© imago/Mary Evans (Sarah Polley bei den Dreharbeiten zu "Take this Waltz")

Wir müssen reden - Sarah Polley

Annäherungen an die kanadische Filmemacherin Sarah Polley, die als Tochter einer Schauspielerfamilie schon von Kindheit an vor der Kamera stand, seit 2010 aber ganz auf den Regiestuhl gewechselt ist

Veröffentlicht am
07. September 2023
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Die 1979 geborene Kanadierin Sarah Polley hat sich von ihrem Regiedebüt „An ihrer Seite“ (2007) an als ambitionierte Filmemacherin hervorgetan. Ihre seit der Kindheit erfolgreiche Schauspielkarriere ließ sie 2010 auslaufen. Ihre Arbeiten als Regisseurin vereinen ihre aktivistischen Anstrengungen mit einem Blick für die Zerbrechlichkeit von Beziehungen und Systemen. Im Kern geht es stets um die Erinnerung und wie in ihrem neuesten Werk „Die Aussprache“ (jetzt im Kino) um eine Form der Selbstermächtigung, die auf dem Versuch gründet, Worte für Trauma und Schmerz zu finden.


Erinnerung ist das, was wir sind. Transzendente, traumatische und tagtägliche Momente verknoten sich mit dem Bewusstsein, fügen sich einer Gewichtung nach, über die wir keine Kontrolle haben, zu etwas zusammen, was jede künftige Erfahrung prägt. Doch der lebensgroße Bewusstseinsbeutel gesammelter Erfahrungen von Schmerz und Glück über Demütigung und Rausch, eben das, was den Teil unserer selbst formt, den wir vielleicht Seele, vielleicht Persönlichkeit und vielleicht Identität nennen, dieser Beutel ist kein – da sind sich Neurowissenschaft und anekdotische Erfahrung einig – verlässliches oder gar beständiges Fundament.

Erinnerung täuscht sich, verändert sich, sie erlischt und bleibt, wenn sie auf sich allein gestellt ist, ein unvollständiges Bild, ein schwarzer Fleck auf dem, was wir vielleicht Seele nennen. Das Kino der kanadischen Filmemacherin Sarah Polley nimmt diesen schwarzen Fleck ins Visier; es sucht nach etwas, das ihn aufhellen könnte: eine Berührung des Ehemanns, die Wärme einer Familie, der Schutz einer Gemeinschaft. Oder eben der Blick eines Fremden.


Den schwarzen Fleck finden

Michelle Williams findet diesen Fremden in „Take This Waltz“ (2011). Ohne ihn zu suchen, begegnet sie im inmitten einer Gruppe von Rollenspielern, die ihr während eines Reenactments eine Peitsche in die Hand drücken, mit der sie einen Ehebrecher züchtigen soll. Der liebevolle Spott des Fremden (Luke Kirby) geht im ersten Moment unter, im zweiten – er sitzt zufällig im selben Flieger gen Heimat – schon nicht mehr und im dritten – sie teilen ein Taxi in dieselbe Straße – ist es um Margot geschehen. Kurz bevor sich der Moment der perfekten Romanze einlösen kann, für den sie noch vor wenigen Stunden die Peitsche in der Hand hielt, presst sie die Pointe heraus: sie ist verheiratet.

Ohne zu ahnen, dass es diesen schwarzen Fleck auf ihrer Seele gibt, hat sie ihn, oder es, dieses Etwas, das sie allein nicht loswird, gefunden. Plötzlich braucht es eine neue Begegnung, einen neuen Moment der Bewunderung und Belustigung durch diesen Fremden, der sie sich selbst als aufregend und einzigartig entdecken lässt und so das ganze Fundament ihres Lebens, nämlich ihre Ehe mit Lou (Seth Rogen), in Frage stellt. Es lebt sich gemütlich zwischen täglichen Hühnchengerichten, in möglichst blutige Mordfantasien gekleideten Liebesbekundungen und der Arbeit an einem Schriftstück, das sich einfach nicht schreiben lassen will.

"Take this Waltz" (imago/Mary Evans)
"Take This Waltz" (© imago/Mary Evans)

Idyllisch ist dieses Leben im fiktiven Toronto. Aber irgendwann lebt man immer das, was danach kommt und sehnt sich nach dem, was vorher war. Irgendwo zwischen den Stadthäusern, Leuchttürmen und Badeseen, die hier unrealistisch nah beieinander liegen, ist etwas verloren gegangen: eine Vision ihrer selbst, die längst in Vergessenheit geraten ist. Der erste Moment, in dem Margot sich in den Augen des Mannes erblickt, mit dem sie auf gar keinen Fall eine Affäre beginnen möchte, die sie auf jeden Fall glücklich machen würde, ist gewissermaßen die Essenz von Sarah Polleys Kino. Die eigene Geschichte, das eigene Sein, gespiegelt in der Geschichte eines anderen.


Ein Spiegelbild zerbricht

Wie ein solches Spiegelbild zerbricht, erzählt Polleys Regiedebüt „An ihrer Seite“ (2007). Als Grant (Gordon Pinsent) das erste Mal allein ins gemeinsame Heim einkehrt, beschreibt er, der Mann, der seine Frau an die Alzheimer-Krankheit verlieren wird, die biochemischen Prozesse, die dazu führen. Er erklärt, wie mikroskopisch kleine Plaques auf den Zellrezeptoren ablagern, sie ausschalten, bis das Hirn Stück für Stück den Anschluss, sein Licht verliert, als würden seine Glühbirnen eine nach der anderen verglimmen und mit ihnen das eigene Spiegelbild in den Augen der Partnerin. Kaum hat der Film das Eheleben – ein nicht minder idyllisches winterlich-ländliches Gegenstück zum goldenen Sonnenschein Torontos, in dem es noch gemeinsame Ausflüge ins Grüne, gegenseitiges Vorlesen und Sex gibt – in der sanften Zufriedenheit des gemeinsamen Alterns gefunden, beginnt die Krankheit von Fiona (Julie Christie) das Fundament des gemeinsamen Lebensabends zu zersetzen. Bereits beim ersten Besuch im Pflegeheim leben beide in verschiedenen Welten. Ihr Blick ist ertrübt, er strahlt keine Liebe zu ihm mehr aus und sieht nicht die Liebe, die von ihm abstrahlt.

Das gemeinsame Dasein ist jedoch nie gänzlich verschwunden. Die Frau, die den eigenen Namen nicht mehr kennt, sieht noch immer aus wie die Frau, die ihr Leben mit Grant teilte. Manchmal fühlt sie sogar noch wie diese Frau und sieht wieder den Mann vor sich, der Grant immer war, ihr Ehemann. „I think, I may be beginning to disappear“, sagt sie in einem klaren Moment. Die Super-8-Aufnahme, die ihre Geschichte rahmt, zeigt sie als junge Frau. Der Kamera zugewandt, lächelt sie, flüstert etwas durch dieses Lächeln hindurch, bevor sich ihr Bild langsam in die nächste Einstellung auflöst.


Die eigene Erinnerung als Motiv

Das grobe Filmkorn, das sich an das Gedenken klammert, ist das perfekte Sinnbild für Polleys Werk, das sich mehr und mehr der eigenen Erinnerung und damit auch der eigenen Biographie widmet. In „Stories We Tell“ ist es Polleys Mutter Diana, die in körnigen Super-8-Mitschnitten durch das Bild tobt, als wolle sie in jeder Sekunde die Lebensfreude beweisen, die ihren Kindern, ihrem Ehemann und ihren Liebhabern bis heute in Erinnerung geblieben ist. Diana Polley verstarb an Krebs, als Sarah erst 11 Jahre alt war.

Der 2012 entstandene Dokumentarfilm ist zugleich eine Erinnerung an die Mutter durch die Augen der überraschend großen Familie wie ein Selbstporträt Polleys, die an den Rändern der Geschichte ihrer Familie immer wieder den eigenen künstlerischen Prozess mitreflektiert. Herzstück sind die Erzählungen ihrer Geschwister und ihrer Väter. Erzählungen, die sich ergänzen, widersprechen, Tränen und Lachen nicht zurückhalten können und alles andere als ein kohärentes Bild von der Mutter und der Familie zeichnen. Die eigene Erinnerung reiht sich dabei gleichrangig ins Gefüge der Familiengeschichten ein. Polleys Wahrheit ist hier eine unter vielen, die nicht als kohärentes Gesamtbild zusammenkommen, sondern sich zu unzähligen Versionen der gleichen Geschichte auffächern.

Sarah Polley beim Dreh von "Stories We Tell" (fugu films)
Sarah Polley beim Dreh von "Stories We Tell" (© fugu films)

Die Struktur des Films ist an die Idee der emotionalen Wahrheit angelehnt, die Margaret Atwood in ihrem Roman „Alias Grace“ formuliert, indem sie einer tatsächlichen, alle Erfahrungen einschließenden Wahrheit eine literarische Absage erteilt. Konsequenterweise ist eine Serienadaption von Atwoods Roman das nächste Projekt, dem sich Polley widmet. Der entlang der Erinnerung der Protagonistin, die ebenso ungreifbar bleibt, wie die Wahrheit über die Morde, die sie begangen haben soll. Um die Rechte an der Vorlage bemühte sich Polley schon im Alter von 17 Jahren. Als Schauspielerin ist sie zu diesem Zeitpunkt lange etabliert. Im Alter von acht Jahren wird Polley, nach einer Reihe kleinerer Nebenrollen, in der Hauptrolle von Terry Gilliams „Die Abenteuer des Baron Münchhausen“ zum Kinderstar. 1999 ist sie zugleich als nerdiges Mädchen, das in eine Romanze mit Stephen Rea stolpert („Das Mädchen und der Fotograf“), als streetsmartes College Girl in Doug Limans Kulthit „Go“ und in einer Nebenrolle als Assistentin in David Cronenbergs „eXistenZ“ zu sehen. Ein Jahr, in dem genug Bandbreite und Talent steckt, um ihr den Weg ins neue Jahrtausend zu ebnen.

Doch es kommt anders. Der Zickzack-Kurs zwischen kanadischen Independent-Produktionen wie Isabel Coixets „Mein Leben ohne mich“ und Hollywood-Genre-Filmen wie dem Zack-Snyder-Remake „Dawn of the Dead“ hat immer weniger Stationen, während ihre Arbeit als Filmemacherin, Mutter und Aktivistin mehr Raum einnimmt. Bezeichnenderweise ist das „große“ Jahr 1999, das Jahr, in dem Polley zu einem Treffen in Harvey Weinsteins Büro geladen wird. 2017 beschreibt Polley die Begegnung in einem Essay für die „New York Times“. Eine Begegnung, die sie nur aufgrund mangelnder Starambition, einer starken Ablehnung gegenüber dem sexuellen Machtmissbrauch und einer aufmerksamen Agentin unbeschadet überstanden habe.


Eine deutlich feministischere Prägung

Die Schauspielkarriere, die 2010 ihr Ende findet, hat Polley hingegen nicht unbeschadet verlassen können. Ihr darauffolgendes Schaffen hat eine deutlich feministischere Prägung und ist zugleich eine sichtbare Reflexion ihrer Erfahrungen mit Missbrauch. Die Adaptionen der feministischen Romane „Alias Grace“ und „Women Talking“ haben eine deutlich düsterere Färbung, die autobiografische Essaysammlung „Run Towards the Danger“ reflektiert in aller Direktheit und Brutalität die eigenen Traumata und Missbrauchserfahrungen. Ein darin enthaltener Essay beschreibt den sexuellen Missbrauch durch den später von mehreren Frauen angeklagten Entertainer und Musiker Jian Ghomeshi im Kontext von Strafrecht und Opfererfahrung.

Der Kern des Traumas, das Polley hier als persönliche Erfahrung wie als Diskursbeitrag offenlegt, ist erneut die Erinnerung. Was vom Übergriff selbst bleibt, ist eine von Selbstschutzmechanismen des Bewusstseins zerschmetterte Ansammlung von Details, die oft über Jahrzehnte verdrängt wird. Es fällt schwer, über Missbrauch zu sprechen, noch schwieriger, es vor Gericht zu tun, wo die traumabedingten Erinnerungslücken an die Grenzen der Funktionsweise des Justizsystems stoßen.

Polleys „Spätwerk“ spricht und wie es der Originaltitel ihres aktuellen Films „Die Aussprache“ („Women Talking“) deutlich präziser wiedergibt: lässt sprechen. Für die versonnene Melancholie, mit der eine Michelle Williams auf das aktuelle Eheleben und Gordon Pinsent auf das vergangene blickt, ist in der nach dem Roman von Miriam Toews gestalteten Welt der Mennoniten-Kommune ebenso wenig Platz wie für Primärfarben. Es geht um das Überleben beziehungsweise Weiterleben für die Frauen der Gemeinde, die hier zusammenkommen, weil sie die Machtstrukturen der gewalttätigen, von Männern geleiteten Gemeinde nicht mehr akzeptieren können.

Wir müssen reden: "Die Aussprache" (Orion Releasing LLC/Universal)
Wir müssen reden: "Die Aussprache" (© Orion Releasing LLC/Universal)

Polleys Film "Die Aussprache" ist tristes Thesenkino, das ein exzellentes Ensemble im so gewaltigen wie antiquierten Ultra-Scope-Format versammelt, um über sexuelle Gewalt und die Männer, die sie verüben, zu reden. „Die Aussprache“ wirkt dabei schwerfällig, ringt nach den Worten und noch mehr nach den Bildern, die Schmerz und Trauma in ein Ermächtigungsnarrativ zu formen vermögen. Und doch spricht Polley es lauter aus als viele Vorgängerinnen: Wir müssen uns erinnern. Und vielleicht noch wichtiger: Wir müssen reden.


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