© Ingo Petzke (Dore O. 1973 in Värmland)

Buchtipp: „Figures of Absence. The Films of Dore O.“

Auf schwankendem Pfad zu neuen Ufern: Über ein Buch zum Werk von Experimentalfilm-Künstlerin Dore O.

Veröffentlicht am
27. September 2023
Diskussion

Unter dem Titel „Figures of Absence. The Films of Dore O.“ hat das Filmbüro NRW im Frühjahr ein Buch herausgebracht, das an das Werk der deutschen Experimentalfilmerin Dore O. erinnert. Als Mitbegründerin der Hamburger Filmmacher-Cooperative tat sie sich ab den späten 1960er-Jahren zusammen mit ihrem Mann Werner Nekes in der Film-Avantgarde hervor. Filmemacher und Filmwissenschaftler Ingo Petzke, ein Wegbegleiter der Künstlerin, gleicht den reich bebilderten Band mit eigenen Erinnerungen ab.


Das Frühwerk von Dore O., die Filme zwischen 1968 und 1976, erschien im November 2022, behutsam restauriert, auf DVD und wurde damit einer jüngeren Generation erneut (oder gar erstmals) zugänglich gemacht. Der Verband der deutschen Filmkritik verlieh ihr kürzlich den Ehrenpreis der deutschen Filmkritik – längst überfällig und hochverdient. Filmprogramme laufen momentan in Paris, Köln, Hamburg, in ihrer Heimatstadt Mülheim an der Ruhr, Berlin und London; für Toronto und Montreal sind solche in Planung. Und nicht zuletzt ihr Verschwinden am 22. Februar 2022 (und ihr Auffinden am 8. März in der Ruhr) machte Schlagzeilen.

Kein Zweifel: Die Filmemacherin und Fotografin Dore O. steht im Mittelpunkt des Interesses. Mal wieder, sollte man wohl besser sagen. Denn jahrelang war es eher ruhig um sie. Dabei ist sie unbestreitbar eine der zentralen Figuren des bundesdeutschen Avantgarde- oder Experimentalfilms, Mitbegründerin der legendären Hamburger Filmmacher Coop, Gewinnerin der „Weltmeisterschaft im Experimentalfilm“ in Knokke 1975 und mehrfach mit Bundesfilmpreisen ausgezeichnete Schöpferin enigmatischer Bilderwelten von oft atemberaubender Schönheit.


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Da trifft es sich gut, dass das schon länger geplante Buch „Figures of Absence. The Films of Dore O.“ im Mai 2023 erschienen ist. Die 248 Seiten mit flexiblem Einband liegen gut in der Hand, trotz des A4-Formats. Das Buch ist üppig bebildert, mit Skizzen und Fotos, in Schwarz-weiß und Farbe, wobei manche Fotoseiten sogar ausfaltbar sind. Persönlich ziehe ich etwas größere Abbildungen, auf denen auch etwas zu erkennen ist, den vielen Filmbildern fast in Originalgröße vor. Vier formatfüllende Seiten mit Filmstreifen nebeneinander machen grafisch sicher etwas her. Aber der Informationsgehalt ist dann doch eher bescheiden.


Eine Publikation in englischer Sprache

Was zunächst eher als eine Art Kunstkatalog geplant war, änderte sich im Verlauf der Arbeit zu einer Monografie. Es handelt sich im vorliegenden Fall also um eine Art Zwitter. Das trifft im Übrigen auch auf die Texte zu, die teilweise neu verfasst wurden, oft aber auch aus dem filmhistorischen Fundus stammen.

Schließt eine Lücke: Der Band zum Werk von Dore O. (© Strzelecki)
Schließt eine Lücke: Der Band zum Werk von Dore O. (© Strzelecki)

Beim ersten Aufschlagen zuckt man allerdings unwillkürlich zusammen: Das Buch liegt nur in englischer Sprache vor. Texte über Experimentalfilm auf Englisch aber sind keine leicht verdauliche Kost (wobei das deutsche akademische Geschwurbel in der durchweg guten Übersetzung aber häufig viel leichtere Kost als im Original ist). Die Wahl der Sprache erfolgte, um Dore O. auch einem im Ausland interessierten Publikum zugänglich zu machen. Das ist ein mehr als löbliches Unterfangen. Dennoch bleibt eine Skepsis, was den deutschen „Markt“ betrifft: Kann so wirklich Verständnis, vielleicht sogar Bewunderung bei einem neuen, jüngeren Publikum geweckt werden?

Die Beiträge lesen sich ganz unterschiedlich. Am wenigsten interessierten mich zunächst die ausführlichen Exegesen über Dore O.s 15 Filme – manchmal einzeln besprochen, manchmal im Vergleich miteinander. Da kann jeder seine Meinung haben, begründet oder unbegründet, der man zustimmt, die man ablehnt oder mit einem Schulterzucken zur Kenntnis nimmt.

Auch im Rückblick wirken die zahlreichen Beiträge von Dietrich Kuhlbrodt für mich am lebendigsten. Sie zeichnen eine Zeit nach, in der vieles möglich schien – vom Aufbruch der Hamburger Filmmacher Coop bis zum allmählich verblassenden Traum, mit Experimentalfilm Geld verdienen zu können. Vom Anspruch, dem Publikum neue Sehweisen nahebringen zu wollen, bis zum Rückzug ins Schneckenhaus der Kunst, während andere längst auf ihren Professuren dem Ruhestand entgegendämmerten.


Es gab auch viel Gegenwind

Auch das selten so deutlich Ausgesprochene zwischen alledem wird benannt: die Grabenkämpfe zwischen den Hamburgern um Nekes und den Kölnern um die Heins; das fast vollständige Verstummen der deutschen Filmkritik, sobald es um Experimentalfilm geht, ganz zu schweigen von den Fernsehanstalten; das Versagen der mit großen Hoffnungen ins Leben gerufenen Filmbüros in Hamburg und Nordrhein-Westfalen, die sozusagen alles förderten, nur nicht den Experimentalfilm. Aber das betraf die ganze Szene, nicht nur Dore O. Die Zeiten, sie waren leider nun mal so.

Persönlich allerdings waren die bizarren Beleidigungen der Autoren Hans Scheugl und Ernst Schmidt jr. in einer ansonsten verlegerischen Großtat des Suhrkamp Verlags, dem zweibändigen „Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms“, das heute völlig undenkbar wäre. Da wird „Kaldalon“ (1971) als „Urlaubsfilm von Wohlstandsfilmern mit schönen Landschaften“ abgefertigt. Nicht weiter verwunderlich ist, dass sich kein eigener Eintrag für Dore O. findet. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ scheint damals ähnlich reagiert zu haben, als anlässlich einer großen Dore-O.-Retrospektive 1974 im Filmmuseum München ein Artikel über die Künstlerin mit der Begründung abgelehnt wurde, jede Theateraufführung in Bochum oder Castrop-Rauxel sei wichtiger.

Auch von ihren eigenen Geschlechtsgenossinnen wurde Dore O. lange nicht akzeptiert, geschweige denn anerkannt. Mehrere Beiträge in „Figures of Absence“ beschäftigen sich mit diesem seltsamen Paradoxon. Dore O. hat sich nicht primär mit der weiblichen Sexualität beschäftigt oder der weiblichen Unterdrückung im gesellschaftlichen Kontext, wie dies in der ersten Welle des Feminismus an der Tagesordnung war. Völlig undenkbar auch, sich Dore O. und Alice Schwarzer als Kampfgenossinnen vorzustellen. Dennoch verwundert die lange Abwertung der kreativen Arbeit und Leistung von Frauen im Allgemeinen und von Dore O. im Speziellen, selbst in der Fachzeitschrift „Frauen und Film“.

Werner Nekes, Dore O. & Klaus Wyborny; undatierte Fotografie, übermalt von Dore O. (© R. & J. Nekes)
Werner Nekes, Dore O. & Klaus Wyborny; undatierte Fotografie, übermalt von Dore O. (© R. & J. Nekes)

Das innere Selbst erforschen

Dore O., das wird in vielen Artikeln deutlich, hat vor allem in ihren früheren Filmen versucht, die „Terra incognita“ des inneren Selbst zu erforschen – daher wohl auch die Verwendung des Begriffs „Expedition“ in ihren Filmbeschreibungen –, als Auswirkungen der Selbsterkenntnis. Sie hat auch imaginäre Reisen unternommen, zur Umsetzung von Vorstellungen und Bildern in ihrem Kopf. Erforscht mit der gebotenen ästhetischen Sensibilität – provisorisch, verletzlich, poetisch, auch enigmatisch.

Genau das hat mich 1971 bis ins Mark getroffen, als ich erstmals „Kaldalon“ auf der großen Leinwand sah. Ute Aurand warnt zu Recht: die Filme von Dore O. verändern sich in der Erinnerung. Sie haben beim erneuten Sehen ein anderes Gesicht! Zum Glück wirken sie aber noch genauso intensiv (und übrigens auch bedeutend frischer und lebendiger als andere Filme der Zeit).

Viele der anglophonen Autoren des Buches vergleichen „Kaldalon“ mit „At Land“ (1944) von Maya Deren. Doch ohne Deren zu nahe treten zu wollen: Sorry, aber „Kaldalon“ hat so viel mehr Tiefe und geheimnisvolle Anziehungskraft als die doch etwas platte psychoanalytische Oberfläche von „At Land“.

Überhaupt gibt es da ein paar Probleme, die ich darauf zurückführen möchte, dass ich irgendwie „old school“ bin. Sind der Feminismus und Dore O.s Einordnung in die Frauenbewegung wirklich so wichtig für ihr Werk, dass gleich das allererste Kapitel des Buches dieser Frage gewidmet sein muss? Ich bezweifle das.


Mit und neben Werner Nekes

Anderes wiederum fehlt mir. Warum findet sich so wenig über die Zusammenarbeit mit oder anderenfalls die Gegensätze zu ihrem langjährigen Ehemann Werner Nekes, immerhin dem Doyen des deutschen Experimentalfilms? Er war der Intellektuelle, der Konzeptionelle, der häufig versuchte, Problemstellungen der Bildenden Kunst in den Film zu übertragen (wie etwa Rollbilder oder Pointillismus). Dore O. hingegen war die mit individueller Imagination und assoziativer Kraft ausgestattete Power-Künstlerin hinter ihren Filmen. Wer Nekes bei Dreharbeiten erlebt hat, erinnert sich, wie häufig er sich mit kleinen Fragen und Bemerkungen bei Dore O. rückversicherte. Im Binnenverhältnis der beiden gäbe es noch einiges zu erforschen. Was total fehlt, ist ein analytischer Vergleich zwischen den Filmen von Dore O. und Werner Nekes. „Hynningen“ und „Kaskara“ böten sich dafür an, die unterschiedlich in der Ausformung, aber ganz ähnlich in der Thematik sind. Beide entstanden weitgehend im Jahr 1973, als beide ihr Sommerrefugium in den värmländischen Wäldern von Årjäng gerade gefunden hatten.

Sicher: Fenster und Türen trennen. Aber sie lassen sich auch öffnen, und dahinter liegt dann das neu gefundene „Paradies“, so anders als belebte oder unbewohnte Fabrikgebäude ihrer Vergangenheit. Diese Filme sind Höhepunkte in beider Filmschaffen. Ohne hier detaillierter darauf einzugehen, scheint mir in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren ihre künstlerische Nähe am deutlichsten zu sein, bevor sie sich dann allmählich wieder voneinander lösen. Vielleicht findet sich auf dieser Ebene auch ein Grund, weshalb Dore O. nach der Jahrtausendwende keine Filme mehr herausbrachte. Die „offizielle“ Trennung von Werner Nekes erfolgte wohl im Jahr 1999.


Eine bleibende Frage

Am Ende der Lektüre von „Figures of Absence“ stellt sich eine große Frage: Vermittelt diese Publikation einen näheren Zugang zum Schaffen von Dore O.? Zu den Filmen der Künstlerin Dore O. zweifellos. Aber zum Menschen hinter den Filmen? Das ist nicht so eindeutig zu beantworten. Dore O. hat Erklärungen gerne für sich behalten. So gesehen ragen die Worte der Einleitung von Masha Matzke heraus. Sie umreißt darin die Künstlerin, ihr Werk und das politische und kulturelle Umfeld ihrer Zeit.

Dankbar kann ich darauf zurückblicken, viele Jahre mit Dore und Werner eng befreundet gewesen zu sein und sogar geholfen zu haben, dass sie ihr Glück im schwedischen Wald fanden. Wir haben immer viel geredet, tage- und nächtelang. Aber erst 2022 musste ich mir eingestehen, dass ich Dore eine ganz essentielle Frage nie gestellt habe. Das sollte für meinen eigenen geplanten Beitrag zum Buch nachgeholt werden, das war meine „Conditio sine qua non“. Doch als Dore mich anrief, lehnte sie ein neues Interview ab und meinte nur, ich wüsste doch alles über sie und könne darüber schreiben. Also habe ich – wie angedroht – nichts für das Buch geschrieben. Und zu dieser Frage findet sich jetzt auch nichts in „Figures of Absence“: Woher hat Dore O. die Stärke gezogen, jahrzehntelang quasi im Windschatten des überragendsten (und eloquentesten) deutschen Experimentalfilmers zu leben und dennoch ein völlig anderes, eigenständiges und genauso überragendes Werk zu erschaffen? Wir werden es leider nie mehr erfahren.


Zum Autor

Ingo Petzke, 1947 bei Osnabrück geboren, ist Filmemacher, Filmwissenschaftler und Autor, war u.a. in der Festivalkommission der internationalen Kurzfilmtage Oberhausen tätig und reüssierte mit eigenen experimentellen Kurzfilmen bei zahlreichen Festivals. Unter dem Label Red Avocado Film verlegt er DVDs zum internationalen Experimentalfilm.


Zum Buch:

Figures of Absence. The Films of DORE O. Women’s Experimental Cinema. Hrsg. von Masha Matzke. Produziert vom Filmbüro NW. Verlag Strzelecki Books, Köln 2023. 248 S., 194 Bilder. 35,00 €. Bezug: in jeder Buchhandlung oder hier.

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