Mit
„Diva“ gewann der französische Filmemacher Jean-Jacques Beineix 1981 den „César“
für das beste Erstlingswerk und begründete das französische „Cinéma du look“. Indem
er die Oberflächenreize des postmodernen Films mit emotionaler Tiefe verband,
prägte er das Kino der 1980er-Jahre wie kaum ein anderer, wurde von der
zeitgenössischen Kritik aber verschmäht. Nun ist Jean-Jacques Beineix nach
längerer Krankheit im Alter von 75 Jahren verstorben.
„Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ (1986), den dritten Film von Jean-Jacques Beineix, habe ich Anfang der 1990er-Jahre im Programmkino Atlantis in Mainz gesehen. Im Kinosaal nebenan lief ein Pornofilm. Heute heißt das Kino Palatin und ist von der Schließung bedroht. Die berühmte Eingangssequenz von „Betty Blue“, in der die Kamera unmerklich langsam auf das Bett zufährt, auf dem ein Mann und eine Frau Sex miteinander haben, wurde vom drastischen Stöhnen nebenan untermalt. Ein unvergessliches, weil skurriles Kinoerlebnis.
Emotionale Tiefe in Werbefilmästhetik
Die
Inszenierung der nackten Körper von Béatrice Dalle und Jean-Hugues Anglade, die mit „Betty Blue“ zu Stars avancierten, erinnerte zwar an
die Ästhetik einschlägiger Soft-Pornos, hatte aber eine andere Wirkung. Das
langsame Eindringen in den Raum des Intimen ist eine unwiderstehliche, weil
gekonnte Reflexion auf den Voyeurismus des Zuschauers (ähnlich wie die Fahrt
ins Schlafzimmer zu Beginn von Hitchcocks „Psycho“) und lässt
zudem die Leidenschaft der Liebenden körperlich spüren.
Doch schon in der nächsten Sequenz wechselt der Film von der avancierten Ästhetik der langen Einstellung mittels ausgefeilter Kamerabewegung in die schnelle Montage einer Werbe- und MTV-Ästhetik. Das künstlerische Programm des Films ist damit ausgelegt. Die Amour fou von Betty und Zorg, die sich am zunehmenden Wahnsinn Bettys reibt und schließlich im gewaltsamen und erlösenden Tötungsakt von Zorg kulminiert (er erstickt die in eine Psychiatrie eingelieferte Geliebte mit einem Kissen), verbindet emotionale Tiefe mit dem Oberflächenreiz von Bildern, deren Herkunft aus der Werbefilmästhetik unverhohlen zur Schau gestellt wird.
Als ich Anfang der 1990er-Jahre in Mainz Filmwissenschaft studierte, war Beineix bereits Filmgeschichte. In einem Seminar zum „Cinéma du look“ (Beineix, Besson und Carax) des damals als Experten des postmodernen Films bekannten Filmwissenschaftlers Jürgen Felix kam ich wieder mit „Betty Blue“ in Berührung. Ich lernte, Beineix in die Diskussion zum postmodernen Film einzuordnen. Sein aktueller Film war damals „IP 5 – Insel der Dickhäuter“ (1992). Ehrlich gesagt kann ich mich an diesen Film kaum erinnern. Beineix’ Schaffen in den 1980er-Jahren überstrahlt auch heute noch meine Erinnerungen. „Betty Blue“ genießt den Status eines Kultfilms. Sein Debüt „Diva“ ist zugleich ein Meisterwerk.
Die Opernsängerin und die Unterwelt
Der
am 8. Oktober 1946 in Paris geborene Beineix studierte zuerst Medizin. Schnell
wandte er sich aber dem Filmemachen zu und begann als Regieassistent bei Jean Becker und Claude Zidi. 1977 drehte er seinen ersten
eigenen Kurzfilm und wurde dafür für den wichtigsten französischen Filmpreis,
dem „César“, nominiert. Mit „Diva“ (1980) folgte ein paar Jahre
später sein erster abendfüllender Spielfilm. Beineix erzählt darin die
Geschichte des jungen Postboten Jules, der durch seine geheime
Kassettenaufnahme eines Konzerts der von ihm verehrten Opernsängerin Cynthia
Hawkins in kriminelle Machenschaften der Pariser Unterwelt verstrickt wird.
Stilsicher verbindet Beineix darin Elemente des französischen Gangsterfilms mit einer Reflexion über Original und Kopie, über die Aura des Augenblicks und die Ökonomie seiner Reproduktion. Der Postmoderne-Theoretiker Fredric Jameson widmete dem Film 1982 einen bekannt gewordenen Aufsatz (später unter dem Titel „Diva und der französische Sozialismus“ veröffentlicht). Die Stilisierung der Filmsprache verfolgt in „Diva“ nie einem Selbstzweck und bewegt bei aller Vieldeutigkeit im Rahmen einer spannenden Erzählung inklusive einer spektakulären Verfolgungsjagd. Die Ästhetik des „Cinéma du look“, die, so die Kritik, auf die visuelle Überwältigung des Publikums abzielt, hatte eine starke Tiefendimension.
Künstlichkeit auf die Spitze getrieben
Von diesem Pfad kam Beineix in seinem nachfolgenden Film „Der Mond in der Gosse“ (1983) deutlich ab. Die Stilisierung nahm Überhand, die Künstlichkeit der erzählten Welt wurde auf die Spitze getrieben. So enthusiastisch „Diva“ international gefeiert wurde, so massiv wurde sein Nachfolgewerk vor allem in Frankreich angegriffen. Mit „Betty Blue“ kehrte der Regisseur zu seinen Stärken zurück, wenngleich ihm in seiner sehr freien Adaption des ebenfalls berühmten Romans von Philippe Djian die Bilder gelegentlich ins allzu Kitschige entglitten. Dennoch kann ich mich auch heute noch nur schwer diesen perfekt komponierten Bildern mit der melancholischen Musik von Gabriel Yared entziehen. Und selbst die weiße Katze im Fensterrahmen übt weiter eine geheimnisvolle Faszination auf mich aus.
Beineix gelang es nie, seine Misserfolge, vor allem bei der Filmkritik in Frankreich, zu überwinden, weshalb er sich vom Filmemachen weitgehend zurückzog. Nach „IP 5 – Insel der Dickhäuter“ drehte er fast zehn Jahre keine Spielfilme mehr. Mit „Otaku“ realisierte er 1994 noch einen beachtlichen Dokumentarfilm über die virtuelle Welt. Sein Spielfilm-Comeback feierte er 2001 mit „Mortal Transfer“. Jean-Hugues Anglade war darin wieder in der Hauptrolle zu sehen. 2001 wurde der Film im „Panorama“-Programm der „Berlinale“ mit großer Spannung erwartet. „Mortal Transfer“ ist ein ebenso spannender wie rätselhafter Psychothriller, der mit ein paar Abstrichen an die frühen Kultfilme anschließt. Doch ein Erfolg war Jean-Jacques Beineix auch mit seinem letzten Spielfilm nicht mehr beschieden. Er verabschiedete sich vom Kino, schrieb seine Memoiren, veröffentlichte zwei Comics und inszenierte noch einige Dokumentarfilme fürs Fernsehen. Am 13. Januar 2022 starb er nach längerer Krankheit in Paris.