© Daniel Seiffert / Berlinale 2018

Das Kino - Ein Fest(ival)? Filmfestivals. Krisen, Chancen, Perspektiven

Montag, 13.02.2023 14:09

Das lesenswerte Buch „Filmfestivals. Krisen, Chancen, Perspektiven“ von Tanja C. Krainhöfer und Joachim Kurz analysiert gegenwärtige Trends und lotete neue Möglichkeiten der Filmkultur aus.

Diskussion

Die Corona-Pandemie hat die ganze Filmszene heftig durcheinandergewirbelt. Im Unterschied zu den Kinos gingen die Filmfestivals aber eher gestärkt aus der Krise hervor, weil sie mehr als alle anderen zum Um- und Neudenken gezwungen waren. Ein lohnenswertes Buch rekapituliert diese Entwicklung und lotet neue Möglichkeiten aus, die sich für die Filmkultur daraus ergeben.


Die Corona-Pandemie hat weltweit die Filmfestivallandschaft durcheinandergewirbelt. Notgedrungen mussten die Betreiber Festivals absagen, verkleinern, verschieben, ins Netz transferieren oder hybride Konzepte entwickeln. Doch der Zwang zum Um- und Neudenken hat auch viele neue Formate, Kooperationen und Ideen hervorgebracht, bei denen sich allerdings erst noch zeigen muss, ob und inwieweit sie tragfähig sind. Vor allem eine Frage dürfte die Festivalmacher noch einige Zeit beschäftigen: Macht es Sinn, neben dem physischen Programmangebot in Kinos dauerhaft eine zusätzliche Online-Schiene zu organisieren und zu finanzieren, etwa um weitere Publikumsschichten anzusprechen, die aus welchen Gründen auch immer nicht ins Kino kommen können oder wollen?

Angesichts eines fundamentalen Wandels der Medienlandschaft und tiefgreifenden Krisen wie dem Klimawandel oder wirtschaftlichen Turbulenzen infolge des Ukraine-Krieges stehen die Festivals vor weiteren Herausforderungen. Werden sie langfristig zu wesentlichen Trägern der Film- und Kinokultur, indem sie erodierende Kinostrukturen ersetzen? Welche Wege schlagen die Festivals ein, um flexibel auf aktuelle und künftige Krisen zu reagieren und sich fit für die Zukunft zu machen?

Mit solchen Fragen setzt sich das lesenswerte Buch „Filmfestivals. Krisen, Chancen, Perspektiven“ auseinander, das Tanja C. Krainhöfer und Joachim Kurz im Verlag edition text + kritik herausgegeben haben. Die Filmwissenschaftlerin Krainhöfer erforscht seit 2013 das weite Feld der Filmfestivals, der Journalist Kurz hat 2003 das Online-Portal Kino-zeit.de gegründet, das er als Herausgeber und Chefredakteur leitet.

Filmfestivals werden als Plattform für Filmkunst immer wichtiger, das gilt für Großveranstaltungen wie die Berlinale, aber auch die zahlreichen kleinen (© Richard Hübner / Berlinale 2014)
Filmfestivals werden als Plattform für Filmkunst immer wichtiger, das gilt für Großveranstaltungen wie die Berlinale, aber auch die zahlreichen kleinen (© Richard Hübner / Berlinale 2014)

Auf 387 Seiten beleuchten sie und weitere Autor:innen die deutsche Filmfestivallandschaft, liefern Datenmaterial, skizzieren Trends und zeigen Möglichkeiten von Transformation und Innovation auf. In einem Vorwort untersucht Georg Seeßlen den Zusammenhang zwischen Transformationen der Filmkultur und Filmfestivals und konstatiert: „Die Zukunft des Films als kritische Kunst ist mehr und mehr abhängig von einer entsprechenden Organisation von Festivals, also dem Zusammenspiel von Festival-Design, Programmarbeit und Kultur der Nachhaltigkeit“. Dies beziehe sich nicht nur auf „Flaggschiffe“ wie Berlin, Cannes oder Venedig, sondern auch auf kleinere und spezialisierte Festivals. Man könne daher von einer „Festivalisierung“ der Filmkultur sprechen. Am Ende gehe es sogar um eine „Theorie des Filmfestivals“.


Erfahrungen aus 17 deutschen Filmfestivals

Ein Großteil des Kompendiums besteht aus Artikeln von und Interviews mit Programmangebote vorstellen, von ihren Erfahrungen mit der Corona-Pandemie berichten und neue Formate und Konzepte erläutern. Das Spektrum reicht von größeren Veranstaltungen wie dem Filmfest Hamburg oder dem Film Festival Cologne über Festivals für bestimmte Formen und Altersgruppen wie den Kurzfilmtagen Oberhausen oder dem Deutsche Kinder Medien Festival Goldener Spatz in Erfurt/Gera bis hin zu Nischenangeboten wie dem Hamburg International Queer Film Festival und dem un.thai Film Festival in Berlin.

Die Lektüre lohnt sich. Auch Cineasten und eingefleischte Festivalfans können wertvolle Erkenntnisse gewinnen. Anders als befürchtet musste wegen der Corona-Krise kein Festival die Segel streichen. Im Gegenteil: Mitten in der Pandemie traten sogar Neugründungen ins Licht der Öffentlichkeit wie die Filmtage Oberschwaben in Ravensburg oder das 2River Filmfestival in Koblenz.

National wie international boomte der Festivalsektor allerdings auch schon vor der Pandemie. In Deutschland stieg die Zahl der Filmfestivals von 344 im Jahr 2013 auf 431 im Jahr 2019, ein Plus von 25 Prozent in nur sechs Jahren. Im Gleichschritt lockten die Festivals auch mehr Besucher:innen an. So ergab eine Studie über 22 österreichische Festivals, dass der Zuspruch des Publikums zwischen 2011 und 2015 um 19 Prozent geklettert sei.

Das Aufblühen der Festivals geht nach Einschätzung von Krainhöfer und Kurz allerdings mit einer Ausdünnung der deutschen Kinolandschaft einher. Sie verweisen darauf, dass die Zahl der Orte mit mindestens einem Filmtheater von 1071 im Jahr 2000 auf 905 im Jahr 2018 gesunken ist. Die Folge: „Filmfestivals bilden heute oftmals das wesentliche, wenn nicht das einzige kinokulturelle Angebot an einem Ort und seinem Umkreis. Damit leisten sie (…) vor allem in ländlichen Räumen oftmals eine kulturelle Grundversorgung.“

Jährlich das erste deutsche Filmfestival-Ereignis: Das Filmfestival Max Ophüls Preis (© Oliver Dietze)
Jährlich das erste deutsche Filmfestival-Ereignis: Das Filmfestival Max Ophüls Preis (© Oliver Dietze)

Besonders bedenklich ist der Umstand, dass die einst so starke Besuchergruppe der jungen Erwachsenen immer dünner wird. Diese Alterskohorte meidet zunehmend die Kinoleinwände. Nach Angaben der FFA bildeten die 20- bis 29-Jährigen gemeinsam mit den Senioren über 60 im Jahr 2019 die kleinste Gruppe in der Besucherstatistik. Dem düsteren Bild, das Krainhöfer und Kurz hier von der Zukunft des Kinos gerade auch angesichts der Dominanz der Streamingportale zeichnen, muss man allerdings entgegenstellen, dass auch die Bäume der Streaming-Giganten nicht mehr in die Himmel wachsen. Nicht nur bei Netflix zeigen sich erste Dellen in der Nachfrage. Und das Kino wurde wegen immer neuer scheinbar übermächtiger Konkurrenten schon viele Mal totgesagt; doch es lebt noch immer.


Corona und die Folgen

Krainhöfer stützt sich bei der detaillierten Beschreibung der deutschen Filmfestivallandschaft auf eigene umfangreiche Datenerhebungen seit 2013. Beim Darlegen der Forschungsmethodik verfällt die Autorin allerdings stellenweise in einen fachwissenschaftlichen Jargon.

Einen wichtigen Schwerpunkt widmet das Autorenteam den Reaktionen der Filmfestivals auf den Corona-Schock, der ab März 2020 monatelang die Kinos lahmlegte und damit auch die Festivals aus der Spur warf. Überraschenderweise erfanden sich viele schon nach wenigen Wochen sozusagen neu und entwickelten frische Formate und Konzepte, um Filmkultur online wie physisch in einer beachtlichen Vielfalt präsent zu halten und auch während des Lockdowns die Verbindung zwischen Filmschaffenden, Filmbranche und Publikum nicht abreißen zu lassen.

Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Berichte der Festivalmacher, die meist konkret und anschaulich aus der Innenperspektive berichten. Das betrifft vor allem die Schlüsselfrage nach einer Online-Schiene: Ja oder Nein. Volker Kufahl, der Chef des Filmkunstfests Mecklenburg-Vorpommern und selbst auch Kinobetreiber, stellte mit seinem Team im Mai 2020 unter dem Titel #filmkunstzuhause auf die Schnelle eine recht erfolgreiche Online-Ausgabe auf die Beine, entschied sich dann aber trotz Corona-Risiken, die nächste Ausgabe wieder als reines Präsenzfestival abzuhalten. „Das Filmkunstfest MV ist ein Publikumsfestival, das von der Atmosphäre und vom Austausch zwischen Publikum und Filmschaffenden lebt“. Zudem seien die zusätzlichen Mittel an Personal und Budget nicht unerheblich, die die Organisation eines parallelen Online-Festivals erfordert. Außerdem, so Kufahl, „sind wir selbst bildschirmmüde und sehnen uns zurück nach der Leinwand." Sein Fazit: „Ohne die räumliche Verortung und den Bezug auf ein physisches Publikum macht die Rede vom Festival meines Erachtens keinen Sinn.“

Der Reiz des Vor-Ort-Flairs, hier bei der Eröffnung des Filmfestivals "Goldener Spatz" 2022 (© Rene Loeffler)
Der Reiz des Vor-Ort-Flairs, hier bei der Eröffnung des Filmfestivals "Goldener Spatz" 2022 (© Rene Loeffler)

Ganz anders dagegen Lars-Henrik Gass, der Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Er betrachtet die Ausdehnung von Festivals ins Netz als Chance. Seine Filmschau fand 2020 und 2021 pandemiebedingt als Online-Ausgabe statt; 2022 gab es eine viertägige Online-Sektion, gefolgt von einer sechstägigen Kino-Sektion. Das ohnehin für seine Innovationsfreudigkeit bekannte Festival führte 2021 zusätzlich einen Internationalen und deutschen Online-Wettbewerb ein; beide dokumentieren Oberhausens langfristige Ausrichtung als hybrides Festival. Dazu setzten die Kurzfilmtage 2020 einen Online-Videoblog auf und 2021 einen Kurzfilm-Channel, die beide als experimentelle Vorstöße in den virtuellen Festivalraum gelten dürfen. Nach Ansicht von Gass hat die Pandemie „einen neuen Begriff von Festival ins Spiel gebracht“. Sein Credo: „Ein Festival ist heute Absender von bestimmten Inhalten und zugleich Plattform, nicht nur für ein paar Tage.“ Man müsse sich etwas einfallen lassen, um die Leute vom Sofa wegzulocken, so Gass. „Nur muss und wird das Festival vor Ort anders aussehen müssen. Filme zeigen genügt nicht, (…) heute noch weniger als früher.“


Neue Antworten auf drängende Fragen

Der Band arbeitet zudem einen weiteren Begleiteffekt der Corona-Krise heraus. Auch wenn viele Betreiber pandemiebedingt oft improvisieren mussten, konnten sie im Zuge einer radikalen Neubesinnung doch oft die Chance nutzen und Konzepte entwerfen und testen, die Antworten auf andere, ohnehin anstehende Aufgaben liefern sollten, seien es Nachhaltigkeit, Diversität, Globalisierung, Gender-Ungerechtigkeit oder digitale Transformationen.

Es sprossen sogar neue Festivals aus dem Boden, die sich auf solche Themenfelder beziehen. So ging 2021 in Südbayern erstmals die Biennale Bavaria International – Festival des deutschen Heimatfilms über die Bühne, die – befreit von Premierenzwängen – in sechs Ortschaften Filme zu Identität, Zugehörigkeit und alter/neuer Heimat zur Diskussion stellte.

Wie wichtig manche Festivals inzwischen die Klimakrise nehmen, zeigt das Beispiel von Edimotion – Festival für Filmschnitt und Montagekunst in Köln, das 2021 verkündete, ab jetzt eine klimaneutrale Ausgabe zu stemmen. Konkret hieß das für die Festivalmacher:innen: „Verzicht auf möglichst alle Flugreisen, Einsatz alternativer Shuttle-Optionen, ein klimafreundliches Hotel als Partner, regionales und vegetarisches Catering, Verwendung von Ökostrom und Mitdenken von Barrierefreiheit, Inklusion und Diversität.“

Neu in der Festivallandschaft: Die "Biennale Bavaria International", zu deren Programm auch Podimsdiskussionen gehören, wie 2021 zum Thema "Heimat Europa: gestern-heute-morgen" (© Biennale Bavaria International/ Heiner Heine)
Neu in der Filmfestivallandschaft: Die "Biennale Bavaria International", zu deren Programm auch Podimsdiskussionen gehören, wie 2021 zum Thema "Heimat Europa: gestern-heute-morgen" (© Biennale Bavaria International/ Heiner Heine)


In einer „vorläufigen Bilanz“ kommen Krainhöfer & Kurz zu dem Schluss, „dass das Kino mittelfristig nicht aussterben wird“. Dennoch sei mit „einem deutlichen Verlust an Lichtspielhäusern zu rechnen“. Das habe auch die jüngste Evaluation der FFA aus dem Jahr 2022 ergeben. Weiter schreiben sie: „In dem Maße, in dem die Bedeutung der Kinos bei der Herausbringung von Filmen in Zukunft noch weiter schwinden wird, öffnet sich das Feld für Filmfestivals, um für die Sichtbarkeit wie auch die Programmvielfalt und damit die Struktur der Filmkultur insgesamt, aber vor allem auch für ihren Zugang in Städten wie in ländlichen Räumen zu sorgen. Diese sowie die vielfältigen weiteren Aufgaben erfordern jedoch eine grundlegende Neubewertung des Filmfestivalsektors und eine entsprechende Neugestaltung der Rahmenbedingungen.“


Zehn Ratschläge

Apropos Rahmenbedingungen. Der Band begnügt sich nicht mit Bestandsaufnahmen und Analysen. Vielmehr geben Krainhöfer & Kurz auch zehn Handlungsempfehlungen an Bund, Länder und Kommunen. So raten sie, Repräsentanten der AG Filmfestival in alle filmpolitischen Gremien der Filmförderungsanstalt (FFA), der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft zu berufen. Zudem schlagen sie vor, die regelmäßige Bestandsaufnahme zum deutschen Kinomarkt durch die FFA um die Erhebung und Bereitstellung von Kennzahlen zum Sektor der Filmfestivals zu erweitern. Zu den Empfehlungen gehören auch der „Aufbau eines Hochschulangebots mit zielgenauer Ausrichtung auf das berufliche Anforderungsprofil des Filmfestival- und Kinomanagements“ und die Umwandlung der Förderstrukturen der Festivals von bisher einjährigen Projektförderungen in drei- bis fünfjährige „strukturelle Basisförderungen“.

Wer mehr über Filmfestivals wissen möchte: Das fundierte Kompendium ist als duales Projekt anlegt, das über den Sammelband hinaus mit der Website www.filmfestival-perspektiven.de fortgeführt wird.


Literaturhinweis

Filmfestivals. Krisen, Chancen, Perspektiven. Von Tanja C. Krainhöfer und Joachim Kurz. edition text & kritik, München 2022. 387 S., 34,90 EUR. Bezug: In jeder Buchhandlung oder hier.

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