Coming-of-Age-Film | Japan 2023 | 127 Minuten

Regie: Hirokazu Kore-eda

In drei Kapiteln erzählt der Film aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven die Geschichte zweier zehnjähriger Klassenkameraden, deren Freundschaft von anderen beargwöhnt wird. Ein Hochhausbrand, das seltsame Verhalten eines der beiden Jungs und die nicht weniger irritierenden Abwehrreaktionen der Lehrer fügen sich zu immer neuen Zusammenhängen oder Mutmaßungen, die sich immer wieder als falsche Fährten erweisen. Erst im dritten Teil rückt der episodische Film die Dinge aus Sicht der beiden Jungen zurecht. Die episodische Struktur begünstigt eine ungemein reiche Erzählung, die mit enormer Hingabe und erzählerischer Meisterschaft um jene Verbundenheit kreist, die aus Liebe und Zuneigung entsteht. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
KAIBUTSU
Produktionsland
Japan
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
AOI/Bun-Buku/Fuji Television Network/Gaga/Toho Company
Regie
Hirokazu Kore-eda
Buch
Yûji Sakamoto
Kamera
Ryûto Kondô
Musik
Ryuichi Sakamoto
Schnitt
Hirokazu Kore-eda
Darsteller
Sakura Ando (Saori) · Eita Nagayama (Hori) · Soya Kurokawa (Minato) · Hinata Hiiragi (Eri) · Mitsuki Takahata (Hirona)
Länge
127 Minuten
Kinostart
21.03.2024
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Coming-of-Age-Film | Drama | Familienfilm | Jugendfilm
Externe Links
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Drama um die Freundschaft zweier zehnjähriger Schüler inmitten eines Klimas der Verdächtigungen, Gefahren und Gerüchte.

Diskussion

Wenn ein zehnjähriger Junge plötzlich aus dem fahrenden Auto seiner Mutter springt, kann das daran liegen, dass diese gerade einen für Pubertierende extrem nervigen Unsinn erzählt. Im Fall der alleinerziehenden Saori (Sakura Andō) und ihrem Sohn Minato (Soya Kurokawa) ist es ein Loblied auf die „stinknormale Familie“. Eine solche zu haben und nicht allein sein zu müssen, sei „der größte Schatz“, sagt die Mutter. Auf dass der Sohn irgendwann selbst eine Familie gründen werde. Da steigt Minato buchstäblich aus. Was ihn in die Notaufnahme bringt.

Mit dieser scheinbar melodramatischen Sequenz reißt der im Original „Monster“ betitelte Spielfilm „Die Unschuld“ von Hirokazu Kore-eda grob an, welches Rührstück um eine vaterlose Kindheit er als Potenzial in sich trägt, und dass Kore-edas Publikum dann wahrscheinlich ähnlich schnell aussteigen würde wie Minato aus dem Auto. Dass hinter dem halsbrecherischen Verhalten des Jungen ein ganz anderer Grund steckt, enthüllt sich erst spät. Dreimal setzt der Film neu an, jedes Mal aus einer anderen Perspektive, und immer wieder erweisen sich die scheinbar zwingenden Schlussfolgerungen sowohl für die Figuren als auch für die Zuschauer als vorschnell und falsch.

Es kommt immer auf die Perspektive an

Zunächst konzentriert sich der Film auf die verwitwete Saori. Ein Hochhaus brennt in der japanischen Stadt am See. Mutter und Sohn betrachten das Feuer vom Balkon aus. Das Feuer und die Frage, wer es aus welchen Gründen gelegt haben könnte, scheint zunächst bedeutungsvoll, tritt dann aber immer mehr in den Hintergrund. Oder könnte es doch mit dem zunehmend seltsamen Verhalten von Minato zusammenhängen? Der behauptet, ein Monster zu sein, dem man das Hirn eines Schweins eingepflanzt habe. In einem Anfall schneidet er sich seine Haare ab, kommt mit nur einem Schuh nach Hause oder friert minutenlang ein, als er sich nach einem Radiergummi bückt. Allmählich erhärtet sich der Verdacht, dass sein Lehrer Hori (Eita Nagayama) ihn drangsaliert. Oder ist Minato selbst ein Übeltäter, der seine Mitschüler quält, etwa den seltsam fröhlich wirkenden, mutterlos bei einem gewalttätigen Alkoholiker-Vater aufwachsenden Außenseiter Yori (Hinata Hiiragi)?

Aus der Perspektive des Lehrers erzählt der Film die Geschehnisse im zweiten Teil, um im dritten schließlich die Sicht Minatos einzunehmen. Durch den strukturierenden Wechsel von städtischer Landschaft und Menschen in vielfach gerahmten Interieurs huldigt „Die Unschuld“ diskret dem Übervater Yasujirō Ozu, verweist aber vor allem auf Akira Kurosawas Klassiker „Rashomon“ (1950): Kore-eda verlegt die Frage, „Was können wir wissen?“ ähnlich wie İlker Çatak in „Das Lehrerzimmer“ in ein Schulgebäude. Doch der dort propagierte Wertekanon zwischen traditioneller japanischer Etikette und westlichem Selbstverwirklichungsgebot scheint so instabil wie der Berghang, der während eines Unwetters zu rutschen beginnt und eine Art Wiedergeburt einleitet.

In den drei Kapiteln gönnt sich der Regisseur sanfte satirische Zuspitzungen in beide kulturelle Richtungen. Das westliche Mantra, „Sei einfach nur du selbst“ etwa: Die Freundin des verdächtigten Lehrers Hori glaubt, eine „einfach nur“ authentische Persönlichkeit schütze automatisch davor, Opfer falscher Beschuldigungen zu werden. Wie ein „Lonely Cowboy“ wiederum stattet Minatos Mutter der Schule Besuche ab; die Eltern seien „Monster“, klagt ein Kollege einmal. Doch ihr heldenhafter Kampf für ihren Sohn prallt an den untertänig gekrümmten Rücken des Entschuldigungsfloskeln wiederholenden Lehrkörpers ab.

Misstrauen und Verdächtigungen

Ein Grundrauschen des Misstrauens und der Verdächtigung erzeugen die immer wieder zu hörenden Lautsprecherdurchsagen: Man möge beim Überqueren der Fahrbahn vorsichtig sein; und Achtung, wegen sich häufender Fälle von Telefonbetrug sei bei unbekannten Anrufern äußerste Wachsamkeit geboten. Wie ein Echo davon machen sich Mutter und Sohn über den Authentizität vorgaukelnden „Fake“ im Fernsehen lustig. Was ist schon echt und wahrhaftig?

Immer wieder legt das Drehbuch von Yūji Sakamoto falsche Fährten und spart die Kamera von Ryūto Kondō Bestandteile des Bildes aus. Selbst die Frage, aus welcher fernen Apokalypse die schiefen Posaunen dröhnen, die immer wieder die ansonsten zarten Kompositionen von Ryuichi Sakamoto durchschneiden, findet am Ende ihre Antwort darin, dass Unsagbares manchmal eben „hinausgeblasen“ werden muss. Wovon man nicht erzählen kann, darüber kann man immer noch tröten, sprich: eine andere ästhetische Ebene finden.

Der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda ist für seine klugen Beobachtungen ungewöhnlicher (Wahl-)Familienverhältnisse zwischen liebevoller Solidarität und überlebenswichtiger Kumpanei bekannt. So beobachtete er schon in „Nobody Knows“ (2004) vier von ihrer Mutter in einer engen Wohnung zurückgelassenen Geschwister, die sich selbst versorgen müssen. In „Like Father, Like Son“ (2013) wachsen zwei Jungen durch einen versehentlichen Tausch in der Geburtsstation bei den „falschen“ Eltern auf; in Unsere kleine Schwester“ (2015) taucht nach dem Tod des Vaters eine Halbschwester auf, die das Leben dreier Frauen nicht durcheinanderwirbelt, sondern bereichert. Und in „Shoplifters - Familienbande“ (2018) verbinden sich Gangstertum und Sozialkritik zu einem kriminell spannenden, schrägen Familienidyll jenseits der Blutsverwandtschaft.

Zugehörigkeiten, seien sie biologischer, sozialer oder kultureller Art, wiegen bei Kore-eda weniger als jene Verbundenheit, die aus Liebe und Zuneigung entsteht. Dass „Die Unschuld“ beim Filmfestival in Cannes neben dem Drehbuchpreis auch die „Queer Palm“ erhielt, scheint indes eher ein freundliches Missverständnis zu sein; Kore-eda ging es nach eigener Aussage weniger um aufkeimende sexuelle Identität als um die universellen Aspekte einer durch Gewalt und Rollenzuschreibungen unter Druck gesetzten Freundschaft zwischen zwei Jungen.

Verblassende Träume und Visionen

Die Feier der „stinknormalen Familie“ gehört eigentlich zur DNA des US-amerikanischen Kinos. Kore-eda gibt dieses Konzept weder der Lächerlichkeit preis, noch stellt er ihm eine allzu naiv idealisierte Alternative gegenüber; er lässt es eher eine Art Wiedergeburt durchlaufen und nutzt dafür Zeichen, die Westliches und Östliches amalgamieren. In „Die Unschuld“ tragen fast alle Hauptfiguren demonstrativ Shirts mit Aufdrucken wie „Working Class“ oder „California“. Derart im US-Style gewandet, wird gleichwohl am heimischen Schrein des verstorbenen Vaters gedacht und sich gefragt, ob der schon wiedergeboren wurde. Schön wäre es, wenn er als Pferd wiederkäme, findet die Lonely-Cowboy-Mutter.

Einen verwaschenen Rest von gesellschaftlicher Utopie tragen diese T-Shirt-Aufdrucke noch in sich, als Erinnerung an das Recht auf ein Streben nach Glück, aber auch das Recht, die Mächtigen und die sozialen Verhältnisse zu kritisieren und dabei auf Höflichkeitsfloskeln zu pfeifen.

Eigentlich sei das mit dem Glück doch reiner Blödsinn, sagt die Rektorin der Schule einmal. Wenn Glück etwas sei, das nur wenigen zuteilwerden könne, sollte man es auch nicht Glück nennen. Es sollte vielmehr „allen zustehen“. Darin kommt Kore-edas humanistischer Humor zum Ausdruck. Aus dem Mund einer älteren japanischen Frau verwandelt sich das Versprechen des „Pursuit of Happiness“ in eine radikale Gemeinwohl-Forderung. Im dritten, in Überschwänglichkeit und helle Freude mündenden Teil des Films versöhnt er schließlich sogar die Idee der Wiedergeburt mit dem gerade in Übergangszeiten höchst problematischen Gebot „Sei einfach du selbst“: indem sich die beiden Jungen nach einer knapp überstandenen Katastrophe als diejenigen wiedererkennen, die sie schon vorher waren. Nicht alle müssen zu Monstern werden.

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