Die 56. Solothurner Filmtage widmen sich unter anderem auch der Zukunft der Filmkritik. Unter dem geflügelten Titel „Eloge de la critique“ geht es um die künftige Rolle filmkritischer Auseinandersetzungen mit Filmen und anderen Formen bewegter Bilder, online und digital, wie auch das gesamte Festival nur als „Home Edition“ ohne physische Präsenz von Filmen und Publikum veranstaltet wird.
Unter dem Titel „Lob
der Kritik“ widmen sich die 56. Solothurner Filmtage (20.-27.1.2021) mit einem
Themenschwerpunkt der (Film-)Kritik. Das passiert zu einem Zeitpunkt, an dem
die Filmtage durch äußere Umstände als „Home Edition“ ausschließlich online und
digital stattfinden und die klassische (Film-)Kritik infolge von digitaler Wende,
Globalisierung sowie einer jahrelang marktwirtschaftlich befeuerten Medienkrise
im Abgrund zu verschwinden droht. Auf den ersten Blick mutet das anachronistisch
an; auch ließe sich das im Titel anklingende „Lob“ dieser Kritik, das im
Französischen zur „Eloge de la critique“, also zur Lobrede wird, leicht zynisch
(miss-)verstehen. Doch von Seiten der Veranstalter ist das nicht so gedacht. Im
Gegenteil. Man sei bei den vorbereitenden Gesprächen immer schnell beim Klagen gelandet,
verrät der mit der Programmierung betraute Hannes Brühwiler. Doch der Schwanengesang
der (klassischen) Filmkritik – real messbar am Schwund von Beiträgen in Print-
und anderen Medien, die sich der Auseinandersetzung mit einzelnen Filmen und
filmischen Themen widmen – sei in den letzten Jahren zu oft schon angestimmt
worden.

In Solothurn will man das Blatt deshalb wenden und den Blick in die Zukunft richten. Hin zu einer Kritik, die als (profunde) Auseinandersetzung mit dem Medium Film oder einzelnen Filmen unterschiedlichste Formen annehmen kann. Es soll nach der Rolle gefragt werden, die dieser Auseinandersetzung in der heutigen Gesellschaft zukommen könnte, die wie keine je zuvor von audiovisuellen Medien bestimmt wird. Zu fragen sei überdies nach Impulsen, damit diese Auseinandersetzung eine gewisse Nachhaltigkeit entfaltet.
Wie umfänglich man in Solothurn dieses Feld versteht, verdeutlicht das dazugehörige Filmprogramm, das die online stattfindenden Gesprächs- und Diskussionsveranstaltungen befeuern soll. Es ist äußerst bunt gemischt und lotet formal die Grenzen des Filmischen aus; keines der sechs gezeigten Werke setzt sich dabei mit dem Beruf des Kritikers im herkömmlichen Sinne oder dessen Darstellung im Film auseinander.
Filme durch Filme kritisieren
Ausgehend von Jacques Rivettes pointiertem Diktum, dass die einzige wahre Kritik eines Films nur ein anderer Film sein könne – hat man das Augenmerk auf Filme gerichtet, welche die Auseinandersetzung mit dem eigenen Medium sozusagen implizit suchen. Ein Paradebeispiel ist das Videoessay „Forensickness“ von Chloé Galibert-Laîné, in dem die Regisseurin beim Versuch, den Film „Watching the Detectives“ (2017) von Chris Kennedy zu analysieren, in die Untiefen des Internets eintaucht und sich in der schieren Unmenge der nach dem Anschlag von Boston produzierten Bildern zu verlieren droht. In eine ähnliche Richtung geht das Filmessay „Fluchtweg nach Marseille“ (1978) von Ingemo Engström und Gerhard Theuring, das eine Verfilmung von Anna Seghers’ Roman „Transit“ und zugleich ein Making-of davon ist; auf einer weiteren Ebene wird die Form des gängigen Geschichtskinos hinterfragt.

Als in Herangehensweise und Machart miteinander verwandt erweisen sich „Los Angeles Plays Itself“ (2003) von Thom Andersen und Mark Cousins’ „Women Make Film“ (2019), die mit Ausschnitten aus bestehenden Filmen gewisse Aspekte und Themen der Filmgeschichte aufbereiten. Während Thom Andersen sich mit Hollywood als Schauplatz von Filmen beziehungsweise der Geschichte der Darstellung Hollywoods in Hollywoodfilmen beschäftigt, präsentiert Mark Cousins in seinem als „A New Road Movie Through Cinema“ deklarierten Film 130 Jahre Film- und Kinogeschichte anhand von Werken, die ausschließlich von Frauen stammen, und ringt den Gegenstand dabei erfrischend neue Blickwinkel ab.
Mit „Goodbye Dragon Inn“ (2003) von Tsai Ming-Liang und „Grandeur et décadence d’un petit commerce de cinéma“ (1986) von Jean-Luc Godard ergänzen zwei Spielfilme das Fokus-Filmprogramm. Tsai Ming-Liang beobachtet die letzte, nur von wenigen Zuschauern besuchte Vorstellung eines Kinos, das danach für immer schließt, und erforscht dabei auch die Räume und Gänge des Kinos, während Godard von den Kinofilm-Träumen eines in die Jahre geratenen Filmregisseurs erzählt, der sich fürs Fernsehen zu arbeiten gezwungen sieht.
Wie lässt sich das Kino neu denken?
Parallel zu diesen
Filmen finden eine Reihe von Online-Veranstaltungen – Gespräche,
Diskussionsrunden, Panels und Masterclasses – statt, die den angesprochenen
Themen und Ansätzen folgen und den dadurch angestoßenen Diskurs zugleich
ausweiten. So unterhalten sich der Filmkritiker Georg Seeßlen und die
Filmkritikerin Denise Bucher mit dem Verleiher David Fonjallaz über
„Post-pandemische Filmkritik“ und Tendenzen und Entwicklungen, die zwar schon
länger existieren, aber durch den Ausbruch der Corona-Pandemie beschleunigt
wurden. In einer anderen Veranstaltung ( „Filmkritische Autorität?“) fragen der
Literaturwissenschaftler Johannes Franzen, der Filmkritiker Florian Keller und
die Filmkritikerin Hannah Pilarczyk, ob und wie neue filmkritische Autoritäten
das Schreiben und Sprechen und damit auch das Nachdenken über Filme verändern.
Und in einer schlicht „Im Kino“ überschriebenen Session diskutiert Hannes
Brühwiler mit Vertretern des Kollektiv „La clef revival“ aus Paris sowie Malve
Lippmann und Can Sungu vom „Sinema Transtopia“ aus Berlin über in jüngerer Zeit
entstandene Initiativen, die das Kino konzeptuell neu denken.

Was kann das Kino leisten, das vom Home-Streaming nicht geleistet wird? Welche Rolle kommt dem Kino als gesellschaftspolitischem Raum zu, in dem der Nährboden für filmkritisches Denken gelegt wird? Und werden Filmkritikerinnen und Filmkritiker künftig vermehrt oder vielleicht sogar ganz die Rolle von Kuratorinnen und Kuratoren hineinrutschen? Das auf diese Weise abgesteckte Themenfeld präsentiert sich in großer Vielfalt und Weite – und weckt durchaus Erwartungen. Es könnte ja sein – oder bleibt zumindest zu hoffen –, dass nach Jahren des Niedergangs und nicht zuletzt befeuert durch die Pandemie auch für die Filmkritik spannende neue Zeiten anbrechen.
Hinweise
Die 56. Solothurner Filmtage finden vom 20. bis 27. Januar 2021 als Home-Edition ausschließlich
online und digital statt. Die dabei gezeigten Filme sind allerdings nur in der
Schweiz online zu sehen. Die Filme des Fokus Programms "Lob der Kritik" sind bis auf „Fluchtweg nach Marseille“ auf DVD/Blu-ray erhältlich; „Forensickness“ ist auf Vimeo zu finden
Die Online-Veranstaltungen der Filmtage sind (auch außerhalb der Schweiz) live auf Zoom zu verfolgen. Das genaue Programm und die Zoom-Links finden sich auf der Seite des Festivals.