Der Auftakt des 76. Festivals in Cannes sorgt für beträchtliche Turbulenzen, und das nicht nur in Frankreich. An der Person von Johnny Depp, der für seine Rolle als Ludwig XV. im Eröffnungsfilm „Jeanne du Barry“ mit Standing Ovations gefeiert wurde, kristallisiert sich die generelle Frage nach dem Umgang des Festivals mit (Macht-)Missbrauch und Geschlechtergerechtigkeit sowie den Arbeitsbedingungen in der Filmbranche. Unter den Filmen stach bislang vor allem Wim Wenders’ 3D-Hommage „Anselm“ hervor.
In Frankreich tobte der Streit um Johnny Depp und seine Rolle als absolutistischer Herrscher in „Jeanne du Barry“ schon Tage vor der Eröffnung des 76. Filmfestivals von Cannes (16.-27. Mai). Die Schauspielerin Adèle Haenel hatte in der Tageszeitung „Libération“ den Vorwurf erhoben, dass sich Cannes nicht zu seiner „Verantwortung“ bekenne, sondern „Vergewaltigern“ wie Roman Polanski oder Gérard Depardieu nach wie vor eine „Plattform“ biete. Prompt sprangen ihr hundert prominente Kulturschaffende bei, was Cannes-Chef Thierry Frémaux seinerseits zu einer Replik nötigte, in der er einmal mehr zwischen Kunst und Künstler, Werk und Privatperson unterschied und sich im Rahmen der Pressekonferenz überdies gegen das Lob verwahrte, 2023 bewusst mehr weibliche Filmschaffende an die Croisette eingeladen zu haben.
In den medialen Aufwallungen drohen seither allerdings
einige Umstände unterzugehen, die ein differenzierteres Bild ergeben könnten.
Dass in diesem Jahr erstmals sieben von 21 Filmen im Wettbewerb von Frauen
stammen, ist für Cannes ein Novum und liegt überdies deutlich über
vergleichbaren anderen A-Festivals. Zudem ist die Auswahl der Regisseurinnen
weit gespannt und reicht von Catherine Breillat bis zur
senegalesischen Newcomerin Ramata-Toulaye Sy. Und mit Iris Knobloch steht
dem Cannes-Festival außerdem erstmals eine Frau als Präsidentin vor; andere
Änderungen wie ein deutlich höherer Anteil an Polizistinnen, die bei den
abendlichen Galas so bildfüllend präsent sind wie die Fotografen, fallen dabei kaum
mehr auf.
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Historische Selbstermächtigungsfantasie: „Jeanne du Barry“
Auf der anderen Seite scheint der Aufstand gegen die männerdominierte Etikette beim Gang über den roten Teppich allerdings längst wieder verpufft zu sein, mit der die Betonung des Sexus zumindest symbolisch gebrochen werden sollte. Die Turbulenzen verdecken aber auch einen wesentlich gewichtigeren Einwand, der sich um die historische Selbstermächtigungsfantasie in „Jeanne du Barry“ dreht. So nachvollziehbar und sympathisch die Korrektur eines einseitig verzerrten Bildes der königlichen Mätresse Marie-Jeanne Bécu (1743-1793) durch die Regisseurin Maïwenn auch ist, die aus der oft als böse und hinterlistig gezeichneten Mätresse eine neugierig-offene, unkonventionelle Figur macht, gerät dabei aber gerade die Fixierung aufs Geschlecht aus dem Blick. Es gibt nur zwei Szenen, in denen der Preis für den Aufstieg der unehelichen Tochter einer Köchin zur Favoritin des Königs in Versailles kurz aufblitzt: als sich ein Herzog an ihr vergeht, und als die Leibärzte des Königs ihre Vulva einer kalten Vivisektion unterziehen.
Dass die hübsche junge Frau dem Monarchen als pures Lustobjekt zugeführt wird, der prompt seine Augen nicht mehr von ihr wenden will, spielt in der märchenhaften Sphäre des Films, der die Schauwerte von Versailles und des Ancien Régime als illustre Folie für eine romantische Liebesgeschichte nutzt, hingegen keine Rolle. Denn der gelangweilte, von Johnny Depp überzeugend gespielte Souverän, dessen allmorgendliche Ankleidezeremonie in Anwesenheit seines Hofstaates ausführlich zelebriert wird, findet in der klugen und von Maïwenn verführerisch-bezaubernd gespielten Prostituierten eine Art Elixier, das ihn ansatzweise aus seiner Lethargie reißt. Es fehlte nicht viel, und beide hätten sich gemeinsam in eine andere Welt davongemacht.
Fragen nach historischer Relevanz verbieten sich in einem solchen Kostümfilm fast von selbst, aber dass für das Macht- und Intrigenspiel am Hof so gar kein Platz ist und der sexuelle Missbrauch in eine von Maïwenn dominierte Seelenverwandtschaft transformiert wird, irritiert dann doch und schränkt die Bedeutung von „Jeanne du Barry“ erheblich ein.
Formatsprengende Hommage: „Anselm“
Nach „Over Your Cities Grass Will Grow“ (2011) wird der deutschen Maler und bildende Künstler Anselm Kiefer jetzt ein zweites Mal in Cannes und dann auch noch in 3D gewürdigt wird. Das hat mit der Kunst und dem Kunstsinn von Wim Wenders zu tun, der dem sympathisch-unprätentiösen Kiefer mit „Anselm (Das Rauschen der Zeit)“ eine dessen Œuvre angemessen formatsprengende Hommage widmet. Wie wenige andere hat Kiefer seit den 1960er-Jahren eine monumentale Welt erschaffen, die sich auf riesigen Leinwänden oder wie im südfranzösischen Barjac in Gestalt einer 40 Hektar großen Installation ständig weiterentwickelt und dabei immer wieder auf die deutsche Geschichte, antike Mythen oder die Gedichte von Paul Celan und Ingeborg Bachmann rekurriert.
Kiefers Biografie und Werkgeschichte spiegeln sich in „Anselm“ und werden gegenseitig durchsichtig, wobei Wenders den Protagonisten in drei Gestalten als Kind, Heranwachsender und nicht mehr ganz junger Mann immer wieder durch Szenen wandeln lässt und damit sehr raffiniert die Chronologie aufsprengt. Historische Fernseh-Features, die sich seit den Anfängen an der sperrigen Kunst von Anselm Kiefer abarbeiten, fließen ebenso organisch in die visuell und akustisch ausgefeilte Annäherung wie die stereoskopischen Aufnahmen von Franz Lustig, der die Frauen-der-Antike-Installationen in Barjac zu funkelndem Leben erweckt oder Kiefers jüngste Ausstellung im Dogen-Palast in Venedig in eine bedrängende Erfahrung verwandelt.
Die wenige Sätze, die der Maler persönlich zu dem Film beisteuert, heben auf seine zentrale Einsicht ab, dass Sein und Nichts untrennbar miteinander verbunden sind, weshalb in allem ein Abgrund existiert, den die Menschen aber tunlichst nicht wahrhaben wollen. Diese manchmal zum Nihilismus, manchmal zum Pantheismus neigende Sicht schwingt auch in „Anselm“ mit, der Kindheit und Tod, die Anfänge und die Gegenwart, Apokalypse und das verlorene Paradies so zusammenbindet, dass man weder Übergänge noch Abbrüche zu erkennen vermag. Ähnlich wie in „Pina“ gelingt Wim Wenders mit „Anselm (Das Rauschen der Zeit)“ ein singulärer Film, der Kiefers monumentaler Kunst kaum nachsteht, sondern ins filmische Medium übersetzt.
Drei Stunden chinesischer Arbeitsalltag: „Youth“
Ein Hang zu extremen Formaten zeichnet auch den chinesischen Dokumentarfilmer Wang Bing aus, der es in „Youth“ diesmal aber bei lediglich 212 Minuten belässt. „Nur“ drei Stunden lang taucht die Handkamera in die vom tosenden Nähmaschinenrattern vibrierenden Fabrikhallen der Stadt Zhili ein, in der junge Männer und Frauen aus ländlichen Provinzen im Akkord billige Kinderkleider nähen und ihren lausigen Lohn für ein Leben nach der Arbeitsfron aufsparen.
Zwischen 2014 und 2019 porträtierte Wang Bing den Arbeitsalltag der jungen Erwachsenen, ihre Sorgen und Nöte, Beziehungen und Liebschaften, aber auch die ärmlichen Unterkünfte, in denen sie kaserniert sind. Der Fokus liegt dabei auf den Beziehungen der Arbeitenden, die trotz aller Fron meist guter Stimmung sind, auf ihren atemberaubend schnellen, aber völlig eintönigen Handgriffen oder den immer wiederkehrenden Lohnverhandlungen mit den Inhabern, die um jeden Cent feilschen.
„Youth“ zeichnet ein erschütternd monotones Bild einer Wirklichkeit, die von erschreckender Armut und einem schleichenden Niedergang gezeichnet ist, in der für Individualität nur ganz am Rand – oder in den Träumen – ein Platz übrig ist. Wer die Geduld und Konzentration aufbringt, dem Geschehen zu folgen, wird auf Dauer auch der Verschiebungen und des Drucks durch schwierigere wirtschaftliche Bedingungen gewahr, die auf die Menschen an den Maschinen abgewälzt werden.
Wenig Skandalöses: „Le Retour“
Auch um den neuen Film von Catherine Corsini, „Le Retour“, hat es im Vorfeld einiges an Aufregung gegeben, da es bei den Dreharbeiten zu Missbrauchsfällen gekommen sein soll und neue staatliche Regeln nicht eingehalten wurden; in der in Cannes präsentierten Fassung des Films sei zudem eine Masturbationsszene mit Minderjährigen nicht mehr enthalten.
Doch „Le Retour“ ist wenig Skandalöses anzumerken. Eine dunkelhäutige Frau kehrt mit ihren beiden Töchtern auf die Insel Korsika zurück, die sie vor 15 Jahren unter traumatischen Umständen verlassen hat. Jetzt soll sie auf die kleinen Kinder einer wohlhabenden weißen Familie aufpassen; ihre eigene 15 und 18 Jahre alten Mädchen begleiten sie während dieser Zeit. Ihr sehr unterschiedlichen Töchter nützen auf ihre je eigene Weise die sommerlichen Wochen; die Ältere verliebt sich in eine andere Jugendliche, die Jüngere legt sich mit einem korsischen Youngster an, der am Strand Speedboote verleiht und mit Hasch dealt.
Nach und nach kommt dabei auch die verdrängte Vergangenheit der Familie auf Korsika zur Sprache, die mit Identität und Fremdheit, der Suche nach einem Platz zum Leben und dem Gespür für das Eigene zu tun hat. Corsini entwickelt dies unaufgeregt und mit sehr viel Empathie für die Figuren, wobei das Drehbuch naheliegende Zuspitzungen meidet. Was die Schauspielerinnen zu nutzen wissen, die ihre Figuren lebendig und nahbar gestalten.
Perspektivisch aufgesplittet: „Monster“
Der große japanische Menschenporträtist Hirokazu Kore-eda gießt seine Kunst in „Monster“ diesmal in ein perspektivisch aufgesplittetes Drama über einen Jungen, dessen alleinerziehende Mutter glaubt, dass ihr Sohn an der Schule gemobbt wird. Ihr Verhältnis ist herzlich, aber auch distanziert, weshalb die Mutter vorsorglich bei der Schuldirektorin vorstellig wird und auf Übergriffe durch den Klassenlehrer insistiert. Bei den Pädagogen aber stößt sie auf ein so seltsames Verhalten, dass ihre schlimmsten Befürchtungen wahr zu sein scheinen.
„Monster“ enthüllt hingegen Schicht für Schicht und in immer neuen Anläufen, dass die meisten Unterstellungen und vorschnellen Annahmen der Mutter, aber auch anderer Protagonisten in die Irre gehen; mehr noch, dass sie eine Kaskade an fehlgeleiteten Handlungen auslösen, die der Geschichte zunehmend eine dunklere Färbung geben.
„Monster“ ist in drei Erzählstränge strukturiert, die zeitlich ineinandergreifen, aber nicht streng parallel strukturiert sind. Das begünstigt eine reiche Erzählung, die neben der Frage nach dem, was wirklich geschehen ist, viel Raum für andere Aspekte lässt und vor allem den Strang um den etwa zehnjährigen Jungen und dessen Freundschaft mit einem Kameraden, der durch seine kindliche Art andere zu Übergriffen verleitet, mit enormer Hingabe und erzählerischer Meisterschaft entfaltet. Die „olympische“ Perspektive des Regisseurs und mit ihm des Publikums ist allerdings nur retrospektiv zu haben, im Blick zurück, der Missverständnisse aufklärt und Wahrheiten ins Licht rückt; auf der Bühne des Lebens oder der eines Festivals wie dem in Cannes aber wäre das nur aus einem unendlichen Abstand heraus möglich.