© Netflix (aus „Maestro“)

Venedig 2023 - Treffen der Maestros

Filmfestival Venedig 2023: Das Programm der 80. „Mostra internazionale d’arte cinematografica“

Veröffentlicht am
13. September 2023
Diskussion

Trotz des Super-Streiks in Hollywood sind US-Produktionen im Wettbewerb der 80. „Mostra“ noch recht üppig vertreten, nicht zuletzt dank diverser Netflix-Filme. Ansonsten hat es neben vielen italienischen, französischen und anderen europäischen Werken auch mal wieder eine Arbeit eines deutschen Regisseurs in die „Löwen“-Konkurrenz geschafft: Timm Krögers „Die Theorie von allem“.


Der Super-Streik, der derzeit Hollywood lahmlegt, schlägt seine Wellen bis an den Lido. Seit sich die Schauspieler-Gewerkschaft den Drehbuchautoren angeschlossen und ihre Mitglieder zur Arbeitsniederlegung aufgerufen hat, war zu befürchten, dass sich das auch auf die Präsenz von US-Produktionen und -Stars bei der 80. Ausgabe des Filmfestivals von Venedig auswirken würde, denn bestreikt wird von den Darsteller:innen nicht nur der Dreh von neuen Filmen, sondern auch die Promotion – und dazu gehören auch Roter-Teppich-Auftritte bei Festivals – für bereits fertige Werke. Die Jubiläums-„Mostra“ kostete das ihren Eröffnungsfilm, der Anfang Juli stolz angekündigt worden war: Luca Guadagninos Challengers“, eine US-Produktion mit Zendaya, wurde im Zug des Streiks zurückgezogen. Stattdessen wird nun ein italienischer Film – das Kriegsdrama „Comandante“ von Edoardo de Angelis – die Jubiläumsausgabe eröffnen.


Die USA ist im Wettbewerb üppig vertreten

Für das Filmfestival am Lido, dessen Glamour-Faktor sich nicht zuletzt daraus speist, als Bühne für kommende „Oscar“-Kandidaten zu fungieren, kommt der Streik also denkbar ungelegen. Als am 25. Juli nun das Line-up des Wettbewerbs bekannt gegeben wurde, zeigte sich indes, dass nichtsdestotrotz diverse prominente US-Produktionen in der Konkurrenz um den „Goldenen Löwen“ antreten werden, auch wenn auf dem roten Teppich vor dem Palazzo del Cinema vielleicht manche ihrer Darsteller:innen durch Abwesenheit glänzen müssen. Dazu gehört nicht zuletzt „Priscilla“ von Sofia Coppola, in dem sich die Filmemacherin nur ein Jahr nach Baz Luhrmanns großem „Elvis“-Spektakel dem Mythos Elvis Presley & Graceland von der weiblichen Seite aus nähert, nämlich mit Fokus auf die Vita und die Perspektive seiner Frau Priscilla, die den rund zehn Jahre älteren „King“ bereits im Teenager-Alter kennen- und lieben lernte und 1967 heiratete.

"Priscilla" von Sofia Coppola (Philippe Le Sourd)
"Priscilla" von Sofia Coppola (Philippe Le Sourd)

Ein weiteres Biopic wird Bradley Cooper zum Wettbewerb der „Mostra“ beisteuern: In „Maestro, den Cooper nicht nur inszeniert hat, sondern bei dem er auch am Drehbuch und der Produktion mitwirkte und die Hauptrolle übernommen hat, geht es um Komponist und Dirigent Leonard Bernstein. Im Fokus stehen soll weniger das künstlerische Schaffen, sondern vor allem Bernsteins Ehe mit der chilenischen Schauspielerin Felicia Montealegre (im Film gespielt von Carey Mulligan). Ursprünglich soll Martin Scorsese für die Regie vorgesehen gewesen und dann wegen anderer Projekte abgesprungen sein; für Cooper ist es nun nach „A Star is Born“ seine zweite Regiearbeit.


Netflix einmal mehr im Rampenlicht

Maestro“ wurde übrigens von Netflix produziert – der Streaminganbieter ist einmal mehr bei dem Filmfestival in Venedig stolz vertreten. Auch ein weiterer US-Kandidat, der es trotz des Streiks in die Löwen-Konkurrenz geschafft hat, gehört zum Programm des Streamingriesen: David Fincher, seit seiner Serie „Mindhunter“ mit Netflix verbandelt, präsentiert die Comic-Adaption „The Killer“ nach einer Reihe von Matz und Luc Jacamon. Vom Stoff her denkbar altvertraut– es geht um einen Profikiller, seine hinter Coolness verschanzten Lebenslügen und die Unmöglichkeit, den Panzer des kaltblütig-rationalen einsamen Wolfs ohne Gefühle und Bindungen ständig zu tragen, ohne sich Blößen zu geben – dürfte der Film damit stehen und fallen, wie überzeugend Hauptdarsteller Michael Fassbender aus der Comicfigur einen Menschen aus Fleisch und Blut macht.

Auch die neue Arbeit der afroamerikanischen Regisseurin Ava DuVernay, mit der sie im Wettbewerb der „Mostra“ antritt, ist eine Netflix-Produktion: „Origins“ beruht auf dem mit dem Pulitzer-Preis geehrten Buch „Caste: The Origins of Our Discontents“ der Journalistin Isabel Wilkerson (2020), das den Begriff der „Kaste“ global anwendet und anhand verschiedener Beispiele analysiert, mit welchen sozialen Distinktionen gesellschaftliche Eliten sich abgrenzen und Hierarchien strukturiert werden. Wie und ob es DuVernay gelingen wird, daraus einen dramaturgisch tragfähigen Spielfilmstoff zu machen, dürfte spannend werden.


„Ferrari“ geht endlich über die Ziellinie!

Zu den US-Vertretern im Wettbewerb gehört schließlich auch noch ein Film, auf den viele Fans wohl schon sehnlichst gewartet haben: Michael MannsFerrari“, ein Biopic über Rennfahrer und Sportautokonzern-Gründer Enzo Ferrari, ist, nachdem sich die Produktion aus diversen Gründen gut 15 Jahre hingeschleppt hat, nun endlich reif für die Premiere; die Titelrolle, für die nacheinander Christian Bale und Hugh Jackman im Gespräch waren, wird nun von Adam Driver verkörpert.

"Ferrari" von Michael Mann (Eros Hoagland)
"Ferrari" von Michael Mann (Eros Hoagland)

Eine Flaute an US-Premieren wird es also nicht geben, auch wenn einige Werke, deren Venedig-Premiere durchaus nahegelegen hätte – etwa von Ridley Scotts „Napoleon“ oder dem zweiten „Dune“-Teil – nicht Teil des Programms sein werden. Auch sonst bleibt der aus insgesamt 23 Filmen bestehende Wettbewerb, sogar noch extremer als in früheren Jahrgängen, fokussiert aufs vertraute Spektrum: Neben den USA sind, abgesehen vom neuen Werk von „Drive my Car“-Regisseur Ryusuke Hamaguchi („Evil Does not Exist“) und den beiden Lateinamerikanern Michel Franco („Memory“) und Pablo Larraín („El Conde“, in dem Diktator Pinochet ein Nachleben als Graf-Dracula-mäßiger Vampir erlebt) ausschließlich europäische Produktionen vertreten – schade, dass die Festivalveranstalter mit dem „internazionale“ im Titel der „Mostra“ nicht etwas ernster machen.


Große Bühne fürs italienische Kino

Nicht zuletzt der eigenen Filmkultur hat der italienische Gastgeber einmal mehr (allzu) viel Raum eingeräumt und zeigt neben dem Eröffnungsfilm neue Werke von Saverio Costanzo („Finalmente L’Alba“, ein in den 1950er-Jahren angesiedelter Stoff über „Hollywood am Tiber“ Cinecittà, besetzt mit Stars wie der Engländerin Lily James, Willem Dafoe und Joe Keery), Matteo Garrone („Io Capitano“, ein Flüchtlingsdrama auf den Spuren der Odyssee um zwei Jungs aus Dakar auf dem Weg nach Europa), Stefano Sollima („Adagio“, eine Crime Story), Pietro Castellitto („Enea“) und Giorgio Diritti („Lubo“). Letzteres ist ein Außenseiterporträt aus der Zeit des Faschismus, diesmal in der Titelrolle besetzt mit Franz Rogowski, der schon in „Freaks Out“ und „Disco Boy“ mit italienischen Filmemachern zusammenarbeitete.

À propos deutsch: Tatsächlich hat es 2023 auch endlich mal wieder eine Arbeit eines deutschen Regisseurs in den Wettbewerb der „Mostra“ geschafft: Timm KrögersDie Theorie von allem“ wird als „quantenmechanischer Thriller in schwarz-weiß“ angekündigt und kreist um einen internationalen Physiker-Kongress in den Schweizer Alpen im Jahr 1962.


Frauenpower auf Sparflamme

Ansonsten haben es neben den französischen Regisseuren Luc Besson (mit der Außenseiter-Fabel „Dogman“), Bertrand Bonello (mit der freien Henry-James-Verfilmung „La Bête“ um eine Figur, die dem Schmerz, der mit jedem Leben einhergeht, zu entgehen sucht und gerade dadurch ihr Unglück bewirkt), Stéphane Brizé (mit „Hors-Saison“ um die Wiederbegegnung einstiger Liebender) auch der Däne Nikolaj Arcel (mit dem Historiendrama „Bastarden“) sowie der Grieche Yorgos Lanthimos mit seiner schwarz-weißen, spielerischen Frankenstein-Fantasie „Poor Things“ in den Wettbewerb geschafft.

"Poor Things" von Yorgos Lanthimos (The Walt Disney Company)
"Poor Things" von Yorgos Lanthimos (The Walt Disney Company)

Abgerundet wird er durch Arbeiten europäischer Regisseurinnen, die zusammen mit Sofia Coppola und Ava DuVernay die spärliche Frauenquote etwas aufbessern: Die Polin Małgorzata Szumowska hat zusammen mit ihrem Kameramann Michał Englert das Drama „Woman of…“ inszeniert, Agnieszka Holland das Flüchtlingsdrama "The Green Border" und die Belgierin Fien Troch präsentiert mit „Holly“ nach „Home“ einmal mehr eine Coming-of-Age-Geschichte unter erschwerten Bedingungen.

Bei den außer Konkurrenz gezeigten Werken kommen noch einige Arbeiten von Regisseurinnen dazu – etwa von Altmeisterin Liliana CavaniL’ordine del tempo“ über eine Freundesgruppe, die anlässlich eines Geburtstags in einer Villa zusammenkommt und feststellt, dass das Weltende eventuell knapp bevorsteht. Doch auch hier dominieren klar Werke arrivierter Arthouse-Regisseure: Woody Allen ist mit seiner französisch-britischen Arbeit „Coup de Chance“ am Lido, Roman Polanski mit „The Palace“ um eine Silvesterfeier an der Jahrtausendwende in einem Schweizer Hotel, Wes Anderson mit der knapp 40-minütigen Miniatur „The Wonderful Story of Henry Sugar“. Der Franzose Quentin Dupieux präsentiert eine verrückte Begegnung mit Surrealist Salvador Dalí in „Daaaaaali!“, Richard Linklater die auf wahren Ereignissen beruhende Story eines Undercover-Agenten, der sich als Profikiller ausgibt („Hit Man“).

Und unter den recht spärlichen Dokumentar-Arbeiten ist eine neue Arbeit von Großmeister Frederick Wiseman („Menus Plaisirs – Les Troisgros“) mit von der Partie.

Ob es Venedig gelingen wird, sich aus dem Schatten der 2023 besonders glanzvollen, vielgelobten Konkurrenz in Cannes vorzuarbeiten, wird sich zeigen. Sollte es aufgrund des Fehlens diverser US-Stars auf dem roten Teppich tatsächlich etwas ruhiger zugehen als sonst, ist das zu verschmerzen: So wichtig das Schaulaufen ist, das Gesicht eines Festivaljahrgangs enthüllt sich nicht im Blitzlichtgewitter der Fotografen, sondern im dunklen Kinosaal.



Übersicht über die Filme der 80. "Mostra"


Eröffnungsfilm

"Comandante" von Edoardo de Angelis


Wettbewerb

"The Promised Land" von Nikolaj Arcel

"Dogman" von Luc Besson

"The Beast" von Bertrand Bonello

"Out of Season" von Stéphane Brizé

"Enea" von Pietro Castellitto

"Maestro" von Bradley Cooper

"Priscilla" von Sofia Coppola

"Finally Dawn" von Saverio Costanzo

"Lubo" von Giorgio Byritti

"Origin" von Ava DuVernay

"The Killer" von David Fincher

"Memory" von Michel Franco

"Me Captain" von Matteo Garrone

"Evil does not exist" von Ryûsuke Hamaguchi

"Green border" von Agnieszka Holland

"Die Theorie von allem" von Timm Kröger

"Poor things" von Yorgos Lanthimos

"El Conde" von Pablo Larraín

"Ferrari" von Michael Mann

"Adagio" von Stefano Sollima

"Woman of" von Małgorzata Szumowska, Michał Englert

"Holly" von Fien Troch


Außer Konkurrenz

"Society of the snow" von J.A. Bayona

"Coup de Chance" von Woody Allen

"The wonderful story of Henry Sugar" von Wes Anderson

"The penitent - a rational man" von Luca Barbareschi

"The order of time" von Liliana Cavani

"On the pulse" von Alix Delaporte

"Daaaaaali!" von Quentin Dupieux

"The Caine Mutiny court-material" von William Friedkin

"Making of" von Cédric Kahn

"Aggro Dr1ft" von Hamony Korine

"Hit man" von Richard Linklater

"The place" von Roman Polanski

"Snow Leopard" von Pema Tseden

"Amor" von Virginia Eleuteri Serpieri

"Frene a Guernica" von Yervant Gianikan, Angela Ricci Lucchi

"Hollywoodgate" von Ibrahim Nash`at

"Ryuichi Sakamoto | Opus" von Neo Sora

"Enzo Jannacii Vengo Anch`io" von Giorgio Verdelli

"Menus Plaisirs - Les Troisgros" von Frederick Wiseman

"Of money and blood" EP. 1-12 von xavier Giannoli

"I know your soul" EP. 1-2 von Jasmila Žbanić, Alen Drljević

"Welcome to paradise" von Leonardo Di Costanzo


Die Reihe Orrizonti

A cielo abierto“ von Mariana Arriaga, Santiago Arriaga

El Paraíso“ von Enrico Maria Artale

Behind the Mountains“ von Mohamed Ben Attia

The Red Suitcase“ von Fidel Devkota

Paradise is burning“ von Mika Gustafson

The Featherweight“ von Robert Kolodny

Invelle“ von Simone Massi

Hesitation Wound“ von Selman Nacar

Tatami“ von Guy Nattiv, Zar Amir Ebrahimi

Heartless“ von Nara Normande, Tião

Una sterminata domenica“ von Alain Parroni

City of Wind“ von Lkhagvadulam Purev-Ochir

Explanation for Everything“ von Gábor Reisz

Gasoline Rainbow“ von Bill Ross, Turner Ross

En attendant la nuit“ von Céline Rouzet

Housekeeping for Beginners“ von Goran Stolevski

Shadow of Fire“ von Shinya Tsukamoto

Dormitory“ von Nehir Tuna


Die Reihe Giornate delgi Autori

Backstage“ von Afef Ben Mahmoud, Khalil Benkirane

Coup“ von Austin Stark, Joseph Schuman

Kanata no uta“ von Kyoshi Sugita

Los Océanos son los verdaderos continentes“ von Tommaso Santambrogio

Melk“ von Stefanie Kolk

Quitter La Nuit“ von Delphine Girard

Sidonie au Japon“ von Élise Girard

Sobre Todo de Noche“ von Victor Iriarte

To Kalokairi Tis Karmen“ von Zacharias Mavroeidis

Vampire Humaniste Cherche Suicidaire Consentant“ von Ariane Louis-Seize

Wu Yue Xue“ von Chong Keat Aun

21 Days until the end oft he World“ von Teona Strugar Mitevska

Aftab Mishavad“ von Ayat Najafi

Bye Bye Tibériade“ von Lina Soualem

L’Avamposto“ von Edoardo Morabito

L’expérience zola“ von Gianluca Matarrese

Photophobia“ von Ivan Ostrochovský, Pavol Pekarčik

This is how a child becomes a poet“ von Céline Sciamma


Kritikerwoche

God is a Woman“ von Andres Peyrot

Vermin“ von Sébastien Vaniček

About Last Year“ von Dunja Lavecchia, Beatrice Surano, Morena Terranova

Hoard“ von Luna Carmoon

Life Is Not a Competition, But I’m Winning“ von Julia Fuhr Mann

Love Is a Gun“ von Lee Hong-Chi

Malqueridas“ von Tana Gilbert

Sky Peals“ von Moin Hussain

The Vourdalak“ von Adrien Beau

Passione critica“ von Simone Isola, Franco Montini, Patrizia Pistagnesi


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