine mögliche Unwucht im Verhältnis von Kracauers doppelter Perspektive auf Film hin. Denn manchmal scheint es, als entsprächen diesen beiden Perspektiven auch zwei Formen von Filmen: auf der einen Seite die wahrhaft filmischen, die selbst souveräne Kunstwerke sind, keine Geheimnisse über die Welt verraten, sondern das Wesen des Films zum Ausdruck bringen und uns dabei sehen lassen; auf der anderen Seite jene „Durchschnittsfilme“, die dem „Filmkritiker von Rang“ eine gänzlich andere Mission abverlangen: „die [in ihnen] versteckten sozialen Vorstellungen und Ideologien zu enthüllen und durch diese Enthüllungen den Einfluß der Filme selber überall dort, wo es nottut, zu brechen.“
So drängt mitunter die Ideologiekritik zu Durchschnittsfilmen, und die ästhetische Kritik zu wahrhaft filmischen, als hätten erstere keinen ästhetischen Wert, als hätten letztere kein Gesellschaftsbild. Dabei entsagt Kracauer selbst einer solchen Trennung, wenn er im Hinblick auf den deutschen Expressionismus gerade die formverliebte Rezeption kritisiert, eine „im wesentlichen ästhetischen Literatur“, die Filme behandelte, „als seien sie autonome Strukturen“. Die politische Cinephilie würde sich genau an dieser Stelle bei Kracauer unterhaken, die ästhetische Literatur über angeblich autonome Werke links liegen lassen, und neue Verknüpfungen suchen.
Denn filmische Filme, schreibt Kracauer, „können sehr wohl in die Dimension der Ideologie hineinreichen.“ Die Bedingung dafür: dass die Bewegung nicht, wie in der Kunst, von oben nach unten, sondern, wie das Kino, von unten nach oben geht: „Wenn sie dem Medium gemäß sind, werden sie nicht von einer vorgefaßten Idee zur materiellen Welt herabsteigen, um diese Idee zu erhärten; umgekehrt, sie beginnen damit, physische Gegebenheiten auszukundschaften, und arbeiten sich dann in der von ihnen gewiesenen Richtung nach oben, zu irgendeinem Problem oder Glauben hin.“ Die Analyse struktureller Gewalt und die Ästhetik des Kinos schließen sich nicht aus, im Gegenteil: Politische Strukturen gehen durch Körper hindurch, und alles, was das Kino sagen will, muss durch Körper hindurch. „Geleitet vom Film, nähern wir uns also den Ideen, wenn überhaupt, nicht länger auf Straßen, die durch die Leere führen, sondern auf Pfaden, die sich durchs Dickicht der Dinge winden.“
Dieser Idee eines Kinos, das das Politische nicht voraussetzt, sondern sich erarbeitet, entspricht ein filmischer Blick aufs Politische, den ich bei Autorinnen wie Kathleen Stewart und Lauren Berlant finde. Wenn Kracauer das Potenzial des Kinos darin sieht, dass „wir das sich uns entziehende Wesentliche im Leben nur dann zu ergreifen vermögen, wenn wir uns das scheinbar Unwesentliche einverleiben“, dann scheint damit nämlich genau jene Dimension adressiert, die Stewart und Berlant als das eigentliche Material der (affekt-)politischen Analyse erkennen.
So erklärt Berlant in „Cruel Optimism“ ihre Methode folgendermaßen: „Es geht darum, die Allgemeinwerdung singulärer Dinge aufzuspüren, diese Dinge greifbar zu machen, indem man ihre Resonanz in unterschiedlichen Kontexten verfolgt, auch in nicht-verbalen Handlungen wie Gesten.“ Und Stewart schreibt in „Ordinary Affects“: „Strukturen wachsen in ihren Verwurzelungen, Identitäten nehmen Platz, Wege des Wissens werden mir nichts, dir nichts zu Gewohnheiten. Aber die gewöhnlichen Affekte geben den Dingen die Eigenschaft eines Etwas, das bewohnt und beseelt werden kann.“
Bei Kracauer klingt es ganz ähnlich: „Wenn man für einen Augenblick artikulierte Glaubensinhalte, ideologische Ziele, besondere Unternehmungen und dergleichen beiseite läßt, so bleiben immer noch die Sorgen und Befriedigungen, Zwiste und Feste, Bedürfnisse und Bestrebungen, die der Tag mit sich bringt. Als Produkte von Gewohnheiten und mikroskopisch kleinen Wechselwirkungen bilden sie ein elastisches Gewebe, das sich nur langsam ändert, das Kriege, Epidemien, Erdbeben und Revolutionen überlebt. Filme tendieren dazu, dieses Gewebe des täglichen Lebens zu entfalten, dessen Komposition je nach Ort, Volk und Zeit wechselt.“
Weil Kracauer, Berlant und Stewart damit eine ganze Welt unterhalb der üblichen politischen Begriffe mobilisieren und politisieren; weil sie Menschen nicht per se zu Handlangern machtvoller Strukturen machen, sondern fragen, warum diese Strukturen lebbar sind und wie sie gelebt werden; weil sie, wie das Kino, der Agency Vorrang geben, diese Agency aber nicht mit dem Individuum verwechseln, sondern im Sozialen verstreut auffinden; deshalb nenne ich diese Perspektive einen filmischen Blick auf das Politische. Filmen gleich, bringen sie das Politische in Bewegung.
Mit Deleuze und Guattari wiederum ließe sich das, was dieser Blick fokussiert, als das „Molekulare“ bezeichnen. Im Molekularen finden die beiden in ihren „Tausend Plateaus“ „eine Mikropolitik der Wahrnehmung, der Empfindung, des Gesprächs“, und der Faschismus ist ihrer Ansicht nach, und hier scheint Kracauer durch, „untrennbar mit molekularen Unruheherden verbunden, die sich rasch vermehren und von einem Punkt zum nächsten springen, die sich in Interaktion befinden, bevor sie alle gemeinsam im nationalsozialistischen Staat widerhallen.“ Irgendwo in der Analyse dieses Molekularen, irgendwo in den gewöhnlichen Affekten, irgendwo in dem elastischen Gewebe der Bedürfnisse und Bestrebungen, irgendwo ganz weit unten oder ganz weit oben steckt der Gegenstand politischer Cinephilie. Ihr Antrieb ist ein Ethos.
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Wenn Walter Benjamin über den Faschismus gesagt hat, dass er „die Massen zu ihrem Ausdruck“, aber „beileibe nicht zu ihrem Recht“ kommen lässt, dann scheint es mir Aufgabe des Kinos, sich nicht als Sprachrohr des Ausdrucks vereinnahmen, sondern die Menschen zu ihrem Recht kommen zu lassen. Und diese Aufgabe erfüllt es umso besser, je stärker es sich aufs Filmische, durchaus im Sinne Kracauers, verlässt, je weniger es glaubt, für jeden politischen Gedanken gäbe es eine entsprechende filmische Szene, oder ein Bild.
Diese Aufgabe habe ich in meinem Ausgangs-Essay auch bei Girish Shambu gefunden, der ebenfalls für eine Politisierung der Cinephilie plädiert: „Jedes cinephile Sprechen, Schreiben, Zitieren und Kuratieren ist zugleich eine Handlung, die in eine ungleiche Welt interveniert.“ Darin besteht die Alternative zur politischen Anklageschrift: Nicht zu fragen, was vermeintlich politische Filme sagen, welche Botschaft sie mit sich führen, und diese moralisch zu bewerten, sondern jeden Film zu fragen, was ihn antreibt, was sein Begehr ist, dieses Begehren unter die affektpolitische Lupe zu nehmen. Eine bloße Fetischisierung des Affekts ohne diese Lupe hätte einem neuen Faschismus nichts entgegenzusetzen. Und die Zukunft des Kinos, die Tanzfläche in „Lovers Rock“, ist nicht zu trennen von der Zukunft der Welt, vom Garten und der Straße.
Alle Beiträge des Blogs „Im Affekt“ von Till Kadritzke sowie viele andere Texte, die im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums in früheren Jahren entstanden sind, finden sich hier.