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Locarno 2023 - Im Leoparden-Rennen

Eine Vorschau aufs 76. Locarno Film Festival (2.-12.8.2023)

Veröffentlicht am
16. August 2023
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Das 76. Locarno Film Festival (2.-12.08.2023) überrascht im Hauptwettbewerb mit einigen großen Namen wie Lav Diaz, Quentin Dupieux und Radu Jude und verwöhnt auf der Piazza mit einigen heiß erwarteten neuen Werken wie Ken Loachs „The Old Oak“ und Justine Triets diesjährigem Cannes-Gewinner „Anatomie d’une chute“. Die Retrospektive ist bereits zum zweiten Mal in der Geschichte des Festivals Mexiko gewidmet, im Fokus stehen die goldenen Jahre von 1940 bis 1969. Abgesehen davon steht das Festival im Zeichen der Verabschiedung seines langjährigen Präsidenten Marco Solari.


Vom 2. bis 12. August 2023 steht Locarno im Zeichen der Siebten Kunst. Bereits am Abend des 31. Juli werden auf der Piazza Grande die Lichter ausgehen: In liebgewordener Tradition bedankt sich das Festival bei den Bewohnern des am Lago Maggiore gelegenen Städtchens mit einer Gratisvorstellung für die Inkaufnahme des Trubels der kommenden Tage. Auf dem Programm steht dieses Jahr „Linda veut du poulet!“, ein durch seine eigenwillige Farbgebung faszinierender Trickfilm von Chiara Malta und Sébastien Laudenbach, in dem sich eine Tochter und ihre Mutter nach dem Tod des Vaters und Gatten neu zusammenraufen und dabei allerhand Abenteuerliches erleben.

Das Locarno Film Festival findet in seinem 76. Jahr zum dritten Mal unter der künstlerischen Leitung des Italieners Giona A. Nazzaro statt. Er hat das Festival 2021 von der Französin Lili Hinstin übernommen, sich in seinen ersten zwei noch pandemieüberschatteten Festivalausgaben wacker geschlagen und muss sich das erste Mal nun aber richtig beweisen. Stärker im Mittelpunkt stehen als der Festivaldirektor dürfte in diesem Jahr allerdings jemand anders: Festivalpräsident Marco Solari, der sich nach 23 Jahren von seinem Amt verabschiedet.


Mit wachem Blick auf rasante gesellschaftliche und technische Veränderungen

Marco Solari wurde 1944 in Bern geboren. Er stand ab 1972 als Direktor dem Tessiner Tourismusbüro vor, wurde 1988 vom Bundesrat aber mit der Organisation und Durchführung der 700-Jahr-Feier der Schweizerischen Eidgenossenschaft im Jahr 1991 betraut. Er hatte diverse Posten in der Privatwirtschaft inne, bis er 2000 die operative Leitung des Filmfestivals von Locarno übernahm. Es war ein Amt wie geschaffen für ihn, dessen Herz als Sohn einer Bernerin und eines Tessiners für die deutsche und die romanisch-sprachige Schweiz gleichermaßen schlägt und der sich im Laufe des Lebens immer wieder als geschickter Netzwerker erwies.

Tritt als langjähriger Präsident des Filmfestivals Locarnoi ab: Marco Solari (© Locarno Film Festival)
Tritt als langjähriger Präsident des Filmfestivals Locarno ab: Marco Solari (© Locarno Film Festival)

Er hat das Festival von Locarno im Laufe seiner 23 Jahre nicht nur souverän durch die Pandemie manövriert, sondern mit wachem Blick auf rasante gesellschaftliche und technische Veränderungen vom beliebten lokalen Touristenmagnet in eine in der realen wie digitalen Welt gut verankerte kulturelle Veranstaltung von internationalem Renommee verwandelt. Sein Wissen um die Wichtigkeit stetiger Veränderung und seine eloquente Beharrlichkeit haben das Festival vermutlich stärker geprägt als die sechs Personen, die im Laufe der Jahre an seiner Seite dessen künstlerische Leitung innehatten. Es sind dies, nebst den bereits Erwähnten, die Italienerin Irene Bignardi, der Schweizer Frédéric Maire, der heute der Cinémathèque Suisse vorsteht, der Franzose Olivier Père und der Italiener Carlo Chatrian, der 2020 zur Berlinale wechselte. Solaris Nachfolgerin, die Basler Kunstsammlerin Maja Hoffmann, die am 24. Juli als neue Präsidentin des Filmfestivals von Locarno vorgestellt wurde, wird große Fußstapfen füllen müssen.


Das Festival als Ort des Kinos

Es sei, sagte Marco Solari, als er bei der Pressekonferenz zur Programmbekanntgabe der 76. Festivalausgabe zum Mikrofon griff, sein letzter Auftritt in dieser Runde. Er hielt sich kürzer als in seinen ersten Jahren, als er die Presse durch sein feuriges Schwadronieren beeindruckte, erzählte von seinen Erfahrungen mit Locarno und strich dabei heraus, wie wichtig es ihm sei, dass die künstlerische Leitung in Freiheit arbeiten kann. Und er wies noch einmal darauf hin, was ihm in all den Jahren auch wichtig war: das Festival als ein Ort des Kinos. Einen Ort, an dem sich Menschen versammeln und gemeinsam in ein filmisches Abenteuer eintauchen, das letztlich der Erweiterung der Horizonte dient.

In einer kurzen Rede dankte er, nebenbei elegant ein paar Namen einflechtend, allen fürs Gelingen des Festivals wichtigen Personen und Institutionen. Er wird das, ganz Mann der Etikette und zugleich stets sehr charmant, dieses Jahr in Locarno wohl noch ein paarmal machen: darauf hinweisen, dass er sein Amt abgibt, und sich gleichzeitig herzlich bedanken. Das wirklich letzte Mal voraussichtlich in der Nacht vom 12. August auf der Piazza Grande, wo nach der Uraufführung von Noora Nisaris Drama „Shayda“ zu mitternächtlicher Stunde zum Adieu ans Publikum ein von Marco Solari persönlich ausgewählter Überraschungsfilm gezeigt werden wird.

Den Rest des Programms hat Giona A. Navarro mit seinem Team zusammengestellt. Strukturell und umfangmäßig bewegt sich dieses im bisherigen Rahmen. Hauptevent sind die abendlichen Freilichtvorführungen auf der rund 8000 Personen Platz bietenden Piazza Grande. 17 Filme stehen dieses Jahr auf dem Programm. Zum Auftakt wird am 2. August „L’étoile filante“ von Fiona Gordon und Dominique Abel gezeigt. Im Laufe der Woche wird man nebst Ken Loachs „The Old Oak“ und Justine Triets „Anatomie d’une chute“ auf der Piazza Grande auch Daniel Schmids 1974 entstandenen Liebesfilm „La Paloma“ mit Ingrid Caven und Peter Kern neu entdecken können und Federico Fellinis unvergesslichen „La città delle donne“. Am vorletzten Abend steht Molly Gordons und Nick Liebermans in Sundance heiß diskutiertes Mockumentary „Theater Camp“ auf dem Programm.

Nach Cannes nun auf der Piazza Grande: Sandra Hüller in Justine Triets "L'anatomie d'une chute" (© Les Films Pelléas)
Nach Cannes nun auf der Piazza Grande: Sandra Hüller in Justine Triets "L'anatomie d'une chute" (© Les Films Pelléas)

Eigentliches Herzstück des Festivals aber sind die die drei Wettbewerbe. Der „Concorso internazionale“ (Internationale Wettbewerb), der dieses Jahr 17 Filme umfasst. Der ersten und zweiten Werken von Filmschaffenden vorbehaltene Wettbewerb „Concorso Cineasti del presente“, in dessen Rahmen dieses Jahr 14 Filme gezeigt werden. Und der in drei Blöcke eingeteilte Kurzfilm-Wettbewerb „Pardi di domani“ mit insgesamt 40 Werken.

Im internationalen Wettbewerb finden sich einige bekannte Namen. Der Philippine Lav Diaz stellt dieses Jahr mit „Essential Truths of the Lake“ den mit 215 Minuten längsten Wettbewerbsbeitrag. Quentin Dupieux, dessen frühere Filme in Locarno spätnachts auf der Piazza liefen, schickt die Theatergroteske „Yannick“ ins Leoparden-Rennen. Und der Rumäne Radu Jude, der 2021 mit „Bad Luck Banging or Loony Porn“ in Berlin den „Goldenen Bären“ für den besten Film holte, zeigt in Locarno eine absurde zweiteilige Komödie mit dem Titel „Do Not Expect Too Much of the End of the World“.

Die restlichen Namen auf dem Programm kennt man eher weniger. Auffällig ist, dass sowohl im internationalen Wettbewerb wie auch im „Concorso Cineasti del presente“ dieses Jahr kein einziger Film aus Afrika gezeigt wird. Gleichzeitig – und das ist eine Tendenz, die sich leider bereits letztes Jahr abzeichnete, – kommen auffallend viele der im internationalen Wettbewerb und Piazza-Programm gezeigten Beiträge aus Frankreich (5) oder sind europäische Koproduktionen (10). Zählt man dazu die zwei italienischen Piazza-Beiträge von Laura Luchetti („La bella estate“) und Edoardo Leo („Non sono quello chesono – The Tragedy of Othello di W. Shakespeare“) und Simone Bozzellis italienischen Wettbewerbsbeitrag „Patagonia“, ergibt sich in den beiden Programmen eine immense europäische Überlast. Ein ähnliches Bild übrigens zeigt sich beim Blick auf die 12 „Fuori concorso“ (außer Konkurrenz) gezeigten Werke, wo Italien und Frankreich mit je drei Filmen vertreten sind und „Ricardo et la peinture“ von Barbet Schroeder als schweizerisch-französische Koproduktion angemeldet ist.

Das mag oder kann man Nazzaro eingedenk der noch kein Jahr zurückliegenden Pandemie nicht wirklich vorwerfen. Eine etwas größere Vielfalt hätte man sich dennoch gewünscht, auch den einen oder anderen großen Film aus Hollywood hätte man in Locarno gerne gesehen. Tatsächlich fällt auch der Auftritt der USA beim diesjährigen Locarno Film Festival mit „Lousy Carter“ (Bob Byington) und „Family Portrait“ (Lucy Kerr) in den zwei Wettbewerben und „Theater Camp“ (Molly Gordon, Nick Lieberman) auf der Piazza eher bescheiden aus.

Bald wird auf der Piazza Grande wieder das Kino gefeiert (© Locarno Film Festival / Ti-Press)
Bald wird auf der Piazza Grande wieder das Kino gefeiert (© Locarno Film Festival / Ti-Press)

Etwas breiter aufgestellt ist bloß der „Concorso Cineasti de presente“, in dem mit „West Border“ (Yan Luo), „Whispers of Fire and Water” (Lubdhak Chatterjee), „Dreaming & Dying“ (Nelson Yeo) und „Rapture“ (Dominic Sangma) vier Filme aus dem asiatischen Raum laufen und mit „Todoslos incendios“ von Mauricio Calderón Rico auch ein Film aus Mexiko. Hier werden mit Katharina Hubers „Ein schöner Ort“ und „Touched“ von Claudia Rorarius auch zwei deutsche Beiträge präsentiert.

Die Schweiz ist dieses Jahr auf der Piazza mit Frédéric Mermouds „La voie royale“ vertreten, in den Langspiel-Wettbewerben tritt sie mit vier Koproduktionen in Erscheinung. Im Wettbewerb der „Concorso cineasti de presente“ sind dies: „Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag“ (Deutschland/Schweiz) von Katharina Lüdin und „Rivière“ (Schweiz/Frankreich) von Hugues Hariche, im internationalen Wettbewerb „Nuit obscure – au revoir ici, n’importe où“ (Frankreich/Schweiz) von Sylvain George und „Manga d’terra“ (Schweiz/Portugal) von Basil Da Cunha.

Da es abgesehen davon auch Österreich mit keinem einzigen Film auf die Piazza und nur in Koproduktion von Sofia Exarchous „Animal“ in einen der Langspiel-Wettbewerbe geschafft hat, fällt die Locarno-Bilanz für den deutschen Sprachraum dieses Jahr etwas bitter aus. Bleibt zu hoffen, dass Giona A. Nazzaro, der, in Zürich geboren und teilweise aufgewachsen, des Deutschen durchaus mächtig ist, diesbezüglich nächstes Jahr wieder fündiger wird.

Was nun nicht heißt, dass man in Locarno keine Schweizer Filme sieht. Im Rahmen von Locarno wird auch dieses Jahr das von Swiss Films, den Solothurner Filmtagen und der Schweizerischen Filmakademie zusammengestellte Programm „Panorama Suisse“ gezeigt. Es enthält schweizerische Produktionen, die bereits im Kino oder auf anderen Festivals liefen, etwa „Big Little Women“ von Nadia Fares, Carmen Jaquiers „Foudre“ und Steven Michael Hayes’ „Jill“.

Und in der von Mitgliedern des Schweizerischen Verbandes der Filmjournalistinnen und Filmjournalisten durchgeführten Kritikerwoche finden sich mit Mehdi Sahebis „Prisoners of Fate“ ein Film aus der Schweiz und mit „Archiv der Zukunft“ von Joerg Burger und „Vista Mare“ von Julia Gutweniger und Florian Kofler zwei Beiträge aus Österreich.

Wer es in Locarno gern noch internationaler hätte, der findet in der Programmsektion „Open Doors: Screenings“ sieben neuere Filme aus Lateinamerika. Und er hat die Möglichkeit, in der von Olaf Möller kuratierten, 37 Filme umfassenden Retrospektive „Espectáculo a diario – Las distintas temporadas del cinepopular mexicano“ Mexikos reiches Filmschaffen von 1940 bis 1969 zu entdecken.



www.locarnofestival.ch

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