Der gebürtige Georgier Alexandre Koberidze hat schon während seines Studiums an
der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin international von sich reden
gemacht. Sein Abschlussfilm „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ (seit
7. April im Kino) über eine Liebesgeschichte unter magischen Vorzeichen gewann
im Berlinale-Wettbewerb 2021 den Preis der Filmkritiker und erhielt zahlreiche
weitere Ehrungen. Darin wie auch schon in „Lass den Sommer nie wieder kommen“
(2017) erweist sich Koberidze als Filmemacher, der das Kino als Raum
unendlicher Möglichkeiten betrachtet.
Beim 1984 in Tiflis, Georgien,
geborenen Alexandre Koberidze erwähnen diejenigen, die über ihn schreiben oder
sprechen, oft, dass er ein junger Filmemacher sei. Sie betonen das
wahrscheinlich, weil seine zwei bisherigen Langfilme, „Lass den Sommer nie wieder kommen“ und „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ so gebaut sind, als wären sie
schon immer da und fester Bestandteil der Filmgeschichte.
Der an der Deutschen Film- und Fernsehakademie
Berlin ausgebildete Filmemacher („Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ ist sein Abschlussfilm) gehört
zu jenen, die Filme drehen, weil sie in ihnen all das passieren lassen können,
was dem echten Leben abhandengekommen ist. Koberidze rächt sich gewissermaßen
an der Wirklichkeit, zumindest an der Nüchternheit, mit der wir normalerweise
auf diese blicken. Man könnte von Utopien oder Träumereien sprechen. So
zelebriert der Regisseur in seinem jüngsten Film das Fußballspielen, einen Sport,
so betont er in Interviews, für den er selbst geboren wäre, den er aber nie
professionell ausübte. Gleichzeitig lässt er in einer fiktionalen
Fußballweltmeisterschaft Superstar Messi den Titel holen, der ihm im
tatsächlichen Leben bisher verwehrt blieb, und filmt spielende Kinder mit der
gleichen Zeitlupengeste begleitet von Gianna Nannini
und Edoardo Bennato, in der einst den größten Stars des Sports gehuldigt
wurde. Sein Kino glaubt hier frei nach Paul Éluard an eine andere Welt, die
sich in der, die wir kennen, befindet.
Koberidzes märchenhafte Narrative, die
stets von einem Voice-Over begleitet werden, lassen ihn stellenweise wie einen
Erzähler aus längst vergangenen Tagen erscheinen. Gleichzeitig überfrachtet er
seine Filme derart mit formalen, narrativen und tonalen Kniffen und Spleens,
das diejenigen, die das wollen, darin ein Zeichen seiner Jugend erkennen mögen.
Das Kino als Raum mannigfacher Möglichkeiten wird ausgereizt. Bereits in seinem
Kurzfilm „Colophon“ arbeitete er
mit Zwischentiteln, Märchenstrukturen und einer Romantik, die man so eher aus
Stummfilmen kannte. Es ist zugleich unmöglich und äußerst leicht, seine Plots
zu beschreiben. Es geht um unvorhergesehene Begegnungen, die Liebe, das
Schicksal, die Träume und all das, was an den Rändern aufleuchtet. Magie ist
Teil der Wirklichkeit und wird so hingenommen, wie ein Wind, der durch die
Straßen fegt.
Koberidze interessiert sich nicht für
Hierarchien im Erzählen. Eine Blumenvase auf dem Tisch bekommt die gleiche
Bedeutung wie Straßenhunde oder ein Kuss. Aus seinen Filmen spricht die
Sehnsucht nach einer Intensivierung des Lebens. Alles soll endlich wieder etwas
bedeuten. Das erinnert an die Wahrnehmung von Kindern und ist vielleicht das
größte Kompliment, das man diesen Filmen machen kann.
In einem frühen Text beklagte der
französische Filmemacher und Kritiker Jacques Rivette einmal,
dass das Kino seine Unschuld verloren habe. Er spielte dabei unter anderem auf
den Verlust der Geste als filmisches Ausdrucksmittel nach Einführung des
Tonfilms an. In mancher Hinsicht arbeiten die an Stummfilmgrammatiken
geschulten Arbeiten Koberidzes daran, diese Unschuld zurückzugewinnen. Sein
Kino trachtet danach, die Dinge zum ersten Mal zu sehen. Verzaubert,
gegenwärtig. Ganz so unschuldig sind die Filme aber nicht, dazu kokettieren sie
viel zu sehr mit der eigenen Metaebene und Querverweisen auf die Film- und
Literaturgeschichte.
In seinen beiden Langfilmen kommt der
georgischen Stadt Kutaissi eine besondere Rolle zu. Man kann „Lass den Sommer nie wieder kommen“ und „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ wie Zwillinge betrachten, die an
verschiedenen Tagen, mit unterschiedlichen Kameras an den Ufern des Rioni
spazieren. Früher nannte man solche Filme Stadtsymphonien, aber Koberidze lässt
eigentlich keine Zuschreibungen zu. Aus jeder Schublade, in die man ihn stecken
möchte, bringt er ein neues Element seines Kinos hervor: ethnographische
Studien, Romanzen, experimentelle Essays, Märchen, Komödien. Es sind einfach
Filme, das muss man erstmal akzeptieren.
Diese „einfachen“ Filme erscheinen wie
das ungebremste Brainstorming eines Poeten. Das ist ein schwieriges Wort. Was
ist schon ein Poet? Koberidze balanciert entlang der höchsten und billigsten
Bedeutungen dieses Begriffs. Hoch, weil die Intelligenz und Empathie seiner
Filme sich jederzeit in seinen formalen Ansprüchen findet. Billig, weil manche
Regieentscheidung nicht von einer bloßen Geste, einem poetischen Effekt zu
unterscheiden ist. So neigt sich seine Kamera auf die Füße wie in einem Film
von Bresson oder er adressiert das Publikum direkt im Voice-Over
oder per Zwischentitel. Er müht sich um Ausdruck und lässt diesen
zärtlich-verspielt durch sich fließen. In Koberidzes Filmen vermittelt sich das
Gefühl, dass der Filmemacher noch träumt, während wir seine Bilder sehen.
Produziert wurde „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“
übrigens von Luise Hauschild und Mariam Shatberashvili
und ihrem „New Matter Films“. Da die beiden Produzentinnen sowie Julian Radlmaier, ein enger Vertrauter, in dessen Filmen Koberidze immer
wieder tragende Rollen spielt, ebenfalls an der dffb studierten, liegt es nahe,
dass bald irgendwer eine neue Welle im deutschen Kino ausruft. Die
georgisch-deutsche Welle, die mit dem Diktat des Realismus bricht. Oder so
ähnlich.
Magie
greift über auf die Wirklichkeit
Die Magie greift über auf die
Wirklichkeit und vom Format (in „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ wechselt er zwischen analog und
digital, während er sich in „Lass den Sommer nie wieder kommen“ im wunderschönen Pixelsumpf
ertränkt) über das Titel- und Schriftdesign, die Sprache, den Schnitt, die
Bilder, die Musik (in „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ komponiert von seinem Bruder
Giorgi) bis zum Ton ist nichts vor einer ironischen oder berührenden Geste
sicher. Dabei vertraut der Filmemacher auf einen rhythmischen Wechsel zwischen
Nahaufnahmen und Totalen, sein Blick ist neugierig und abschweifend zugleich.
Er ist abschweifend, gerade weil er neugierig ist. In seiner Kurzdoku „Linger
on Some Pale Blue Dot“ (zu sehen auf der Website der dffb)
zelebriert der Filmemacher sein avanciertes Spiel mit Dekadrierungen, in dem
gerade die Tatsache, dass wir nicht das sehen, was wir gewohnt sind (Gesichter,
Establishing Shots), hilft, dass wir etwas sehen, was uns sonst entgeht.
Dass das Filmmagazin „Cinema-Scope“ Koberidzes
Debütfilm kürzlich als Film des vergangenen Jahres würdigte, ist ein
Ritterschlag, arbeitet deren Chefredakteur Mark Peranson doch entscheidend am Geschmackssinn
internationaler Festivals. Es lässt sich nicht leugnen, dass „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ wie maßgeschneidert in die derzeitige Festivallandschaft und
zu Streaminganbietern wie Mubi passt. Die dort vorherrschende Dominanz künstlerischer
Gesten gegenüber dem, was Helmut Färber als „das Kinematographische“bezeichnete,
also das schlichte Verhältnis vom Film zur Wirklichkeit, die er registriert,
ist frappierend. Es ist keine Zeit der Demut und Zurückhaltung im Kino.
Zumindest auf Festivals, denn von regulären Kinos, so hört man, wird sein Film
noch immer abgelehnt, weil er angeblich schwer zugänglich sei. Hinzu kommt,
dass Koberidze die so herrlich eigene, sich der digitalen Assimilation
widersetzende Ästhetik von „Lass den Sommer nie wieder kommen“ für seine jüngste Arbeit über
Bord geworfen hat. Noch reichen seine wilden Einfälle, um eine Unabhängigkeit
von den Mechanismen der Festivalindustrie zu behaupten, aber es wird spannend,
wohin ihn sein nächster Film, laut Aussagen wieder ein Märchen, trägt. Er ist
ja noch ein junger Filmemacher, und das ist unser Glück.