© Les Films Pelléas (aus „Anatomy of a Fall“)

Cannes #3 - Abgründiges Wummern

Mittwoch, 24.05.2023 16:10

Notizen zu den Wettbewerbsfilmen von Jonathan Glazer und Justine Triet

Diskussion

Das Auschwitz-Drama „The Zone of Interest“ von Jonathan Glazer gilt vielen schon als „Palmen“-Anwärter, doch die Radikalität des außergewöhnlichen Dramas lässt das auch zweifelhaft erscheinen. Dafür bringt sich Sandra Hüller mit zwei glänzenden Darbietungen als beste Darstellerin ins Gespräch, insbesondere als kühle deutsche Schriftstellerin in „Anatomy of a Fall“ von Justine Triet.


In Cannes scheint endlich die Sonne, über dem Meer und an der Croisette, aber auch beim Festival, das bislang freilich nur klimatisch mit mäßigen Temperaturen zu kämpfen hatte. Denn die Filme sind fast durchweg überraschend, spannend und mitunter extrem herausfordernd, weshalb es zur Festivalmitte bereits etliche Kandidaten für die „Palmen“ gibt.

An erster Stelle wird dabei die radikale Dramatisierung des Holocaust durch Jonathan Glazer genannt, der in „The Zone of Interest“ das gleichnamige Buch des am 19. Mai verstorbenen Autors Martin Amis für ein raffiniertes Spiel über die Bande nutzt und in seiner schockierenden (Nach-)Wirkung durchaus an „Shoah“ von Claude Lanzmann heranreicht. Die große Wucht von Glazers Film hat viel mit der konzeptionellen Strenge der Inszenierung zu tun, die durchgängig aus der Halbdistanz auf die Familie des KZ-Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, und seiner Frau Hedwig blickt, die in einer Villa außerhalb des Vernichtungslagers mit ihren fünf Kindern und mehreren Bediensteten leben.


     Das könnte Sie auch interessieren:


Wenn man die lange, von einem abgründigen Wummern bestimmte Titelsequenz einmal weglässt, die den Film in der Jetztzeit verankert und das Grauen des Folgenden intoniert, hebt der Film mit einer bestechenden Idylle an. Inmitten einer friedlich-grünen Natur hat sich eine Familie an einem Flussufer niedergelassen. Die Blätter rauschen im Wind, Kinder vergnügen sich im Wasser, abends kehren die Ausflügler in zwei schwarzen Limousinen in ihr herrschaftliches Haus zurück.

The Zone of Interest (© A24/Extreme Emotions)
The Zone of Interest (© A24/Extreme Emotions)

Erst am nächsten Morgen realisiert man, dass das Anwesen unmittelbar an der Mauer des KZs liegt, aus dem immer wieder Schreie, Schüsse und ein düsteres Grollen herüberdringen; doch bis auf die Silhouette eines Wachturms und dem Rauch und Feuer spuckenden Schlot des Krematoriums bleiben die Todesmühlen von Auschwitz-Birkenau strikt außerhalb des Bildes. „Ein Paradies“, schwärmt Hedwig, als sie ihre Mutter durch den Garten führt, hinter dessen betongrauer Wand im selben Augenblick hunderte Menschen geschoren, entkleidet, vergast, ihrer Goldzähne beraubt und verbrannt werden.


Mit weicher Stimme

Aus dieser Diskrepanz zwischen bieder-herrischer Bürgerlichkeit und dem Wissen um den industriell organisierten Massenmord erwächst eine atemlose Spannung, die keine Auflösung zulässt, sondern bis zum Schluss an den unerträglichen Widersprüchen festhält. Während Hedwig zum Kaffeekränzchen lädt, empfängt der Kommandant zwei Manager von Topf & Söhne, die ihm die neuen Krematorien in Auschwitz II erläutern, welche im Dauerbetrieb beladen und betrieben werden können. Abends legt er sich dann zu seinen Töchtern ins Bett und liest ihnen mit weicher Stimme Märchen vor.

Mehrmals schaut die Kamera dem von Christian Friedel gespielten Höß schlicht dabei zu, wie er abends durch das Haus geht, eine Lampe nach der anderen löscht, die Türen schließt und sich dann schlafen legt. Es gibt keine Psychologie, keine Angst, keine Albträume; nur zwei mit der Wärmekamera fotografierte Sequenzen, in denen ein namensloses Mädchen nachts Obst und Kartoffel für die Gefangenen am Wegrand versteckt.

Die konzentrierte Stille und der streng registrierende Gestus der Aufnahmen, die nichts erklären oder forcieren wollen, bedingen eine enorme Konzentration, die auch bei eher handlungsorientierten Passagen nicht schwindet, etwa wenn Höß bei einem Bootsausflug mit seinen Kindern in KZ-Abwässer mit menschlichen Überresten gerät oder er im Sommer 1943 nach Berlin versetzt wird, was zu einer handfesten Ehekrise führt, weil seine Frau (biestig-deutsch: Sandra Hüller) das Anwesen in Auschwitz auf keinen Fall verlassen will.

Auch für die Anbindung des Films an die Gegenwart findet Glazer einen visuell und dramaturgisch bezwingenden Dreh, wenn er Höß in einem Moment höchster Macht für einen Augenblick schwächeln lässt und das zu einem Zeitsprung in die heutige Ausstellung auf dem Gelände des KZ in Auschwitz nutzt, das vom Museumspersonal gerade für den nächsten Besucheransturm hergerichtet wird. Ob sich dieser meisterhafte Film am Ende aber wirklich unter den „Palmen“-Trägern findet?


Gefragt: Sandra Hüller

Bei der „Palme“ für die beste weibliche Darstellung lässt sich das derzeit vielleicht etwas sicherer spekulieren, da Sandra Hüller nicht nur als Hedwig Höß eine bravouröse Leistung bietet, sondern noch weit mehr in „Anatomy of a Fall“ von Justine Triet mit außergewöhnlichem und höchst nuanciertem Spiel glänzt. Hüller verkörpert eine deutsche Schriftstellerin, die sich vor einem französischen Gericht gegen den Vorwurf verteidigen muss, ihren Ehemann vom Balkon eines Chalets bei Grenoble in den Tod gestoßen zu haben. Sie beteuert ihre Unschuld und spricht von einem Suizid, der bullige Staatsanwalt ist vom Gegenteil überzeugt und bemüht auch ihre Bücher, um sie als Schuldige zu überführen.

Anatomy of a Fall (© Les Films Pelléas)
Anatomy of a Fall (© Les Films Pelléas)

Der Film, der zu großen Teil im Gerichtssaal spielt, entwickelt sich nach einem etwas schleppenden Beginn im Ringen um die Frage, was wirklich geschah, zu einem packenden Beziehungsdrama, da im juristischen Schlagabtausch die komplizierten Verhältnisse in der Familie eine immer größere Rolle spielen, zu der auch ein elfjähriger Junge gehört, der nach einem Unfall sehbehindert ist.

Dabei rückt zunehmend ein handfester Streit der Eheleute ins Zentrum, den der Mann mit dem Handy aufgezeichnet hat und dem man als Flashback beiwohnt. In dem hochfrequenten Schlagabtausch prallen unterschiedlichste Bedürfnisse, Anschauungen, Ansprüche, Wünsche und Sehnsüchte aufeinander, die in ihrer intellektuellen Schärfe ihresgleichen suchen. Wer ist für wen verantwortlich? Wer kümmert sich um wen, wie funktioniert eine Aufteilung zwischen Individuum und Gemeinschaft, sodass jeder zufrieden ist und keiner zu kurz kommt?

Natürlich stößt man in „Anatomy of a Fall“ auch auf eine sehr grundlegende Thematisierung von Geschlechter-Gerechtigkeit, und zwar nicht nur in der Ausbalancierung der Eheleute, sondern insbesondere auch vor Gericht und im medialen Widerschein der Verhandlung. Denn man kommt hier kaum um die Rolle und Bedeutung von „Gender“ herum. Der Furor des Staatsanwalts lässt sich kaum von seinem Geschlecht trennen, und seine Energie, mit der er sich in diesen Fall verbeißt, auch nicht davon, dass die Angeklagte eine selbstbewusste Frau ist, die sich ihrem schwächeren Partner nicht unterordnen wollte.

Justine Triet thematisiert dies keineswegs explizit, und dennoch stellt sich die Frage, wie anders dieses Verfahren vonstattenginge, wenn die Angeklagte keine Frau oder der Ankläger kein Mann wäre. Das hat hier dann aber nicht mehr mit simpler Arithmetik oder Verteilungskämpfen zu tun, sondern bringt eine grundsätzlichere Ebene ins Spiel, die bei der Suche nach Gerechtigkeit künftig wohl stärker mitgedacht werden muss.

Kommentar verfassen

Kommentieren