© Memento Film ("About Dry Grasses")

Plädoyer für Ambivalenz

Es kann nicht Aufgabe der Kunst sein, sich auf irgendwelche Seiten zu schlagen oder Haltungen einzunehmen. Ihre Domäne ist die Gleichzeitigkeit, nicht das Nebeneinander

Veröffentlicht am
03. Januar 2024
Diskussion

In den aufgeheizten Debatten der Gesellschaft werden derzeit oft Haltung, Klarheit oder eindeutige Positionen eingefordert. Auch von Filmschaffenden und Filmvermittlern. Dabei kann gerade die Kunst und insbesondere Filme lehren, nuancierter auf Dinge zu blicken und die Komplexität der Welt wahrzunehmen. Gedanken zu einem Durcheinander verschiedener Perspektiven, nicht nur im Film.



weil wir von der Erde getauft wurden

waren wir zu tapfer in unserer Unsicherheit

(aus „Taufe“ von Zbigniew Herbert)


Auf die Gefahr hin, etwas aus der Mode gefallen zu sein, möchte ich behaupten, dass Filme uns lehren können, die Welt aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Sie können uns andere Perspektiven näherbringen. Das klingt zunächst vielleicht banal oder offensichtlich, scheint aber keineswegs selbstverständlich zu sein, wenn man kritischen Diskursen folgt, die wiederholt eindeutige Haltung, Klarheit oder ideologisch-politische Positionierungen von Filmen einfordern. So als wäre eine Haltung ein festgezurrtes Etwas, das man unbeweglich in einer künstlerischen Arbeit verpflanzen könnte. So als könnte man zu allem, was sich vor einer Kamera bewegt, eine Haltung finden. Ganz besonders absurd wird das, wenn es eine richtige und eine falsche Haltung geben soll.

Was dabei geschieht, lässt sich als Vereinnahmung der Kunst durch die Kultur erklären. Alles hat ein Spiegel der Gesellschaft zu sein, auch wenn es diese Gesellschaft in keinem Singular gibt. Wenn es von einer Öffentlichkeit als wichtig angesehen wird, eine Seite zu wählen – zumeist ist das schon ein Zeichen einer gewissen Verrohung –, wird das von der Kunst ebenso gefordert. Dass letztere aber gerade durch das Nicht-Wählen, durch einen nicht-binären Blick auf die Dinge neue Potenziale schaffen und uns dabei helfen könnte, nuancierter auf die Dinge zu blicken, wird dabei vergessen. Gerade wenn Bildproduktion mit Beweisführung verwechselt wird und der mediale Diskurs sich erhitzt, könnten Filmbilder auf die Komplexität der Dinge verweisen. Ihre ständige Botschaft müsste lauten: So einfach ist es nicht, schaut hin. Womöglich ist das eine Luxusposition. Die Enthaltung muss man sich leisten können. Ich möchte hier aber keineswegs von einer Ent-Haltung schreiben, sondern von einer Viel-Haltung, einer Mehr-Haltung, einer Polyvalenz. Ist das möglich?


Plädoyer für Viel-Haltungen

Wo die Kunst das Durchschreitende, Auflösende, Freie sucht, fordert die Kultur Versprachlichung, Einordnung und Ethik. Bestenfalls ergänzen sich beide Domänen oder reiben sich produktiv. Heute aber hat die eine die andere aufgefressen. Zumindest wirkt es so. Die Urteile sind schnell gesprochen. Wird Ambivalenz gesucht, heißt es, dass die Filmemacherin nicht weiß, was sie will, oder dass der Filmemacher keine Haltung zum Gegenstand entwickelt hat oder dass der Film sich in Widersprüchlichkeiten verstrickt. Außerdem werden die Filmschaffenden so stark von ihrem Werk getrennt, dass sie jederzeit als öffentliche Figuren einer Kultur auftreten sollen, obwohl sie mit ihrer Arbeit bestenfalls Neues und Gewagtes schaffen. Sie sollen mitschwimmen und zugleich das getrübte Wasser reinigen.


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Ich denke an eine Beobachtung des italienischen Schriftstellers Claudio Magris, der einmal feststellte, dass er als Kind, wenn ihm Geschichten vorgelesen wurden, glaubte, diese würden ohne Autor existieren. So erging es mir auch mit Filmen und natürlich hatten die dann eine viel größere Kraft für mich, als sie es heute haben. Wer jetzt glaubt, dass hier weiter Wasser ins Meer der hilflosen Debatten rund um die sogenannte Cancel-Culture oder Politische Korrektheit geschüttet wird, liegt falsch. Unter der von Filmen ermöglichten Ambivalenz verstehe ich nicht das bloße Nebeneinander von Meinungen oder das Zulassen verschiedener, womöglich gar problematischer Perspektiven. Vielmehr geht es darum, dass der Film an sich und die sich in Variationen wiederholende Situation zwischen Film und Zuschauerin von Haus aus Ambivalenzen in sich trägt.

Die Bilder in „La Chimera“ beschwören die Ambivalenz (© Cannes 2023)
Die Bilder in „La Chimera“ beschwören die Ambivalenz (© Cannes 2023)

Ich denke an eine Selbstbeobachtung des französischen Dichters Paul Valéry, der einmal beschrieb, wie er in einem Museum ein Gemälde betrachtete. Er stand vor einem Bild, als zwei Männer vor ihn traten. Einer sah sich das Werk schweigend an, der andere aber redete auf seinen Begleiter ein, erzählte ihm allerhand über das Werk, den Maler, das Museum und so weiter. Man kennt diese Szenen. Valéry beobachtet das und bemerkt dann einen anderen Mann, der neben ihm steht, einen Künstler, der die Situation ebenso beobachtet und ihm einen vielsagenden, mit den Augen rollenden Blick zuwirft. Ganz offensichtlich ist der Künstler mit dem Geschwafel nicht einverstanden. Valéry aber bemerkt, dass er auch diesen Künstler beobachtet. Er beschreibt, wie er die ganze Situation überblickt, das Gemälde, das Museum, die zwei Männer vor ihm, den Künstler und sich selbst. Er wählt eine Art Über-Haltung, die nicht urteilt, sondern beobachtet. Gleichzeitig weiß er nicht so recht, was er damit anfangen soll. Er versteht die Haltung weniger aus einem Überlegenheitsgestus heraus und mehr als konsequente Fortsetzung eines Bemühens um Durchdringung. Was Valéry hier an sich selbst bemerkt, ist auch eine mögliche Qualität des Films.


Die Kunst der Kippbilder

Ich würde diese Qualität als eine Art unendliches Kippbild beschreiben. Von jeder Seite aus betrachtet, öffnet sich eine neue Perspektive. Ich glaube zwar, dass die allermeisten Filme in sich solche Kippbilder tragen, aber es hilft sicher, wenn eine Arbeit diese Eigenschaft des Filmischen betont. Jüngst hat etwa André Siegers in seinem Film „La empresa solche Kippbilder stark evoziert. Er zeigt die Bilder, die eine deutsche Filmcrew in Mexiko drehte. Eine sanft-ironische Erzählstimme berichtet von den Deutschen, die dort eigentlich einen ganz anderen Film drehen wollten, sich dann aber für die „Caminata Nocturna“ interessieren, eine Simulation der illegalen Grenzüberquerung von Mexiko in die USA, die in El Alberto, einem Dorf, das sich fast 800 Kilometer von der US-amerikanischen Grenze entfernt befindet, abgehalten wird und zur Touristenattraktion wurde. Der Film changiert durchgehend seine Perspektive (ironische Distanz, empathische Nähe, zufallsgeleitete Bildersuche, kritischer Blick, postkolonialer Blick) und problematisiert damit die Frage, wer hier von wem welche Bilder zu welchem Preis macht. Die Haltung bleibt uneindeutig, Siegers arbeitet am eigenen Verschwinden, ganz so (nur ein bisschen angestrengter) wie die Autoren der Bücher, die Magris in seiner Kindheit las. Er erreicht eine Über-Haltung, die auch einer Unter-Haltung ermöglicht: zwischen den Perspektiven und zwischen Film und Zusehenden.

Selbst im schweifenden Blick, der dem bestimmten Blick gegenübersteht, produziert das Kino einen Überschuss, und dieser Überschuss lässt sich nicht funktionalisieren. Filme sind viel zu komplex, um sich in Botschaften, Slogans oder einfache politische Meinungen quetschen zu lassen. Wer sich einmal sowjetische Propagandafilme ansieht, weiß das. Man kann in diesen Filmen immer etwas sehen, was gegen die Intention läuft. Etwas wird sichtbar, und niemand kann was dagegen tun. Ein anderes Beispiel aus diesem Kinojahr: In „La Chimera“ von Alice Rohrwacher (der Titel spricht schon Bände in Bezug auf die Ambivalenz) wird ein Lied gesungen, in dem es um eine sich verändernde Gesellschaft geht. Das utopische Potenzial des Textes wird mit Filmaufnahmen einiger Enten auf einem See untermalt. Eigentlich ist das ein eindeutiges, klares, bewusst gesetztes Bild. Gleichzeitig aber transzendiert es jedwede Bedeutung, gewinnt seine Kraft gerade erst aus dieser so faszinierenden Mischung aus Konkretheit, Kitsch, Direktheit, Symbolik, Kommentar und Komik. Und dabei habe ich noch gar nicht die immense Spannweite möglicher Assoziationen erwähnt, die ein solches Bild je nach Betrachter auslöst.


Film als Medium der Durchschreitung

Ein Bild lässt sich nie eindeutig betrachten, 24 oder 25 oder 48 Bilder pro Sekunde erst recht nicht. Bedeutungen verschwimmen, Augen irren sich. Es gibt nicht die eine Perspektive einer Filmemacherin, es hat sie nie gegeben. Was Roland Barthes, der jedwede ideologische Positionierung in der Kunst strikt ablehnte, einmal über die inhärente Ambivalenz von Texten geschrieben hat, lässt sich auf Filme übertragen: „Der Film ist kein Nebeneinander von Bedeutungen, sondern Durchschreitung, Durchquerung; er kann also keiner noch so liberalen Interpretation verfallen, sondern einer Explosion, einer Streuung. Das Plurale des Filmes beruht nämlich nicht auf der Ambiguität seiner Inhalte, sondern auf dem, was sich als kinematografische Pluralität der Signifikanten bezeichnen ließe, aus denen er besteht.“ Selbst wenn wir uns bedeutungslose Bilder vorstellen könnten, wären sie immer ambivalent, schließlich lebt in ihnen stets die Gegenwart ihrer Aufnahme und die Gegenwart ihrer Betrachtung.

Warum dieses Nachdenken über die Durchschreitung des Filmischen? Weil in ihr eine Hoffnung liegt, festgefahrene Dinge anders zu betrachten. In ihren stärksten Ausprägungen vermögen Kinobilder auch heute noch der widersprüchlichen Vielsprachigkeit jeder Gesellschaft zu entrinnen. Sie produzieren eine andere Vielsprachigkeit, eine, die eigenen Gesetzen folgen könnte. Vielleicht würde es helfen, den Fokus zu ändern. Man müsste sich für diejenigen interessieren, die Filme sehen, und nicht für diejenigen, die sie machen. Zumindest ein bisschen. Damit ist aber nicht gemeint, dass wir uns darüber kaputtreden sollen, wie wer warum ins Kino geht. Nein, es soll hier um diesen Zwischenraum gehen, der Film und Zusehende verbindet. Dieser Raum öffnet etwas, in ihm wird Ambivalenz zum Verstoß gegen das Bestehende und Sichergeglaubte. Mehr als bloßes rhetorisches Mittel ist die Ambivalenz gemäß ihrer etymologischen Herkunft Ausdruck einer Zweiseitigkeit. Hier der Film, da die, die ihn sehen.

Arbeit an Übergängen: „Music“ (© Faktura Film)
Arbeit an Übergängen: „Music“ (© Faktura Film)

Es gibt zig Möglichkeiten für das Verhältnis zwischen einer subjektiven Erfahrung und einem Film. Man kann etwas sehen, was man noch nie gesehen hat. Man kann etwas anders sehen, was man so nicht erwartet hat. Man kann etwas näher sehen, was man nur aus der Ferne kannte. Man kann die Abgründe hinter etwas sehen, was man bewunderte. Man kann die Schönheit von etwas sehen, was man verabscheute. Und so weiter. All dieses Anders-Sehen könnte auch in einem Film, in einer Einstellung zugleich geschehen. Dann findet man etwas schön, was man verabscheut. Oder man lacht über etwas, was zum Heulen ist. Ein gutes Beispiel ist der jüngste Film von Nuri Bilge Ceylan, „About Dry Grasses“. Der Filmemacher zeigt seinen Protagonisten, den Lehrer Samet, mit einer an Tschechow geschulten Präzision, die zugleich alle Gefühle und Gedanken näherbringt und auf Distanz hält. Samet ist ein schwieriger Charakter, ein Narzisst, der sich viel zu vertraulich mit einer Teenager-Schülerin gibt. Er ist aber auch ein verlorener Geist, ein vom türkischen System kleingehaltener Beamter mit Träumen und Idealen. Ceylan zeigt ihn so, als wäre er Valéry im Museum. Er zeigt alles und er zeigt uns damit, dass die Dinge nie so einfach sind, wie sie scheinen.


Das Beliebige und Vage

Einzufordern, dass ein Film, dass irgendeine Kunst eine eindeutige Haltung zu politischen, gesellschaftlichen oder ideologischen Themen einnimmt, zeugt von einer Gesellschaft, die der Kunst keinen Eigenwert mehr beimisst. Alles hat sich einer herbeigesehnten Notwendigkeit unterzuordnen. Trotzdem folgt der Betonung von Ambivalenzen etwas Unattraktives, Problematisches. Ich denke hier an das Beliebige und Vage, die nicht mit der Ambivalenz gleichzusetzen, aber doch damit verwandt sind. Dieses Vage, so kritisiert unter anderem der portugiesische Filmemacher Pedro Costa, dominiert seit Jahren das Kino. Es dominiert auch die Texte über das Kino. Unüberlegte Bilder, nichtssagende Texte.

Ist das so? Es geht Costa und anderen um den Verlust einer Genauigkeit und Klarheit. Es ist schon so, dass man manchmal den Eindruck gewinnt, dass heute nicht genug über Kameraperspektiven oder die Montage von Filmen nachgedacht wird. Weder von Filmschaffenden noch von denen, die die Filme sehen. Es lässt sich eine gewisse Willkürlichkeit beobachten, die wahrscheinlich die Folge einer Kultur ist, die Präzision nicht würdigt und vielleicht auch gar nicht mehr erkennt. Wo man in Bilderfluten ertrinkt, leidet das kritische Unterscheidungsvermögen. Trotzdem muss man hier differenzieren. Man kann auch im Unklaren genau arbeiten, man kann schwimmen und dabei trocken bleiben. Ambivalenzen zu suchen, heißt nicht zwangsläufig, den eigenen Zugang uneindeutig lassen. Man kann mit großer Bestimmtheit die Ambivalenz wählen, so wie man mit großer Bestimmtheit sagen kann, dass man verschiedene Perspektiven berücksichtigt, versteht, zusammenführt.

Ich denke an ein Gespräch, das ich vergangenes Jahr mit der Filmemacherin Helena Wittmann geführt habe. Sie sprach über die Bedeutung, die Ambivalenz für ihre Arbeit an „Human Flowers of Flesh“ hatte, insbesondere, wenn es um die historische Betrachtung der Fremdenlegion ging. Für sie wäre es unmöglich, so Wittmann, die Grausamkeit dieses Berufes als Ausgangspunkt für eine rein kritische Betrachtung zu machen, wenn sie nicht gleichzeitig von der körperlichen Präsenz dieser Männer fasziniert wäre, den Haushaltsaufgaben, die diese unablässig verrichten, von ihrer filmgeschichtlichen Relevanz oder den Zufällen und Unheimlichkeiten in den Begegnungen mit ihnen. In anderen Worten: Auch für Wittmann zählt ganz bewusst die Komplexität der Dinge, die Viel-Haltung zu einem Menschen oder Gegenstand.


Übergänge im Dazwischen

Es hat sich durchgesetzt, die Bewegung eines Films als nach vorne gerichtet zu begreifen. Man schreibt, dass Filme auf etwas zusteuern oder dass sie vorwärtsstreben, weiterführen, ein Ziel erreichen und so weiter. Die Verknappung eines solchen Denkens ist kaum zu fassen. Die eigentliche Bewegung des Filmischen könnte eine der Dazwischenheit sein. Sie findet statt zwischen den Bildern, zwischen Licht und Dunkelheit, vor allem aber zwischen Mensch und Film, zwischen den Menschen, die Filme sehen, darüber denken und sprechen.

„Human Flowers of Flesh“ nimmt sich ganz bewusst der Komplexität der Dinge (© Fünferfilm/Shellac)
„Human Flowers of Flesh“ nimmt sich ganz bewusst der Komplexität der Dinge (© Fünferfilm/Shellac)

Ich denke an Angela Schanelecs „Music“, der sich permanent an solchen Übergängen abarbeitet, etwa jenem zwischen der Unerträglichkeit und dem Trost. Die kleinen Bewegungen, die zwischen den Bildern stattfinden, bezeichnen die Filmkritiker Cristina Álvarez López und Adrian Martin als „Move“. Sie meinen damit etwas, was die Geschwindigkeit oder den Ton eines Films verändert, eine Art Dynamisierung der Geschehnisse, die nicht unbedingt aus einer dramaturgischen Überlegung entstehen muss, sondern allein durch die Wahl einer Kameraperspektive oder Bewegung erzeugt wird. Ein „Move“ kann sich filmisch etwa zwischen einem Innen und Außen vollziehen, man kennt das aus Horrorfilmen, wenn ein einzelnes Geräusch aus der unbekannten Dunkelheit die eigentlich idyllische Stimmung einer Szene umkehrt. In „Music findet sich ein solcher Moment in Form eines Selbstmords, bei dem eine Eidechse zum unfreiwilligen Passagier des Todessprungs wird. In all seiner Flüchtigkeit schafft das Bild einen Übergang, der die Bedeutungen ändert, der es ermöglicht, das, was man bisher sah, anders zu sehen und das, was man ab dann sieht, überhaupt wahrzunehmen. Schanelec gehört zu den Filmemacherinnen, die es immer wieder schaffen, dass man das, was man zu sehen glaubte, nochmal anders im Rückblick betrachten muss. Sie interessiert sich für das, was im Dazwischen sichtbar wird.

Das Durchschreitende bezeichnet genau das an Filmen, was sich nur schwer in Worte kleiden lässt. In ihm oszillieren die Bedeutungen und Haltungen, sodass sich neue Gedanken und unerwartete Gefühle zusammensetzen könnten. Diese Übergänge erfordern ein dafür offenes Publikum. Ich denke an Jonas Mekas, der sich stets dagegen wehrte, dass Zuschauende seine oder andere Filme „lesen“ würden. Dem Interpretationstrieb der Kultur setzte er den Wert der Erfahrung gegenüber. Diese Begriffe sind selbstredend ebenso angreifbar, bisweilen abgenutzt, aber es lohnt sich, sie hin und wieder in Erinnerung zu rufen.

Ich denke an einen befreundeten Filmemacher, der mir unlängst begeistert davon berichtete, dass mit „Barbie“ zum ersten Mal ein reiner Diskursfilm seine Massentauglichkeit bewiesen habe. Dass er damit beispielsweise die komplette Komödienproduktion Hollywoods der 1930er-Jahre übersah, ist ein typisches Symptom einer auf Erneuerung pochenden Idee von Kino. Der Unterschied ist womöglich, dass „Barbie“ die Ambivalenz im Nebeneinander sucht, während ein Film wie „Ärger im Paradies“ von Ernst Lubitsch diese in der Gleichzeitigkeit sucht. Die Gleichzeitigkeit gewissermaßen als Erfindung des Kinos, das Nebeneinander als Erfindung der Sozialen Medien. Die Ambivalenz wurde zur rhetorischen Strategie und muss um ihren Wert als Sein-Zustand bangen. Das Durcheinander filmischer Sprache wird vom Nacheinander argumentativer Konstrukte abgelöst. Das müsste nicht sein.


Filme wie Gesichter betrachten

Was ich damit meine, lässt sich vielleicht am besten in Gesichtern erkennen. Blickt man beispielsweise in das Gesicht eines Menschen, den man liebt, lässt sich dort keine Eindeutigkeit erkennen. Das liegt zum einem am Gesicht und zum anderen am Blick, den man darauf richtet. Sich widersprechende Regungen wie Zuneigung, Lust, Sorge, Angst, Zweifel oder Bewunderung setzen sich unablässig neu zusammen – mit jedem neuen Blick. Erst wenn dieser Blick für selbstverständlich erachtet wird, ändert sich das Gesicht nicht mehr im Auge der Betrachtenden. Die Liebe schläft dann ein. Ich wünschte mir, man könnte Filme betrachten wie das Gesicht einer Liebe.

Ich denke an die letzte Einstellung aus Federico Fellinis „La dolce vita“. Marcello Mastroianni am Strand, er kniet, er schaut, er lächelt, er weint, er verzweifelt und zuckt mit den Schultern. In seiner Hilflosigkeit erzittert die schillernde Ambivalenz des Seins. Aus seinem Gesicht spricht die Kraft eines Mediums, das sich nicht darauf einlassen muss, eine Seite zu wählen, sondern das dazu in der Lage ist, alle Seiten zugleich zu wählen.

La dolce vita (© StudioCanal)
La dolce vita (© StudioCanal)

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