© Memento Films ("About Dry Grasses")

Cannes #2 - Im Kino!

Montag, 22.05.2023 17:15

Warum das Kino noch immer ein Ort des ästhetischen Überschusses ist. Beobachtungen zu den neuen Filmen von Nuri Bilge Ceylan, Wim Wenders und Wang Bing

Diskussion

Ästhetisch oder dramaturgisch ausgeklügelte Filme treffen in Cannes auch technisch auf Bedingungen, die ihre Qualitäten zum Strahlen bringen. Das hilft insbesondere Filmen, deren Hauptaugenmerk nicht auf dem Plot liegt. Beobachtungen zu den neuen Filmen von Nuri Bilge Ceylan, Wim Wenders und Wang Bing.


Es gibt wahrscheinlich nicht viele Orte, an denen die Ausstattung der Kinos, ihre Leinwände, Projektoren und Sound-Anlagen so perfekt mit den Filmen korrespondieren wie in großen Festivalsälen in Cannes. Das kommt insbesondere jenen Werken entgegen, die es weniger auf den Plot als vielmehr auf eine Immersion des Publikums abgesehen haben, auf ein intensiveres Eintauchen und Sich-Versenken, als dies grundsätzlich mit filmischen Welten verbunden ist.

So resultiert die Faszination von Wim Wenders' grandioser 3D-Hommage „Anselm“ auch aus der Brillanz, mit der man vom ersten Augenblick an in den eigenwilligen Kosmos des Malers Anselm Kiefer gesogen wird; obwohl oder gerade weil auf dessen erdig-grauen Leinwänden alles Leuchtende oder Farbenfrohe einen vergeblichen Kampf gegen die Drift der Schatten führt. Wenders' stereoskopische Filmkunst erweitert Kiefers Gemälde, die so riesig sind, dass man sie in Ausstellungen selten auf einen Blick erfassen kann, um zusätzliche Dimensionen; auf unterschiedlichste Weisen verräumlicht und kontextualisiert die 3D-Fotografie die sperrigen Bildtafeln und bindet sie in immer neue Erzählungen und Bezüge ein.


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Hinzu kommt eine biografische Ebene, die aus Kiefers Leben und der Werkgeschichte der Gemälde und Installationen fragmentarische Elemente addiert, wobei die Chronologie zugleich trickreich gebrochen wird, weil Kiefer von drei Darstellern in unterschiedlichen Lebensaltern asynchron immer wieder fragende Blicke aufs eigene Werk wirft.


Auf Tschechows Spuren: Nuri Bilge Ceylan

Das ist Kino in seiner avanciertesten Form, wie man es auf einem Festival wie in Cannes glücklicherweise immer wieder erlebt. Noch klarer als andernorts merkt man hier, dass Filme sich erst im Kinosaal wirklich öffnen und in einer Weise mit dem Publikum korrespondieren, die man auf all den digitalen (Home-Cinema-)Screens meist schmerzlich vermisst.

Zu den exzeptionellen Filmkunstwerken, die sich erst auf der großen Leinwand voll entfalten, zählen in diesem Jahr auch einige drei- oder noch mehrstündigere Werke, die sich in ihren Narrationen allesamt nicht auf ihre Geschichten reduzieren lassen. Bei dem türkischen Autorenfilmer Nuri Bilge Ceylan hätte die Zusammenfassung eines Plots auch dann schon nicht funktioniert, als er noch weitgehend auf Dialoge verzichtete; seit „Winterschlaf“ (2014) aber hat sich Ceylan kurioserweise aufs Gegenteil verlegt und versucht jetzt, möglichst lange Monologe und Streitgespräche unterzubringen; seinem jüngsten, 197 Minuten langen Werk „About Dry Grasses“ gibt das über Strecken fast den Anschein eines Tschechow’schen Dramas.

Nuri Bilge Ceylan bei den Dreharbeiten zu "About Dry Grasses" (Memento Film)
Nuri Bilge Ceylan bei den Dreharbeiten zu "About Dry Grasses" (© Memento Films)

Im Zentrum steht ein mit sich, seiner Situation und der Welt unzufriedener Kunstpädagoge, der in Ostanatolien Kinder das Zeichnen beibringen soll. Er lebt mit einem Kollegen vor Ort, mit dem er zusammen eine anonyme Missbrauchs-Beschwerde überstehen und eine komplizierte Dreiecksbeziehung mit einer Kollegin ausbalancieren muss. Zunehmend entpuppt er sich dabei als ambivalenter Charakter, der ungefähr im gleichen Maße für sich einnimmt wie er irritiert und abstößt. In vielen Szenen ringt er wortreich mit sich und dem Schicksal; und obwohl er ein zupackender, dominanter Typ ist, gewinnen auf Dauer doch melancholisch-nihilistische Töne die Oberhand.

Gefilmt ist das alles weiterhin in der für Ceylan typisch brillanten CinemaScope-Ästhetik inmitten einer tief verschneiten Winterlandschaft, die die Menschen in Innenräume zwingt und viele Konflikte eher einfriert, als einer Lösung zutreibt. Auch der Titel, der auf den fehlenden Frühling in dieser Region anspielt, da nach dem langen Winter gleich der Sommer folgt, in dem das Gras schnell von der Sonne ausgedörrt wird, erschließt sich erst spät und enthüllt erst kurz vor Schluss den Faden, an dem das weitgespannte Netz der betörenden Bilder und Dialoge aufgehängt ist.

Doch inmitten dieser breit mäandernden Erzählstränge tauchen immer wieder außergewöhnliche Porträt-Fotografien auf, die durch ihre starken Kontraste und eine große Tiefenschärfe hervorstechen. Sie stammen vom Protagonisten, der Menschen aus der Gegend meist in Zweiergruppen porträtiert und ihnen dabei trotz aller materiellen Armut einen enormen Stolz entlockt. An diesen kunstvollen Aufnahmen zerschellt insgeheim sogar der grimmige Unmut des Lehrers, der in diesen Fotografien tiefere Wahrheiten enthüllt, als er sich selbst einzugestehen in der Lage wäre. Das ist ein visueller, aber auch inhaltlicher Überschuss, der „About Dry Grasses“ genauso überragt wie wahrscheinlich auch die Sicht seines Regisseurs Nuri Bilge Ceylan: als eine Kunst, die sich bei weitem nicht in den Intentionen ihrer Macher erschöpft.


Die Wahrheit des Seriellen: Wang Bing

Ob sich ähnliches auch über die Werke des chinesischen Dokumentaristen Wang Bing sagen ließe, ist weniger ausgemacht, da sich diese durch ihre extreme Länge von teilweise zehn und mehr Stunden viel schwerer erschließen und auf bildästhetische Brillanz eher weniger Wert legen. Sein aktueller Cannes-Film „Youth“ ist mit 212 Minuten vergleichsweise kurz und im Unterschied zu „About Dry Grasses“ optisch recht einfach gehalten. Seine eigentümliche Qualität resultiert paradoxerweise aus dem dramaturgischen Nutzen der Länge und vieler scheinbarer Redundanzen, die sich im Rückblick geradezu als Schlüssel entpuppen.

Unablässig taucht die Handkamera in lärmende, nur von Neonlampen beschienene Produktionshallen der nahe Shanghai gelegenen Stadt Zhili ein, in der rund 300.000 junge Wanderarbeiter aus ärmeren Provinzen im Akkord Kinderkleidung produzieren, bunte Hosen, Jacken und wattierte Mäntel, manchmal auch Kleider mit Rüschen.

In immer neuen Einstellungen sitzt der Film an den ratternden Maschinen und hört den Gesprächen, Rangeleien oder Liebesschwüren der Menschen zu, die währenddessen mit atemberaubender Geschwindigkeit Reißverschlüsse einnähen, Hosenbeine säumen oder Logos, Perlen und andere Schmuckelemente applizieren. Mit kurzen Inserts werden die von einem Patron geführten Betriebe mit ihren zwanzig bis dreißig Arbeitern kurz adressiert, außerdem werden Name, Alter und Herkunft der jeweiligen Protagonisten in einer Einstellung eingeblendet.

"Youth" von Wang Bing (Gladys Glover)
"Youth" von Wang Bing (© Gladys Glover)

Für die Dauer einer vielleicht fünfminütigen Szene erfährt man eine Menge über die Befindlichkeiten und Nöte der fast noch jugendlichen Arbeitenden, ohne dass sich dabei biografische Zusammenhänge ergeben würden, da es gleich darauf im nächsten Sweatshop ganz ähnlich oder nur wenig variiert zugeht und man in einen geradezu unendlichen Fluss des Immergleichen gezogen wird, nur dass die Gesichter und Personen wechseln; gelegentlich tauchen zwar einzelne Protagonisten wieder auf oder deuten sich Mini-Erzählungen an, die allerdings nicht weiterverfolgt werden. Stattdessen vermittelt sich, je länger der Film währt, desto mehr ein generalisierender Eindruck von den bedrängenden Verhältnissen, unter denen die jungen Menschen die prägendsten Jahre ihres Lebens verbringen: in künstlich ausgeleuchteten Höhlen voller Lärm und Staub, wo es nur auf riesige Stückzahlen ankommt und niemand den Müll beseitigt, der achtlos auf den Boden geworfen wird. Auch in den Schlafsälen, meist ein Stockwerk höher gelegen, dominiert trostlose Ödnis; auf dem Gang vor den Türen türmt sich der Abfall; gelegentlich blickt die Kamera auch auf die Straße hinunter, wo sich hunderte Sweatshops aneinanderreihen und zum Eindruck betongrauer Wohn- und Arbeitskasernen verdichten.

Die herausfordernde Kunst des Dokumentaristen Wang Bing presst diese Beobachtungen nicht in erklärende Dialoge oder individuelle Erzählungen, sondern nutzt die filmische Dauer ohne Angst vor Redundanzen und Wiederholungen, um an einer ökonomischen Welt teilhaben zu lassen, auf der die enormen Wachstumsraten der chinesischen Volkswirtschaft fußen. Der Film entstand ohne staatliche Förderung oder Genehmigung zwischen 2014 und 2019 und soll Auftakt einer ganzen Reihe von ähnlichen Langzeitstudien sein. Ihren Platz haben dieser Werke allerdings ausschließlich im Kino und das zumeist auch nur auf Festivals, da Werke wie „Youth“ in Deutschland allerhöchstens noch in Kommunalen Kinos zu finden sind.

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