© barnsteiner-film (aus "Sharaf")

Zwischen Ohnmacht und Hoffnung - Samir Nasr

Ein Interview mit Samir Nasr über seinen Film „Sharaf“

Veröffentlicht am
11. Februar 2023
Diskussion

Der 1968 geborene deutsch-ägyptische Regisseur Samir Nasr arbeitete mehr als zwei Jahrzehnte daran, den Roman „Sharaf“ zu verfilmen. Sein Drama (seit 26.1. in den Kinos) erzählt von einem jungen Ägypter, der im Gefängnis landet und immer mehr von den diktatorischen Strukturen hinter Gittern verschlungen wird. Ein Gespräch über eine bleibend aktuelle Gesellschaftsparabel, Drehen auf gefährlichem Terrain, die wunden Punkte von Despoten, Ohnmacht und Hoffnung.


„Sharaf“ basiert auf dem Roman von Sonallah Ibrahim. Wie war der Weg vom Buch zum Film?

Samir Nasr: Sonallah Ibrahim ist nicht nur einer der ganz großen arabischen Schriftsteller, er war immer auch ein Stachel im Fleisch aller Systeme. Aus politischen Gründen war er schon unter Nasser über fünf Jahre im Gefängnis. Er ist eine der wirklich unbestechlichen Stimmen in Ägypten, der sich nie durch Preise und Auszeichnungen kaufen ließ. Legendär ist die Geschichte, als er 2003 den hochdotierten Staatspreis für den besten Roman bekommen sollte. Er ging auf die Bühne, um vor der ganzen kulturellen Elite Kairos seine Dankesrede zu halten, hat ihnen aber dann eine Wutrede entgegengeschmettert: Gegen das Regime, gegen die Ungerechtigkeit und gegen die Korruption. Am Ende hat er gesagt, er nehme diesen Preis nicht an, weil diese Regierung keine Glaubwürdigkeit habe, einen solchen Preis zu verleihen.

Das war noch unter Mubarak?

Nasr: Ja, das war noch unter Mubarak. Noch nie hatte jemand so etwas vor laufenden Kameras gewagt.

Wie kam es dann zur Zusammenarbeit?

Nasr: Ich habe das Buch direkt nach seiner Veröffentlichung 1997 gelesen und habe es sofort als Film gesehen. Aber erst nach meinem ersten Spielfilm „Folgeschäden“ fühlte ich mich fähig, diesen Roman zu verfilmen. Mit Sonallah Ibrahim habe ich mich auf Anhieb verstanden, aber er fragte mich: „Warum willst du dieses Buch verfilmen? Du hast doch keine Knast-Erfahrung.“ Ich antwortete, dass es zwar komplett im Gefängnis spielt, aber eigentlich das widerspiegelt, was außerhalb passiert: Das große Ganze, das in Ägypten seit vielen Jahren, durch die Wirtschaftskrise und die Unterdrückung, komplett aus den Fugen geraten ist. Aber immer wieder gibt es Nischen, in denen Menschen versuchen, eine Veränderung herbeizuführen. Der Roman hat das alles in sich drin, diese ganze Kakofonie, diese vielen Stimmen, diese unheimliche Mischung aus Härte, Gewalt, aber auch Zärtlichkeit und Humor. Irgendwann sagte Sonallah Ibrahim zu mir: „Sag mal, warum schreiben wir das Drehbuch eigentlich nicht zusammen?“ Das war für mich natürlich wahnsinnig toll, aber auch erschreckend, weil man Angst hat, dass ein Schriftsteller sehr an der literarischen Form festhält. Der Roman hat 550 Seiten, und er ist voller Geschichten und voller Figuren. Das musste man sehr stark verdichten. Nur ein Viertel der Figuren aus dem Roman hat es dann in den Film geschafft. Aber wir haben wunderbar zusammengearbeitet über viele Jahre.

Szenenbild aus "Sharaf" (© barnsteiner-film)
Szenenbild aus "Sharaf" (© barnsteiner-film)

Wie war die Produktionsgeschichte des Films?

Nasr: Wir haben zuerst versucht, den Film in Ägypten zu finanzieren. 2011 war die erste Drehbuchfassung fertig. In Gesprächen mit ägyptischen Produzenten hatte ich gemerkt, dass sie Angst hatten. Gar nicht einmal wegen der politischen, sondern wegen der kommerziellen Dimension des Stoffs: So eine Geschichte aus dem Knast, in der eigentlich gar keine Frauen vorkommen, sei doch irgendwie düster. Wir haben dann gesagt, dass es zwar düster und schwer ist, aber auch irgendwie humorvoll. Aber es war klar, dass wir den Film international finanzieren mussten.

Dann kam der arabische Frühling?

Nasr: Der hat uns wirklich überrascht! Unser Film sollte ein Schrei oder ein Statement gegen den Status quo in Ägypten sein. Gegen die Ungerechtigkeit und gegen die menschenunwürdigen Zustände. Als mit dem arabischen Frühling Mubarak aus dem Amt getrieben wurde, fragten wir uns, ob man diesen Film eigentlich noch braucht. Wir wollten nichts über ein vergangenes Regime machen. Das hat in Ägypten eine lange Tradition: Nachdem Nasser gestorben ist, gab es viele Filme, die die Nasser-Zeit total negativ zeigen, dann ist Sadat gestorben, und es gab die Anti-Sadat-Filme.

Filme eines zu späten Widerstandes?

Nasr: Ja, so einen Abrechnungsfilm wollten wir nicht machen. Aber dann merkten wir, dass sich die Zustände verschlechterten, nachdem 2013 das Militär wieder an die Macht gekommen war. Spätestens 2014 war klar, dass wir weiter machen würden. Jetzt war es natürlich politisch sehr viel schwieriger. Wir merkten, dass es in der Mubarak-Zeit doch verhältnismäßig viel Freiheit für den künstlerischen Ausdruck gegeben hatte. Es gab immer eine Zensur, es gab immer Einschränkungen, aber damals waren Filme möglich, die plötzlich nicht mehr möglich waren. Trotzdem bekamen wir für das Projekt 2016 noch eine Zensurfreigabe für das Drehbuch. Die braucht in Ägypten jeder Film, der dort gedreht wird oder dort im Kino laufen soll. Wir bekamen einige Auflagen, waren aber der Meinung, dass man damit leben konnte. Aber als 2019 endlich die Finanzierung stand, war diese Zensurfreigabe abgelaufen. Sie musste erneuert werden, aber wir bekamen einfach keine Antwort mehr. Das ist die neue Masche, denn wenn man eine Ablehnung bekommt, kann man dagegen juristisch vorgehen, so kann man nur warten. Es sollte von Anfang an eine deutsch-französisch-tunesisch-ägyptische Ko-Produktion sein, aber es war klar, dass dieser Film vom ägyptischen Staat nicht gewollt wird und wir uns auf gefährliches Terrain begeben, gefährlich auch für unsere ägyptischen Schauspieler und Teammitglieder.

Für ägyptische Schauspieler:innen wie die 1994 geborene Jala Hesham war der Dreh von "Sharaf" nicht ungefährlich (© barnsteiner-film)
Ägyptische Schauspieler:innen wie Jala Hesham gingen mit "Sharaf" Risiken ein (© barnsteiner-film)

So entstand „Sharaf“ außerhalb von Ägypten?

Nasr: Wir hatten sowieso vor, in Tunesien zu drehen. Da der Film komplett im Gefängnis spielt, war das kein Problem. Aber für mich macht es keinen Sinn, eine ägyptische Geschichte mit Schauspielern, die keine Ägypter sind, zu drehen. Kollegen von mir drehen Filme, die in Ägypten spielen, mit nicht ägyptischen Schauspielern in der Türkei. Wie zum Beispiel „Die Kairo-Verschwörung“ oder „Die Nile Hilton Affäre“. Bei dem israelischen Film „Die Band von nebenan“ hört jeder Araber nach den ersten zwei Sätzen, dass diese Menschen, die da die ägyptische Band spielen, keine Ägypter sind. Wenn man den Film für ein westliches Publikum macht, mag das noch gehen. „Sharaf“ ist aber in erster Linie ein Film für ein arabisches Publikum, das solche Filme vermisst und sie im Kino sehen möchte. Die Themen und die Gefühle, die in „Sharaf“ verhandelt werden, sind nicht rein ägyptisch, sondern betreffen die ganze arabische Welt. Es ist auch keine Geschichte, die nur eine Ära betrifft, keine Geschichte über Mubarak, über Ben Ali oder wie auch immer diese ganzen Despoten heißen. Denn das Problem in der arabischen Welt sind nicht die Despoten an sich, sondern die Systeme und die Strukturen. „Sharaf“ ist die Geschichte eines jungen Mannes, der in die Mühle dieses Systems geworfen wird und darin zerbricht.

Inwieweit spiegeln die Gewalt und die Korruption im Gefängnis die ganze Gesellschaft wider?

Nasr: Das Gefängnis zeigt wie unter dem Mikroskop, worum es auch in der ganzen Gesellschaft eigentlich geht: Um Korruption, Machtmissbrauch und um ein unheimliches Standesdenken. Das hat sich auch in Sharafs Kopf festgesetzt. „Sharaf“ ist das Drama einer Jugend, die wir nicht nur in Ägypten finden, sondern überall in der Dritten Welt. Junge Menschen, die Träume haben und die durch die Medien oder das Internet sehen, wie ein lebenswertes Leben aussieht. Das hat viel mit Konsum zu tun und mit einem Status, den sie wahrscheinlich nie erreichen, weil die Jobs und ihre Ausbildung sie nie so reich werden lassen, wie sie gerne wären. Sharaf sagt: „Okay, wenn ich jetzt schon im Gefängnis bin, dann will ich wenigstens zu den ‚Besseren‘ gehören!“ Aber dafür zahlt er einen hohen Preis.

Der Knast als Spiegelbild einer maroden Gesellschaft (© barnsteiner-film)
Der Knast als Spiegelbild einer maroden Gesellschaft (© barnsteiner-film)

Wie politisch ist „Sharaf“?

Nasr: Ich bin eigentlich Filmemacher geworden, weil ich mit vierzehn Jahren die Filme von Costa-Gavras, Sidney Lumet und später Francesco Rosi gesehen habe. Auch in Ägypten haben wir eine große Tradition des politischen Kinos. Für mich ist die entscheidende Frage: Wie schafft man es, über solche Filme, mit oft schwierigen, sperrigen Themen, den Menschen ein Gefühl zu vermitteln? „Sharaf“ vermittelt Ohnmacht, aber auch Hoffnung. Wenn man zum Beispiel einige Beziehungen der Häftlinge untereinander sieht, ist das anrührend. Oder dass es sogar in einem solchen System immer noch Menschen gibt, die Widerstand leisten und nicht aufhören, daran zu glauben, dass es besser wird. Diesen Wechsel von Licht und Schatten haben wir versucht im Bild umzusetzen, und unsere wunderbare Kamerafrau Darja Pilz hat immer gesagt, es sei eigentlich ein farbiger Film noir. Dieses Gefängnis ist kein naturalistisches Gefängnis. Der Zuschauer soll die Vielschichtigkeit sehen. Der Film hat ja zum Beispiel auch diese furchtbaren Szenen in den Toiletten. Wir verschönern ja nicht den Dreck, wir versuchen ja nicht zu erzählen, dass es eine heile Welt ist. Aber ich glaube eben, dass Licht und Ästhetik auch etwas über das Innere der Figuren erzählen. Und dass es in diesen Figuren auch faszinierende, warme und schöne Seiten gibt.

Wie wichtig ist die Szene mit dem satirischen Puppentheater im Film?

Nasr: Die Szene mit dem Puppentheater war für mich schon beim ersten Lesen des Romans wahnsinnig wichtig. Im Roman hat dieses Theaterstück hundert Seiten. Es erschien uns unmöglich, es auf vier Drehbuchseiten zu reduzieren. Aber dieses Theaterstück ist so wichtig, weil es ironischerweise auch davon erzählt, was uns Filmemachern oder überhaupt Künstlern in totalitären Regimen oft passiert. Das gilt nicht nur für den arabischen Raum. Überall dort, wo die Kunst der Macht und den Mächtigen und den Despoten Angst macht. Der Gefängnisdirektor beauftragt einen Häftling mit einem netten patriotischen Theaterstück, aber der legt ihn rein und schreibt das Theaterstück, das er schon immer machen wollte. Wichtig ist, dass es die Mächtigen nicht erwarten und dass es sie überrascht, aber so etwas bleibt nicht ungestraft.

Aber die Gefängnisregierung stürzt!

Nasr: Wir haben nicht versucht abzubilden, was in Ägypten passiert ist. Man kann natürlich Parallelen dazu sehen, dass der greise Gefängnisdirektor, der eigentlich sehr viel zugelassen hat, dann durch einen jüngeren, noch schärferen abgelöst wurde. Aber das ist ja auch eine Geschichte, die sich in vielen totalitären Systemen und Regimen immer wiederholt.

Was bleibt heute noch von der gescheiterten Revolution, vom arabischen Frühling?

Nasr: Faktisch ist sehr wenig geblieben, es gibt einen Rückschritt in vielen Bereichen des Lebens, besonders, was die Meinungsfreiheit und die politische Vielfalt betrifft. Was von der Revolution bleibt, ist der Traum. Der tiefe Glaube, dass es einen Wandel geben wird, auch wenn dieser Wandel noch auf sich warten lässt.

Samir Nasr (© Barnsteiner)
Samir Nasr (© Barnsteiner)

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