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Disziplin & Kontrolle (I): Die Schwierigkeit, Nichts zu rauben

SKS-Blog „Disziplin & Kontrolle“ (I): Von der Disziplin- zur Kontrollgesellschaft. Eine Grundlegung

Veröffentlicht am
24. März 2024
Diskussion

Zum Auftakt des Siegfried-Kracauer-Stipendiums skizziert der Stipendiat Leo Geisler die Grundgedanken seines Blogs „Disziplin & Kontrolle“, in dem er den Wandlungen des Heist-Genres nachgehen will. Was passiert mit einer Filmgattung, wenn das Vermögen, das geraubt werden soll, nicht mehr in Gestalt von Banknoten im Tresor liegt, sondern nur noch virtuell in Form von Aktien, Anteilen oder anderen Besitztiteln existiert?


Am Morgen des 14. Januars 2013 meldet ein Wachmann einen Brand im Tresor der Volksbank Berlin-Steglitz. Kurz nach sechs Uhr wird ein zweiter Brand in einer Tiefgarage, keine 50 Meter entfernt, von den dortigen Anwohnern gemeldet. Später stellt sich heraus, dass der hinter Rolltoren verborgene Stellplatz von einem Unbekannten unter dem Decknamen Simon Segura (Spanisch: ‚seguro‘ = ‚sicher‘) angemietet wurde. Es stellt sich heraus, dass ein Tunnel von der Tiefgarage in den Tresorraum führt und die im toten Winkel der Überwachungskamera liegenden Schließfächer in den frühen Morgenstunden ausgeräumt wurden. Das Feuer vernichtete die Spuren.

Der schwere Bandendiebstahl ist ein Jahrzehnt später verjährt. Irgendwie freue ich mich für die Räuber. Ich stelle mir vor, wie sie im Zigarettenqualm zusammensaßen und ihren Plan entwarfen. Im allgemeinen Unrecht verkörpert das von ihnen begangene ein Denkmal der Spontaneität. Ich freue mich über die Überheblichkeit des Verbrechers, einen filmischen Decknamen zu wählen, ich freue mich, dass es noch Mäuselöcher in der Ordnung gibt. Wenn beim DFB-Pokal ein Zweitligist gewinnt, freuen sich schließlich auch alle. Vielleicht ist es diese dem Heist-Genre eingeschriebene Haltung der Subversion, die in mir den Wunsch aufkommen ließ, über das Genre zu schreiben.


Ein Genre der Disziplingesellschaft

Den ersten der zwölf monatlich erscheinenden Texte möchte ich nutzen, um den theoretischen Rahmen meiner Auseinandersetzung mit dem Heist-Film abzustecken. Die folgenden Texte werden eine Sammlung von Filmskizzen sein, aus denen sich schließlich ein mosaikartiges Bild des Genres zusammensetzt. Dem liegt die These zugrunde: Der Heist-Film ist das Genre der Disziplinargesellschaft.

Der Begriff der Disziplinargesellschaft geht auf den Philosophen Michel Foucault zurück, nach dessen Analyse die Funktionsweise der Macht in der Gesellschaft keine Konstante ist. Im Laufe der Jahrhunderte wechselt die Macht ihre Gewänder. Bei der Disziplinargesellschaft handelt es sich um einen historisch bedingten Modus des Zusammenlebens. Es handelt sich um eine Wirkungsweise der Macht, die sich im 17. Jahrhundert erstmals formte und sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts gänzlich entfaltete.

Ein Klassiker des Heist-Movies: "Rififi" von Jules Dasein (ZDF/arte France)
Ein Klassiker des Heist-Movies: "Rififi" von Jules Dasein (© ZDF/arte France)

Zunächst entstanden mit den neuartigen Einschließungsmilieus des 17. Jahrhunderts (Gefängnis, Fabrik, Schule, Krankenhaus, Psychiatrie) gewissermaßen Inseln der Disziplin, deren Techniken mit der Zeit jedoch den gesamten Gesellschaftskörper durchsetzten, unter anderem durch die Institution der Polizei. Die Funktionsweise der Disziplin ist simpel. Sie ist bestrebt, den Körper in der Zeit anzuordnen und im Raum zu verteilen. Ein Gedanke an die Arbeiter:innen am Fließband einer Fabrik genügt, um diese doppelte Fixierung der Körper zu veranschaulichen.

Der Heist-Film setzt nun Disziplin gegen Disziplin, die Würde der Arbeit gegen die Kälte der Technik. Eine Gruppe Spezialist:innen (für Architektur, Sprengkraft, Verführung, Akrobatik, Gewalt, Mimikry, Flucht und anderes) überschreibt die Mechanik der Eigentumsverhältnisse mit ihrem eigenen Code.


Die (Ver-)Sicherung des Alltags

Der von mir unterstellte Zusammenhang zwischen politischen Organisationsmodi und dramaturgischen Formen wird auch von dem Soziologen Luc Boltanski behauptet. Sein Buch „Rätsel und Komplotte“ untersucht die Kriminalgeschichte, deren Unterkategorie gewissermaßen der Heist-Film darstellt. Heute ist sie die weltweit verbreitetste Erzählgattung. Die Kriminalgeschichte dreht sich um das Verhältnis von Staat und Realität. Die Realität ist ein Zuschnitt von Welt, ein vom Staat und seinen Institutionen produziertes Netz aus Kausalbeziehungen, eine Verknüpfung von Ereignissen, die in erster Linie die Vorhersehbarkeit des Alltags sicherstellt. So garantiert die staatliche Garantie des Privateigentums die Vorhersehbarkeit, dass sich morgen keine Fremden in meiner Wohnung aufhalten werden.

Das Rätsel, die unerhörte Begebenheit der Kriminalgeschichte – zum Beispiel der Mordfall, den Sherlock Holmes durch seine Vernunft unweigerlich aufklären wird – markiert die Anomalie in dieser staatlich stabilisierten Realität (in der griechischen Tragödie wäre die Anomalie hingegen kein Rätsel, sondern ein Wunder). Sie ist das, was nicht sein darf. Durch ihren Fokus auf das Rätsel reagiert die Kriminalgeschichte auf die in der Gesellschaft brodelnde Unsicherheit, dass die immer stärker verwaltete Realität vielleicht nicht so stabil ist, wie sie sich gibt. Für diese Ungewissheit macht Boltanski die Widersprüchlichkeit des begrenzten Territoriums des Staates und das gleichermaßen abstrakte wie konkrete Strömen des Kapitalismus verantwortlich, welche die Frage nach dem Realen der Macht aufwirft.

Alain Delon in "Lautlos wie die Nacht" (Concorde)
Alain Delon in "Lautlos wie die Nacht" (© Concorde)

Die Kriminalgeschichte ist ihrer Tendenz nach konservativ, da das Rätsel am Schluss gelöst, die Anomalie also wieder in die Realität eingegliedert wird. Dass die Realität gestärkt aus der Kriminalgeschichte hervorgeht, beweist die „Tatort“-Reihe. Die Ordnung wird zur Hauptsendezeit am Sonntag gestört, um das Publikum danach umso fester schlafen zu lassen. In meinen Filmskizzen werde ich mich auf Boltanskis Argument stützen, um dem Verhältnis von Heist, Staat und Realität nachzugehen.


Im Übergang zur Kontrollgesellschaft

Der letzte Baustein ist ein kurzer Text von Gilles Deleuze aus dem Jahr 1990, mehr Notiz als Essay. In ihm stellt der Philosoph die These auf, dass die Einschließungsmilieus der Disziplin sich in einer Krise befinden, weil eine neuartige Form der Macht, die Kontrolle, im Begriff ist, unser gesellschaftliches Zusammenleben umzustrukturieren. Während Ingrid Bergman, als sie sich in „Europa 51“ von Roberto Rossellini den Anblick der Arbeiter vergegenwärtigt, noch ausruft: „Ich glaubte Gefangene zu sehen…“, rückt an die Stelle der gefängnisartigen Fabrik das Unternehmen, ein gewissermaßen schwebender Funktionszusammenhang, der auf die Fixierung des arbeitenden Körpers in Zeit und Raum weniger angewiesen ist.

Die Homeoffice-Welle der Pandemie veranschaulicht diese Offenheit der Kontrollgesellschaft. Während der Mensch in der Disziplinargesellschaft eingeschlossen ist, machen ihn in der Kontrollgesellschaft die Schulden gefügig. Seitdem Richard Nixon 1971 den Dollar vom Goldstandard entkoppelte und so die Finanzialisierung der Weltwirtschaft einleitete, verflüssigte sich die Qualität des Geldes. Das Eichmaß des Golds schmolz zum schwankenden Wechselkurs. Dies stellt den Heist-Film, der sich wie die Gewerkschaft als Widerstand gegen das Einschließungsmilieu – dessen Mechanik, Dressur und Kausalität – formte, vor beträchtliche Probleme. Wie lässt sich der Raub einer Sache visuell erzählen, wenn sie sich nicht mehr im Tresor befindet? Wie lässt sich ein Genre der Disziplinargesellschaft übertragen auf die Gesellschaft der Kontrolle?

"Ocean's Eleven" von Steven Soderbergh (Warner Bros.)
"Ocean's Eleven" von Steven Soderbergh (© Warner Bros.)

Plädoyer für einen zärtlichen Umgang

Diesen Übergang von Disziplin zur Kontrolle will ich durch die Chronologie meiner Filmskizzen nachzeichnen und dabei gleichzeitig die Elastizität des Genres dokumentieren. Abschließend möchte ich dieses erste Kapitel mit einer Kritik Hartmut Bitomskys an der dogmatischen Ideologiekritik beenden. Es soll den folgenden Texten ein Geländer sein: „Was zu sehen ist, wird dem gleichgestellt, was nicht zu sehen ist. Konkrete Sachen werden so durchscheinend gemacht wie ein Stück Papier, das vors Licht gehalten wird; was dahinter zu sehen ist, ist das Licht, das solch eine Kritik selbst wirft: Sie löst den Gegenstand, den sie kritisiert, einfach auf und verflüchtigt all das, was an einem Film und seinem kommunikatorischen Umfeld wirklich ist.“ Wer die gesellschaftlichen Produktionsbedingungen ins Denken über Film miteinbezieht, muss zärtlich vorgehen, damit die fragile Welt, die ein Film darstellt, nicht unter ihrer Last zerspringt.


Literaturhinweis

Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Von Michel Foucault. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1993.

Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, Moderne Gesellschaft. Von Luc Boltanski. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015

Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. Von Gilles Deleuze. In: Neue Rundschau, 3/1990

Die Röte des Rots von Technicolor. Kinorealität und Produktionswirklichkeit. Von Hartmut Bitomsky. Verlag Luchterhand, Neuwied 1972.



Zum Siegfried-Kracauer-Stipendium

Das Blog "Disziplin & Kontrolle" von Leo Geisler über die Wandlungen im Heist-Genre entsteht im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums, das der Verband der deutschen Filmkritik zusammen mit MFG Filmförderung Baden-Württemberg, der Film- und Medienstiftung NRW und der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM) jährlich vergibt.

Die einzelnen Beiträge des aktuellen Stipendiums, aber auch viele andere Texte, die im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums in früheren Jahren entstanden sind, finden sich hier.

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