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Preis der deutschen Filmkritik 2023

Am Rande der Berlinale vergab der Verband der deutschen Filmkritik“ die Preise für die besten Filme und filmischen Leistungen des Jahres 2023

Veröffentlicht am
12. März 2024
Diskussion

„Roter Himmel“ von Christian Petzold ist der Beste Film des Jahres 2023. Der Verband der deutschen Filmkritik verlieh ihm diese Auszeichnung am Rande der Berlinale. Insgesamt wurden bei einem Festakt in der Akademie der Künste in Berlin elf verschiedene Filme in zwölf Kategorien geehrt. Jutta Brückner wurde mit dem Ehrenpreis ausgezeichnet, Oliver Zenglein erhielt den Innovationspreis.



Der Preis der deutschen Filmkritik zählt zu den wichtigsten Filmpreisen, weil über seine Vergabe keine Brancheninteressen oder die Filmschaffenden selbst entscheiden, sondern die rund 350 Filmkritikerinnen und Filmkritiker, die sich zum „Verband der deutschen Filmkritik“ zusammengeschlossen haben. Der Bedeutung der Auszeichnung angemessen, findet die Verleihung seit ein paar Jahren am Rande der Berlinale in der Akademie der Künste in Berlin statt, wo die Ehrung der Filme und der Filmschaffenden in den lichten Räumen einen angemessenen Ort gefunden hat.

Bei der Gala am 18. Februar 2024 wurden für das Filmjahr 2023 elf Filme in zwölf Kategorien ausgezeichnet. Zum Besten Spielfilm des Jahres 2023 kürte die Jury „Roter Himmel“ von Christian Petzold, einen „luftigen Sommerfilm“, in dem ebenso viel Tragik wie unverhofft viel Humor steckt. Christian Petzold wurde für „Roter Himmel“ außerdem fürs Beste Drehbuch ausgezeichnet. Der Preis für den Besten Debütfilm ging an „Piaffe“ von Ann Oren. Die Schauspielpreise erhielten Christina Große in „Alaska“ und Lorenz Hochhuth in „Drifter“. Für die Beste Bildgestaltung wurde Helena Wittmann in „Human Flowers of Flesh“ geehrt, für die Beste Montage Andreas Wodraschke in „Sonne und Beton“ und für die Beste Musik Diego Ramos Rodríguez in „Die Theorie von Allem“.

Den Preis für den Besten Dokumentarfilm gewann „Landshaft“ von Daniel Kötter. Als Besten Kinderfilm ehrte der Verband „Kannawoniwasein!“ von Stefan Westerwelle. „Checker Tobi und die Reise zu den fliegenden Flüssen“ von Johannes Honsell erhielt eine lobende Erwähnung. Als Bester Kurzfilm wurde „Slimane“ von Carlos Pereira auserkoren; „The early rains which wash away the chaff before the spring rains“ von Heiko-Thandeka Ncube ist Bester Experimentalfilm.

Mit dem Ehrenpreis zeichnet der Verband der deutschen Filmkritik in diesem Jahr Jutta Brückner aus. Den Innovationspreis erhielt Oliver Zenglein.

Als einziger deutscher Filmpreis, der ausschließlich von Kritiker:innen vergeben wird, zeichnet der Preis der deutschen Filmkritik seit 1956 deutsche Filme aus, die nicht nach wirtschaftlichen, länderspezifischen oder politischen Kriterien bewertet werden, sondern ausschließlich nach künstlerischen. Über die Preisvergabe entscheiden Jurys aus Mitgliedern des Verbandes der deutschen Filmkritik. Alle Filme hatten im Referenzjahr des Preises einen Kinostart oder eine Premiere auf einem deutschen Festival.


Die Preise der deutschen Filmkritik 2023 und ihre Begründungen


Bester Spielfilm

Roter Himmel“ von Christian Petzold

Über keine Entscheidung mussten wir so wenig diskutieren wie über diese, so sehr begeisterte uns „Roter Himmel“ in so ziemlich jedem Aspekt des Filmemachens. Einmal mehr nimmt Christian Petzold die menschliche und hier dezidiert auch männliche Natur unter die Lupe, erzählt aber auch von Künstler-Egos und der Klimakrise und tut all das im so undeutschen Gewand eines luftigen Sommerfilms, in dem tiefe Tragik genauso steckt wie unverhofft viel Humor. Herausragend geschrieben, exzellent inszeniert, großartig gespielt vom gesamten Ensemble, mit fantastischen Bildern. Mehr muss man nicht sagen.


Bestes Spielfilmdebüt

Piaffe“ von Ann Oren

Das beste Spielfilmdebüt hat seinen Titel aus dem Kunstreiten entlehnt. Das Traben auf der Stelle gilt auch Tierschützern als pferdefreundlich. Der Film, der diesen Titel trägt, tritt selbst in kunstvollen Variationen auf der Stelle, als betörend-sinnliche Choreografie aus körperlicher und fotografischer Bewegung, aus Tönen und den zarten, lebenden Farben, die der 16mm-Kodak-Film noch selbst der unscheinbaren Gegenwart entlockt. Schon in ihren Videoarbeiten, die auch akustische Kunstwerke sind, säte und erntete diese Filmkünstlerin auf den brachliegenden Äckern des filmischen Surrealismus. Im Mittelpunkt ihres ersten Spielfilms steht eine junge Frau namens Eva, gespielt von der Mexikanerin Simone Bucio, die Geräusche für eine Pferde-Werbung sucht. Dabei wächst ihr selbst ein Pferdeschwanz am Steißbein, begleitet von einer neuen sexuellen Empfindsamkeit. Selten hat man im Kino eine so freie, undefinierte Erotik gesehen. Was für ein Geschenk: Wäre Maya Deren, die große US-amerikanische Avantgarde-Pionierin, heute noch am Leben, dann machte sie wohl einen Film wie diesen.


Beste Darstellerin

Christina Große in „Alaska“

Diese Frau macht ihr Ding, mit gelassener Zielstrebigkeit und unaufdringlicher Unabhängigkeit und doch getrieben von einem diffusen Pflichtbewusstsein, einem inneren Dämon. In ihrer schon mal an Arroganz grenzenden Distanziertheit schwingt stets eine tiefe Trauer mit. Als „lonely cowboy“ paddelt sie immer wieder im Kreis, teils in der Ödnis, teils im Touristentrubel der Mecklenburgischen Seenplatte. Dabei ist die Kamera stets in langen Einstellungen ganz dicht an ihr dran, an ihrem Gesicht, das nur in winzigen Nuancen ihre widersprüchlichen Gefühle erkennen lässt.


Bester Darsteller

Lorenz Hochhuth in „Drifter“

Das Coming-of-Age junger queerer Menschen, die neu in Berlin ankommen, hat man auf der Leinwand vielleicht schon das eine oder andere Mal gesehen. Doch noch selten wurde eine solche Figur derart zurückhaltend und gleichzeitig emotional tiefschürfend zum Leben erweckt wie von Lorenz Hochhuth in „Drifter“. Sein Spiel ist so uneitel wie echt, nuanciert wie wandlungsfähig. Am Ende des Films ist er als Moritz inmitten des queeren Berliner Nachtlebens noch längst nicht endgültig bei sich selbst angekommen. Und wir bleiben mit dem unbedingten Wunsch zurück, von diesem erstaunlichen Schauspieler noch viel mehr sehen zu wollen.


Bestes Drehbuch

Christian Petzold für „Roter Himmel“

Das Unheimliche liegt oft in dem Vertrauten. In dem Heimeligen, das als das Unheimliche wiederkehrt. Wie der Sommer in „Roter Himmel“, der sich anfühlt wie alle vorherigen, in dessen flirrender Hitze die Katastrophe jedoch schon mitschwingt. Ein Störgefühl, das sich auch in den Dialogen widerspiegelt, in den altbekannten Sätzen, an die sich die Protagonist:innen klammern, obwohl sie schon mit einem Bein im Abgrund stehen. Die alles sagen, ohne es auszusprechen. Und damit nicht nur ihrer eigene, sondern auch unserer Verzweiflung Ausdruck verleihen, in Zeiten, in denen allen die Worte fehlen. Für diese Kunst wird Christian Petzold der Preis der deutschen Filmkritik für das beste Drehbuch verliehen.


Beste Bildgestaltung

Helena Wittmann bei „Human Flowers of Flesh“

Das muss man sich erst mal trauen, mit dem erst zweiten Langfilm eine Quasi-Fortsetzung zu Claire Denis‘ Meisterwerk „Der Fremdenlegionär“ zu drehen. Aber wer solche Bilder findet, der braucht sich nicht mit falscher Bescheidenheit aufzuhalten. Auf 16mm im Breitbildformat gedreht, hat der Film einen sonnendurchflutet-grobkörnigen Look, auf den Kritiker:innen einfach anspringen. Aber da ist natürlich noch viel mehr. Kapitänin Ida reist mit fünf Männern aus aller Welt auf einem engen Boot über das Mittelmeer. Und während wir kaum etwas über ihre Vergangenheit oder ihre Zukunft erfahren, erforscht die Kamera unnachgiebig, wenn auch mit größter Empathie die widerstreitenden Formen der Männlichkeit. So ist es am Ende die Kamera, die uns trotz aller Abstraktion hineinzieht und den von mal träumerischen, mal gewalttätigen Wellenbildern gerahmten Segeltörn ganz fest im Moment verankert.


Beste Montage

Andreas Wodraschke bei „Sonne und Beton“

Montage ist wie Musik. Sie ist der Vibe und Sound der Bilder, der Rhythmus des Films, der uns den Puls der Protagonisten spüren lässt und uns dadurch in ihr Leben hineinzieht. Das Leben von Lukas und seinen Freunden ist ein ständiges Reagieren: auf den Mangel an Geld, auf die Aggressionen der Umgebung, auf die Perspektivlosigkeit, die sie jeden Tag aufs Neue spüren und der sie je nach Hormonlage mit übertriebenem Optimismus oder erdrückender Bitterkeit entgegentreten. Die Montage von Andreas Wodraschke nimmt uns mit auf die Achterbahnfahrt der Protagonisten. Sie ist der dröhnende Bass, den wir in unserem Körper spüren und dank der wir mit dem Sound des Filmes, mit der Geschichte und dem Leben der Protagonisten verschmelzen und ihr Taumeln zwischen Euphorie und Leid am eigenen Leib verspüren.


Beste Musik

Diego Ramos Rodríguez in „Die Theorie von Allem“

Wenn ein Filmemacher gesteht, er mache sich die Arbeit überhaupt nur, um am Ende Musik an die Bilder zu legen, hat er besser jemand Gutes, der sie schreibt. Schon was die bloße Anzahl der Noten betrifft, kann dieser Komponist mit dem großen Max Steiner konkurrieren. Seine Musik ist nicht weniger beziehungsreich und anschmiegsam, auch ist sie nicht frei von historischer Ironie, wie der Film, dem sie gilt. Diese epische sinfonische Filmmusik, für die ein noch wenig bekanntes Nachwuchstalent verantwortlich ist, löst den hohen Anspruch ein, große Bilder durch ebensolche Klänge zu komplettieren. Und je mehr wir uns – frei nach Hitchcock – aufs Herrlichste verirren in den Schatten des Zweifels dieses Mystery-Dramas, desto mehr Halt gibt die Musik. Sie begleitet nicht nur den Film mit ihrer Seriosität, auch uns lässt sie niemals allein. Eine auch jenseits dieses Kinojahres einzigartige Leistung.


Bester Dokumentarfilm

Landshaft“ von Daniel Kötter

Wie sich ein Krieg in die Landschaft zurückzieht und sich dort als stumme geopolitische Formation abbildet, während die Menschen ihrem Leben weiter nachgehen – davon erzählt in eindrücklichen, aber immer auch respektvoll Distanz wahrenden Bildern unser Gewinnerfilm. Hier ist nichts „embedded“, hier gibt es keine großen Ereignisse und höchstens einen Aufruhr unter den Schafen. Auf trügerische Weise scheint sich alles dem Zyklus der Natur unterzuordnen, während der Konflikt jederzeit wieder ausbrechen kann – so geschehen zuletzt im Spätsommer 2023. Für seine gleichermaßen subtile wie behutsame Annäherung an die Menschen und Tiere, die im von Bergen eingehegten armenisch-aserbaidschanischen Grenzgebiet leben, geht der Preis für den Besten Dokumentarfilm an Daniel Kötter für seinen Film „Landshaft“.


Bester Kinderfilm

Kannawoniwasein!“ Von Stefan Westerwelle

Unter den Kinderfilmen im Jahr 2023 hat uns ein Road Movie überzeugt, in dem zwei Kinder allein und zwar auf einem Traktor in Richtung Meer fahren. Dabei machen sie die Bekanntschaft von zum Teil verwunderlichen Erwachsenen, die den zehnjährigen Finn und die etwas ältere Jola nicht ernstnehmen oder gar ausnutzen. Mit jeder Episode gewinnen die beiden aber an Selbstvertrauen und Zusammenhalt. Ganz aus der Perspektive der Kinder erzählt, gelingt es dem Film, seine beiden jungen Hauptfiguren mutig etwas Neues wagen zu lassen und sie zu authentischen Identifikationsfiguren für das Kinderpublikum zu machen. Er adaptiert die Literaturvorlage von Martin Muser mit seinen kuriosen Situationen und witzigen Dialogen gekonnt für die Leinwand und setzt dadurch neue Impulse im Bereich des Kinderfilms.


Lobende Erwähnung: „Checker Tobi und die Reise zu den fliegenden Flüssen“ von Johannes Honsell

Eine lobende Erwähnung erhält der Film „Checker Tobi und die Reise zu den fliegenden Flüssen“ von Regisseur Johannes Honsell, der tragischerweise überraschend verstorben ist. Dem Film gelingt eine Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilm, sein Zielpublikum auf Augenhöhe anzusprechen und Inhalte wie Umwelt und Naturschutz sowie interkulturelles Wissen zu vermitteln. Die Neugier und Begeisterung der beiden Forschenden, Checker Tobi und Marina, wirken inspirierend auf Kinder und Erwachsene. Durch die Figuren und das besondere dramaturgische Konzept ist der Film gleichermaßen unterhaltsam wie lehrreich. Darüber hinaus findet er durch die Rahmenhandlung, die die verschiedenen Episoden zum Thema Luft verbindet, wie durch seine sorgfältige Kameraarbeit und seine beeindruckenden Bilder für die große Leinwand zu einer vom Fernsehen losgelösten Form für das Kino.


Bester Kurzfilm

Slimane“ von Carlos Pereira

Manche Filme hinterlassen Spuren. Sie graben sich ein ins Gedächtnis, gären nach - als offene Fragen, die beantwortet, als ungreifbare Gefühle, die begriffen werden wollen. Der beste Kurzfilm des Jahres 2023 ist solch ein Film. Ein Film, der uns Rätsel aufgibt, die nicht unbedingt gelöst werden können, aber die man lange mit sich trägt. Auf diese Weise transzendiert er seine kurze Form. Er erzählt von verwundeten, vom Leben gezeichneten Menschen. Aber nie sieht man Akte von Gewalt. So entgeht er der Falle der Reproduktion. Stattdessen beobachtet er das Schweigen, die Trauer, das Fehlen. Es ist ein Film, der ein Trauma weiterreicht und der wundersamerweise zugleich andeutet, wie man sich ihm stellen kann. Am Ende flackert auf der Leinwand eine widerständige Gemeinschaft auf - eine Hoffnung, ein Ausweg. So entlässt er uns in eine tiefschwarze Nacht, in der ein kleines Licht pulsiert.


Bester Experimentalfilm

The early rainswhich wash away the chaff before thespring rains von Heiko-Thandeka Ncube

Verblassen Erinnerungen heute noch? Verpixeln sie nicht stattdessen, werden sie nicht fragmentiert und von visuellen Artefakten durchsetzt? Verschwindet und erstickt die Geschichte nicht oft in ihren eigenen Bildern? Der beste Experimentalfilm des Jahres 2023 trägt dieser Gefahr Rechnung und gibt der Vergangenheit eine geisterhafte, aber unausweichliche Präsenz in der Gegenwart. Er gibt sich nie der Illusion eines reinen und neutralen Dokumentierens hin, sondern eröffnet ein Mosaik von Eindrücken und Erfahrungen. Politische Schlüsselbilder treffen auf allzu alltägliche, und unmittelbar persönliche, große Symbole stehen neben enigmatisch verstreuten Zeichen. Groteske Gewalt und elegische Schönheit verdrängen einander in ruckartigen Schüben. Zorn und Melancholie, der Wille zu zeigen und der Wille zu formen. Der Film konzentriert und führt zusammen, indem er Material aus vielen disparaten Quellen in Beziehung setzt, aber er verunsichert, irritiert und verstört auch. Bilder werden gespiegelt, beschnitten, gestreckt, zersetzt, überlagert, ins Negativ gekehrt und von Musik neu geordnet. Ein Film, der über Gegenwartsfragen wie Herkunft, Identität und die Traumata historischer Schrecken nicht belehren will, sondern ihnen eine künstlerische Form gibt. Schon im Titel wird die krude Poesie der Gewalt sichtbar, der mit einer rauen, zornigen und in der Spieglung der Geschichte gewalttätigen Poesie mutig entgegengetreten wird. Der beste Experimentalfilm des Jahres 2023 ist „The early rains which wash away the chaff before the spring rains“ von Heiko-Thandeka Ncube. Mit Trauer mussten wir in der Jury erfahren, dass der Filmemacher 2023 verstorben ist. Der Film ist Teil seines Vermächtnisses. Wir verleihen ihm den Preis daher postum. Die Urkunde wird seiner Familie übergeben.


Innovationspreis

Oliver Zenglein


Ehrenpreis

Jutta Brückner


Die Jurys für den Preis der deutschen Filmkritik 2023 waren für


Spielfilm und Einzelleistungen

Patrick Heidmann, Daniel Kothenschulte, Christoph Petersen, Britta Schmeis, Bettina Schuler


Kurz- und Experimentalfilm

Lucas Barwenczik, Nino Klingler, Teresa Vena


Dokumentarfilm

Malik Berkati, Dunja Bialas, Barbara Lorey de Lacharrière


Kinderfilm

Katrin Hoffmann, Verena Schmöller, Holger Twele

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