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Mit und ohne VR: Das 40. Filmfest München

Ein Rückblick auf das 40. Filmfest München (23.6.-1.7.2023), das zwar einen Tag kürzer war, aber mit vielen interessanten Filmentdeckungen aufwartete

Veröffentlicht am
24. November 2023
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Das Filmfest München feierte sein 40. Jubiläum zwar etwas auf Sparflamme, überraschte aber mit vielen interessanten Filmentdeckungen. Insbesondere in der Reihe „Neues deutsches Kino“ erregten fremd- und mehrsprachige Arbeiten große Aufmerksamkeit. Und auch das Interesse für Werke aus inzwischen eher unbekannteren Filmländern wie Japan oder Italien zeichnete das Filmfestival aus, das sich mit einer wachsenden Zahl an Weltpremieren zudem für die nähere Zukunft rüstet.


Wer eine VR-Brille trägt, kann rosarot in die Zukunft blicken. Die schöne neue virtuelle Realität verspricht eine strahlende Zukunft („Wo heute noch Bagger rollen, werden bald blühende Seen entstehen“), untermalt mit Säuselmusik, sodass die Benutzerin der Brille ganz entrückt durch ihr Wohnzimmer läuft. Ihr Mann dagegen braucht nur einen Blick auf das elektronische Spielzeug zu werfen: „Na, dann kann ich ja nur hoffen, dass ich das nicht mehr erleben muss!“ Michael hat nach 40 Jahren Arbeit im Tagebau dezidierte Ansichten zur Bedeutung seiner Tätigkeit und spart nicht mit Verachtung für diejenigen, die diese schlechtreden oder stilllegen wollen und stattdessen von einer Touristenattraktion träumen.

Doch die Gewissheiten, die der Protagonist des Dramas „Fossil“ von Henning Beckhoff vor sich herträgt, schwinden zusehends. Michaels Tochter mischt bei den Aktivisten mit, die Sabotageaktionen gegen den Tagebau planen, ein Kollege nimmt sich das Leben, in der Firma führt eine „Transformatorin“ Gespräche über Neuorientierung. Selbst der kleine Enkel ist unbeeindruckt von der riesigen menschengemachten Grube, in der Michael arbeitet. Eher interessieren ihn noch Fundstücke wie Millionen Jahre alte Versteinerungen, die sein Opa dort entdeckt haben will.

Wenn eine Welt untergeht: "Fossil" (Filmfest München 2023)
Wenn eine Welt untergeht: "Fossil" (© Filmfest München 2023)

Sich an das Alte zu klammern oder – als Nachahmung der Aktivisten – daran festzuketten, wird in dem fein entwickelten Film mehr und mehr zur Verzweiflungstat, wobei Beckhoff und sein Hauptdarsteller Markus Hering die tendenziell nicht unbedingt sympathische Figur in ihrer Sturheit sogar ergreifend gestalten. Denn auch wenn Michael ein Mann von gestern ist, führt „Fossil“ doch plastisch vor, was es bedeutet, wenn eine Welt untergeht.


Ein Jubiläumsfestival auf Sparflamme …

Mit „Fossil“ steuerte Beckhoff einen der Höhepunkte zur Reihe „Neues deutsches Kino“ beim Filmfest München 2023 (23.6.-1.7.2023) bei und gewann verdient den Preis der Kritikergemeinschaft FIPRESCI. In mancher Hinsicht stand das Festival zum 40. Jubiläum auch vor vergleichbaren Fragestellungen wie dieser Film. Die stets relevanten Fragen nach der Wertschätzung in der aktuellen Filmlandschaft und der Öffnung für die Zukunft stellten sich 2023 noch einmal mit besonderer Dringlichkeit, nachdem Festivaldirektorin Diana Iljine nach zwölf Jahren ihren vorzeitigen Abschied verkündet hatte. Der schwankende Etat des Filmfest München sorgt schon seit Jahren für wechselnde Programm-Umfänge; und die 2019 noch lautstark verkündete Förderung durch den Bayerischen Staat scheint über Corona komplett vergessen worden zu sein. Dass sich daran etwas ändert, lässt sich angesichts einer Digitalministerin Judith Gerlach nicht erwarten, die sich bei der Eröffnung einmal mehr nur über München als Produktionsstätte und Heim digitaler Filmspezialisten ausließ und damit am Wesen des Filmfest München konsequent vorbeizielte.

Die mit den Kosten begründete Verkürzung des Festivals um einen Tag warf einen zusätzlichen Schatten auf die Jubiläumsausgabe, und auch die 58.000 Besucher nehmen sich im Vergleich zu früheren Jahren eher bescheiden aus. Ein Schwund, der parallel zum Eindruck nachlassender Starpower im letzten Jahrzehnt erscheint – darin der „Berlinale“ nicht unähnlich – und einer sehr auf Sparflamme inszenierten Geburtstagsfeier einherging, bei der gerade einmal fünf Filme in Erinnerung an die Festivalgeschichte gezeigt wurden. Angesichts von vier bewegten Dekaden ist das eine ziemlich geringe Ausbeute.


… aber mit vielen filmischen Entdeckungen

Das waren Begleitumstände und offene Fragen, die die Wahrnehmung des 40. Filmfests München ein wenig trübten, sich im Festivalverlauf allerdings in den Hintergrund drängen ließen. Die etablierten Münchner Reihen präsentierten sich auf einem ansprechenden Niveau, das noch mehr als in früheren Jahren neben den Übernahmen wichtiger europäischer und US-amerikanischer Festivals von Entdeckungen befördert wurde. Selbst die Reihe „Neues deutsches Kino“ präsentierte sich so international orientiert und vernetzt wie noch nie; ein klassisch aufgebautes Milieudrama wie „Fossil“ oder auch der vergleichbar beeindruckende Film „Monster im Kopf“ von Christina Ebelt über eine schwangere Strafgefangene, der in geschickt verschachtelten Rückblenden erzählt, wie die durch aggressive Schübe charakterisierte Frau ins Gefängnis gekommen ist, waren fast schon Außenseiter.

"Monster im Kopf" von Christina Ebelt (Filmfest München 2023)
"Monster im Kopf" von Christina Ebelt (© Filmfest München 2023)

Fremd- oder mehrsprachig inszenierte Arbeiten dominierten hingegen und stachen mit dem auf Farsi gedrehten Drama „Leere Netze“ von Behrooz Karamizade auch heraus. „Leere Netze“ zeigt, wie sich filmisch elegant von der Verstrickung in kapitalistische Abhängigkeiten erzählen lässt, ohne in schlichte Lehrhaftigkeit zu verfallen. Der junge Iraner Amir heuert als Fischer an, um bei den Eltern seiner Freundin eine Chance zu haben. Doch schon die Notwendigkeit, an seinem Arbeitsplatz am Kaspischen Meer auch wohnen zu müssen, bringt ihn in die Abhängigkeiten. Um überhaupt etwas Profit zu haben, drängt er auf zusätzliche Verdienste, indem er sich an Wettkämpfen im Fischfang und illegalen Kaviar-Geschäften beteiligt. Trotzdem tritt er auf der Stelle. Die wachsende Skrupellosigkeit, mit der er an Geld zu gelangen versucht, bringt ihn seiner Freundin nicht näher, sondern entzweit die beiden.

Abseits der sonst üblichen Themen bei kritischen Einlassungen auf die iranische Gesellschaft enthüllt der atmosphärisch sehr packende Film die verkrusteten Strukturen und moralische Korruption, die es der Jugend unmöglich machen, ihre Träume zu verwirklichen – und findet mit dem feindselig aufgeschäumten Meer ein treffendes Bild dieser fehlenden Perspektiven.


Ratlos, wie es weitergehen soll

Der Eindruck von Ratlosigkeit, was die persönliche Zukunft angeht, war bei den jungen Protagonistinnen und Protagonisten beim Filmfest München 2023 allgemein verbreitet. Die Hochschul-Abschlussfilme „Boyz“ und „Dead Girls Dancing“ präsentieren Männer- beziehungsweise Frauengruppen Anfang Zwanzig mit einer eher leichtgestimmten Haltung zum Leben, die sich (auch bedingt durch dramaturgische Uneinheitlichkeit) teils frappierend in Richtung argloser Selbstbezogenheit entwickelt. In „Südsee“ von Henrika Kull ist es die von Liliane Amuat gespielte Filmemacherin Anne, die sich in einem israelischen Ferienhaus nur ansatzweise mit Ideen zu einem neuen Projekt trägt. Stattdessen vertändelt sie ihre Zeit in Gesprächen mit einem in Deutschland arbeitenden Schauspieler (Dor Aloni), während die Raketen der Hamas eine permanente, aber von den Gästen der Residenz ausgeblendete Bedrohungslage schaffen.

„Südsee“ lebt letztlich von der pointierten Verknappung, die in den ambitionierten Ensemblefilmen der „Deutschen Reihe“ nicht immer gelingen wollte. „Black Box“ von Asli Özge führt die Bewohner aus Berliner Mietshäuser, die sich einen Hinterhof teilen, als Zwangsgemeinschaft zusammen, die alle durch einen dubiosen Makler in ihrer Wohnsituation bedroht sind. Aufgrund einer unklaren Sicherheitslage mit polizeilicher Absperrung werden sie eines Tages obendrein in den Hof und ihre Wohnungen eingepfercht. Je mehr „Black Box“ die Befindlichkeiten des sehr divers angelegten Figurenarsenals ausbreitet und die vermeintliche Terrorgefahr mit den manipulativen Aktionen des Maklers kurzschließt, verliert er sich jedoch in wachsenden Unwahrscheinlichkeiten.

Stress in einem Berliner Mietshaus: "Black Box" (Port au Prince/Julian Atanassov)
Stress in einem Berliner Mietshaus: "Black Box" (© Port au Prince/Julian Atanassov)

Mit diesem Problem kämpft auch „More Than Strangers“ von Sylvie Michel. Allerdings gelingt es der Regisseurin über eine via Mitfahrgelegenheit zusammengewürfelte fünfköpfige Gruppe, die Motivationen der Figuren glaubwürdiger zu gestalten und ihre konstruierten Reibungen mit Dialogstärke aufzuwerten. Zudem ist der gleichförmige Handlungsverlauf einer Fahrt von Berlin nach Frankreich (Autoetappe, Pause, Autoetappe usw.) formal immerhin abwechslungsreich umgesetzt; die Besetzung der Wageninsassen sorgt überdies für ein lebhaftes Sprachgemisch aus Deutsch, Englisch, Französisch und Griechisch.

Die polyglotte Ausrichtung der deutschen Filme in München erwies sich überhaupt als bereichernde Erfahrung und zeichnete auch stärker genreorientierte Beiträge aus, etwa den stilsicheren, wenn auch überzogenen Nacht-Neo-Noir „Schock“ von Denis Moschitto und Daniel Rakete Siegel oder den im Meer vor Malta spielenden Tauchthriller „The Dive“ von Maximilian Erlenwein.


Die dunkleren Bereiche der Wirklichkeit

Vor allem die deutschen Genre-Filme kündeten von einer Bereitschaft zu herausfordernden harten Sequenzen, womit sie beim 40. Filmfest München durchaus im internationalen Trend lagen. Auch in den anderen Sektionen präsentierten die Filme keine Erzählungen im Schongang, sondern drangen bevorzugt in die dunkleren Bereiche von Menschheit und Welt vor. Dabei war es kein grundsätzlicher Widerspruch, dass in der wie gewohnt überwiegend aus Übernahmen des Festivals in Cannes bestehenden „CineMasters“-Sektion auch die neuesten Arbeiten von Hirokazu Kore-eda und Aki Kaurismäki glänzen durften. Handeln doch auch „Monster“ und „Fallende Blätter“ von Gewalt, Kälte und Ungerechtigkeit, nur dass diese beiden Meister des Kinos dem ihre gewohnte warmherzige Inszenierung und den Glauben an Liebe, Mitgefühl und Zusammenhalt entgegenstemmen.

Ähnliches lässt sich auch über „Love Life“ von Koji Fukada sagen, auch wenn der Film über ein tragisches Unglück und die Zerrüttung einer Familie eher auf einen Neuanfang der kleinen Schritte und eine ambivalente Auflösung zusteuert. Und es gilt selbst für „Olfas Töchter“ von Kaouther Ben Hania, einen komplexen Verbund dokumentarischer und nachinszenierter Szenen (inklusive direkt mitbedachtem „Making of“) über eine Tunesierin und ihre vier Töchter, von denen zwei zu radikalen Anhängerinnen des „Islamischen Staats“ wurden. Der Film ist bedrückend in dem, was er über die Entwicklung der Mädchen und damit auch über ungeklärte Probleme der tunesischen Gesellschaft erzählt. Im Miteinander der Mutter, ihrer bei ihr gebliebenen jüngeren Töchter und der Schauspielerinnen, die die beiden älteren Töchter verkörpern, ist er aber auch von intimer Nähe, guten Erinnerungen und sogar Humor geprägt.


Blick in unbekanntere Filmländer

Zu den verlässlichen Eigenschaften des Filmfest München gehörte auch 2023 die Begegnung mit Filmländern, die in der normalen deutschen Kino- (und Streaming-)Auswertung kaum eine Rolle spielen. Das gilt in der heutigen Zeit nicht nur für Japan, sondern auch für das mit einigen bemerkenswerten Arbeiten in München repräsentierte Filmland Italien, für afrikanische Staaten wie Tunesien, den Senegal (mit „Banel & Adama“) und die Demokratische Republik Kongo (mit „Augure“) oder auch für Kanada. So ließen sich in der „CineMasters“-Auswahl gleich zwei Filme aus Kanada entdecken, wobei sich „Brother“ von Clement Virgo als epische Erzählung vom Aufwachsen zweier schwarzer kanadischer Brüder im Toronto der 1990er-Jahre entfaltet, die in ihrer Detailgenauigkeit, schauspielerischen Klasse und Intensität unbedingt zu den preiswürdigen Filmen gezählt werden muss.

Bemerkenswert: "Banel & Adama" (La Chauve-Souris/Take Shelter)
Bemerkenswert: "Banel & Adama" (© La Chauve-Souris/Take Shelter)

Demgegenüber lässt sich „Une femme respectable“ des frankokanadischen Regisseurs Bernard Émond zwar als konsequent in strengen Totalen gedrehtes Historiendrama schätzen, das gleichwohl recht vorhersehbar von der emotionalen Öffnung einer gut gestellten Frau gegenüber den drei Mädchen erzählt, die ihr untreuer Ehemann mit einer Geliebten gezeugt hat. „Une femme respectable“ war eine von insgesamt sechs Weltpremieren (jenseits der deutschen Produktionen) in München, womit das Filmfest in diesem Jahr weiteres Neuland betrat. Zu diesen sechs Filmen zählten unter anderem auch das eher stereotype US-Teenagerdrama „Edge of Everything“ und ein französischer Ausflug in die Duell-Unsitte des späten 19. Jahrhunderts mit „Une affaire d’honneur“, Werke, die für sich genommen noch nicht unbedingt dafür sprechen, dass München sich international als Premierenort neben den A-Festivals etabliert. Wohl aber zeugt die Öffnung des Festivals für Weltpremieren davon, dass das Filmfest sich nicht auf seinen 40 Jahren ausruhen will, sondern weiterhin hohe Ambitionen verfolgt. Auf die künftigen Ausgaben, die 2024 und 2025 vorerst von dem bisherigen Künstlerischen Leiter Christoph Gröner als Interimschef verantwortet werden, kann mit einiger freudiger Erwartung geblickt werden. Auch ohne VR-Brille.

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