© Anja Berg/JFF - Institut für Medienpädagogik (Kerstin Heinemann)

Den Diskursraum erweitern - Kerstin Heinemann

Interview mit der Medienpädagogin Kerstin Heinemann, die bei der Berlinale 2023 Mitglied der Ökumenischen Jury ist

Veröffentlicht am
27. März 2023
Diskussion

Vier Frauen und zwei Männer entscheiden in diesem Jahr in der Ökumenischen Berlinale-Jury über drei Preise, für je einen Film aus dem Wettbewerb, dem Panorama und dem Forum. Aus Deutschland stammen die Jurypräsidentin Miriam Hollstein sowie Kerstin Heinemann; Arielle Domon und Anne Le Cor kommen aus Frankreich. Alberto V. Ramos Ruiz lebt in Kuba, Paul de Silva in Kanada. Ein Gespräch mit der Medienpädagogin Kerstin Heinemann, die beim „JFF- Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis“ die Themenbereich Politische Kommunikation und Vernetzung verantwortet.


Nach welchen Filmen sucht die Ökumenische Jury bei der Berlinale?

Kerstin Heinemann: Zunächst einmal: Wir suchen nicht den besseren Jesus-Film! Sondern wir haben sehr klar definierte Kriterien. Zum einen interessiert uns hohe künstlerische Qualität, also ob ein Film gut gemacht ist, die Geschichte funktioniert, die Schauspieler überzeugend sind. Wir suchen aber auch Perspektiven, die aus dem Evangelium heraus erzählt werden. Da sind wir bei theologischen, anthropologischen und sozialethischen Fragestellungen. Wir suchen Filme, die ein besonderes Augenmerk auf die christliche Verantwortung in der Welt legen, also etwa auf die Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte oder Filme, die Prozesse der Befreiung, der Gerechtigkeit, des Friedens und der Versöhnung unterstützen. Oder ob es darin um eine Solidarität mit allen Arten von Unterdrückten und Minderheiten geht, oder eben auch um die Frage nach der Bewahrung der Schöpfung. Dann suchen wir Filme, die sehr universell sind, aber durchaus aus einem Kontext heraus erzählt werden. Und dann müssen diese Filme auch noch technisch und handwerklich mit Überzeugungskraft und Innovation umgesetzt sein.

Die Katholische Kirche ist bereits seit 1954 bei der Berlinale vertreten. Woher kommt dieses starke Interesse, an einem Filmfestival mitzumachen?

Heinemann: Ich glaube zum einen, dass katholische Filmarbeit wahnsinnig wichtig ist, weil wir schon lange verstanden haben, dass Film eine kommunikative Kraft ist und dass es darin um Dialog geht. Filmarbeit bedeutet zuzuhören, welche Geschichten Menschen heute erzählen; es bedeutet aber auch – gerade die Kirchen haben hier eine eigene Geschichte mit der sehr bildhaften Sprache des Evangeliums –, diese Sprache tatsächlich auch nach außen zu tragen. Angesichts dieser Wechselseitigkeit ist es toll, dass die Kirchen auf Festivals wie der Berlinale präsent sind. Und es ist wichtig, dass wir aus der Perspektive eines christlichen Menschenbildes das Festivals sowohl künstlerisch als auch inhaltlich begleiten.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit in so einer so gemischten Jury?

Heinemann: Das ist tatsächlich spannend, wenn Personen aus unterschiedlichen Ländern mit ganz verschiedenen Erfahrungen zusammenkommen. Das bedeutet viel Kommunikation, viele Diskussion und durchaus auch die Organisation dieser Kommunikation. Wir haben gut getaktete Jurysitzungen und mehrere digitale Kanäle, auf denen wir uns organisieren. Jurys dieser Art durchlaufen verschiedene Prozesse. Am Anfang beschnuppert man sich vorsichtig oder merkt nach dem ersten Jurytreffen, dass man langsam zu einer Gruppe zusammenwächst. Das funktioniert auf Englisch ganz gut und im Zweifel eben mit Händen und Füssen und ganz viel Emotionen. Manchmal geht es durchaus auch turbulent zu. Aber das ist gut so, weil Filme genau das auslösen sollen. Gute Filme sind für mich Filme, die zur Diskussion anregen und nicht einfach nur so nebenher laufen. Ich bin immer dann von einer Juryarbeit angetan, die lebendig und auch kontrovers ist.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Filmkritikern, Programmgestaltern und Theologen in der Jury?

Heinemann: Erstaunlich gut. Auch da fungieren die Filme als eine Art Bindeglied. Das ist durchaus anders, als wenn es in erster Linie um den Beruf ginge. Hier lautet die erste Frage: Wie fandest du den Film? Das schlägt bereits Brücken, bevor ich darüber nachgedacht habe, aus welcher Perspektive der andere und die andere auf den Film blickt. Bei unseren langen Diskussionen bekommt man dann natürlich aber auch mit, welche Kompetenzen in den einzelnen Juroren stecken.

Mit welchen Vorurteilen sind Sie als christliche Jury konfrontiert?

Heinemann: Das ist immer auch die Frage, wie man selbst in eine Diskussion geht. Wir verschweigen nicht, dass wir von der Ökumenischen Jury sind. Natürlich haben es Menschen aus den Kirchen heute durchaus schwer. Kirche wird kontrovers diskutiert, in Deutschland ganz besonders, und durchaus ja auch zurecht. Aber das Spannende ist ja, mit solchen Vorurteilen aufzuräumen. Nein, wir suchen nicht den besseren Jesus-Film, sondern wir haben eine Kriteriologie, die inhaltlich, handwerklich und ästhetisch fundiert ist. Deswegen finde ich es so wichtig, dass wir bei solchen Festivals platziert sind. Wir haben eine fachliche Expertise, die weit über das kirchliche Feld hinausreicht.

Inwieweit spiegeln Festivals aktuelle gesellschaftliche und politische Diskussionen wider?

Heinemann: Ich fand sehr spannend, was Claudia Roth bei der Eröffnung der Berlinale dazu gesagt hat. Ich zitiere: „Der Film weitet unseren Blick in die Welt und er lässt sie uns vor der eigenen Haustür erleben. Der Film kennt mehr Perspektiven, als wir erahnen können, er lehrt uns sehen, erfahren, verstehen.“ Ich finde das einen schönen Einstieg für das, aus welcher Perspektive ich in dieser Jury sitze, nämlich mit einem medienpädagogischen Background. Claudia Roth ist mit ihrer Perspektive auf den Film ganz nahe an dem Begriff der Medienkompetenz: nämlich mit, durch und über Medien fähig zu werden, die Welt zu reflektieren und sie zu gestalten. Filmfestivals sind für mich deshalb spannend, weil sie in vielfältigster Weise für die Gesellschaft kuratieren. Filmfestivals sind quasi eine Sehhilfe für Gesellschaften. Sie setzen und greifen Themen auf. Das hat man auch bei der Eröffnungsrede des ukrainischen Präsidenten Selenskyj gemerkt. Man hat es aber auch am Appell der iranischen Schauspielerin gemerkt, die bei der Gala sehr eindrücklich unterstrichen hat: „Wir brauchen Euch! Der Iran braucht Euch. Nennt das nicht Proteste, nennt es Revolution.“ Dafür gab es Standing Ovations. Das zeigt noch einmal ganz deutlich, dass Filmfestivals, ihre Filme und Geschichten, immer eine politische Komponente haben. Ich glaube tatsächlich, dass über Filme manche politischen Themen leichter verhandelt werden können, weil sie ein Deutungsangebot geben und eine narrative Ebene besitzen. Denn die gibt nicht vor, wie ich mich nicht einer konkreten Situation politisch zu verhalten habe; sie besitzt aber einer Metaebene, auf der die Themen sehr wohl verhandelt werden können und sie für ein breites Publikum verständlich und ansprechbar machen kann. Deswegen halte ich Filmfestivals für extrem wichtig. Filmfestivals machen deutlich: Über narrative Elemente wird Gesellschaft gestaltet. Film und Welt bedingen sich gegenseitig; sie beeinflussen sich auch gegenseitig. Ich glaube, dass wir genau diese Perspektive 2023 mehr denn je brauchen.

Sind Festivals dann auch ein Korrektiv? Im kommerziellen Fernseh- oder Streaming-Angebot gilt Politik ja nicht gerade als Verkaufsschlager.

Heinemann (lacht): Jein, ich würde gar nicht so trennen! In dem Moment, in dem ich Politik verstehbar und auch ein Stück weit über Emotionen erlebbar mache, ist sie durchaus vermittelbar und kann sogar ein Verkaufsschlager sein! Politik ist immer dann schwierig zu vermitteln, wenn Menschen das Gefühl haben, dass es nichts mehr mit ihnen zu tun hat, mit ihren Fragestellungen und ihrer Lebenswirklichkeit. Filme können eine wunderbare Brücke sein, Deutungsangebote und eine Perspektive geben. Sie können aber natürlich auch zu Widersprüchen anregen und Reibungsflächen bieten. Ich glaube, wir brauchen mehr denn je einen Diskurs über alle strittigen Themen. Ich habe das Gefühl, dass wir gesamtgesellschaftlich in einer Situation sind, in der wir uns aus unterschiedlichen Ecken heraus kritisch beäugen und ganz schnell auch Vorurteile haben. Filme können dazu beitragen, den Diskursraum zu weiten. Auf einer Metaebene lässt es sich vielleicht leichter miteinander sprechen, als in einer Situation, in der man sich gerade befindet.

Welche Relevanz haben Filmfestivals heute noch in Zeiten einer digitalen Bilderflut?

Heinemann: Es macht natürlich schon einen Unterschied, ob ich bei mir auf den kleinen Fernseher sehe oder auf die Kinoleinwand. Wobei es nicht nur auf die Größe, sondern auch auf die Atmosphäre ankommt. Und dann ist ein Filmfestival immer auch ein Branchentreffen. Es geht darum, andere Menschen zu treffen, sich mit ihnen auszutauschen, über Filme zu diskutieren oder zu streiten. Die Emotionen sind auf so einem Festival wie der Berlinale extrem verdichtet. So spannend das Streaming auch ist: Ich würde nie das eine gegen das andere ausspielen. Festivals haben ihre Berechtigung, und Streaming hat auch seine Berechtigung.

Inwieweit erweitern Filme die eigene Wirklichkeit?

Heinemann: Das merke ich an mir selbst. Ich mag Filme, die widerspenstig sind, ruppige Filme. Ich mag Personen, die sich entwickeln und die sich auch mal völlig irrational verhalten. Das ist etwas, was ich in der Realität deutlich schwerer aushalte als auf der Leinwand. Im Kino suche ich danach, weil ich den Diskursraum liebe und mich dazu positionieren will. Filme berühren mich umso mehr, wenn sie mich dazu zwingen, über sie nachzudenken, wenn ich über sie diskutieren und eine Haltung zu ihnen einnehmen muss.

Seit 1992 sind die evangelische und die katholische Kirche in einer gemeinsamen Ökumenischen Jury vertreten. Werden in Zukunft auch Vertreter anderer Konfessionen oder Religionsgemeinschaften hinzukommen?

Heinemann: Natürlich sind andere Religionsgemeinschaften bei uns ein Thema, schon allein, weil die Filmstoffe dies oft mit sich bringen und wir uns damit auseinandersetzen. Deshalb gibt es perspektivisch die Frage, ob man da noch mal erweitert. Ich habe im Moment keine Idee, wie das strukturell funktionieren kann, aber vielleicht ist die inhaltliche Frage erst einmal wichtiger als die strukturelle.

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