Nuit et Jour - Die Nacht, der Tag

Drama | Frankreich/Belgien/Schweiz 1991 | 95 Minuten

Regie: Chantal Akerman

Ein junges Paar in Paris lebt abgekapselt von der realen Welt nur für seine Leidenschaft, bis eines Tages ein anderer Mann das Verhältnis zum Dreieck ausweitet und damit das Ende der Utopie einleitet. Ein äußerlich handlungs- und ereignisarmer Film, der sich durch die konsequente Gestaltung mittels Sprache und Sprechweise, Farbgebung sowie zahlreiche behutsam gesetzte Details zu einer vielschichtigen Reflexion über Gefühle, Zärtlichkeiten und Liebe weitet. (O.m.d.U.; TV-Titel: "Die Nacht, der Tag") - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
NUIT ET JOUR
Produktionsland
Frankreich/Belgien/Schweiz
Produktionsjahr
1991
Produktionsfirma
Pierre Grise Prod./Paradise/George Reinhard Prod.
Regie
Chantal Akerman
Buch
Chantal Akerman
Kamera
Jean-Claude Neckelbrouck · Pierre Gordower · Bernard Deville · Olivier Dessalles
Musik
Marc Hérouet
Schnitt
Francine Sandberg · Camille Bordes-Resnais
Darsteller
Guilaine Londez (Julie) · Thomas Langmann (Jack) · François Négret (Joseph) · Nicole Colchat · Christian Crahay
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama
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IMDb | TMDB

Diskussion
Eine Frau, ein Mann, eine kleine Wohnung in der Stadt. Julie und Jack lieben sich. Jack fährt nachts Taxi, damit er die Tage mit Julie verbringen kann. Sie bleiben immer in ihrer Wohnung: zwei Zimmer, Küche, Dusche und vor allem ein Bett. Jack und Julie lieben sich den ganzen Tag: sie schlafen und sprechen miteinander, streicheln sich mit Händen und Worten. Die Welt draußen gibt es zunächst nicht, die Welt sind sie und ihr Bett. Doch sie macht sich immer stärker bemerkbar, unerbittlich: Nachbarn, die nach Katzen und Sonnenblumenöl fragen, Eltern auf sonntäglicher Visite. Nachts, wenn Jack arbeitet, spaziert Julie durch die Straßen von Paris. Es ist ein heißer Sommer, viel zu heiß zum Schlafen; Schlafen ist Zeitverschwendung, wenn man jung ist. Sie begegnet Joseph, einem Kollegen von Jack, mit dem er ein Taxi teilt; Joseph arbeitet am Tag. Sie verlieben sich ineinander, und Julie hat unversehens zwei Liebhaber: Jack am Tag, Joseph in der Nacht. Sie gibt keinem den Vorzug; käme es jedoch darauf an, so bliebe sie wohl bei Jack: er war zuerst da. Immer aggressiver bricht die Welt in ihre kleine Wohnung ein. Julie ist verwirrt und verwirrt Jack. Die kleine Utopie eines Lebens nur für die Liebe zerbricht.

"Nuit et Jour" ist ein Paradoxon: ein völlig materieller Film über Gefühle. Wie immer bei Chantal Akerman gestaltet er sich als Kino der Reduktion: nur was wichtig ist, kann man sehen. Alles hat eine Bedeutung - von der Farbe der Wand über die Kleidung der Darsteller bis zum kleinen Werbeaufdruck auf einer Einkaufstüte -, und alles liegt offen dar: man muß es nur sehen, hören - vor allen Dingen fühlen können. Dann plötzlich können die eigenartigsten Dinge schmerzen: Wenn gegen Ende Julie und Jack ihre Welt verändern, reißen sie in ihrer Wohnung eine Mauer ein und streichen die Wände neu. Da wird buchstäblich eine Utopie zertrümmert, ihr Schlafzimmer verliert an Intimität und seine Bewohner mit ihm. Fast das Schlimmste aber ist die neue Wandfarbe: ein Rot verschwindet unter einem weißlichen Grün. Die Veränderung im Leben von Julie und Jack wird physisch spürbar.

Der Abstraktionsgrad der Erzählung erhöht sich noch durch die Sprache des Films: kein Mensch spricht wie im Alltag, es ist ein sehr bewußtes, völlig unnatürliches Sprechen, passend zur Inszenierung. Augenscheinlich kommt es nicht darauf an, was die Menschen sagen, sondern darauf, wie sie es sagen. Anfangs, wenn Jack und Julie noch harmonieren, sind sie eher ein "Sprech-Duett": ihre Worte gehen ineinander über, Laute vereinigen sich, gehen auseinander. Hin und wieder werden die Sätze gar zu Gedichten, die Reime setzen Assoziationen frei und schaffen Raum für eine andere Art der Spracherfahrung, die man im Kino kaum noch kennt: Sprache als Melodie. Von Ferne erinnert dies an kleine Kinder, die sich daran erfreuen können, stundenlang einen Satz auf möglichst unterschiedliche Art und Weise zu sprechen oder zu singen, um seine "Bedeutungen" zu (er-)fmden. Je mehr dann die Verwirrung von Jack und Julie ergreift, desto verstörter und holpriger klingen ihre Sätze: sie kommen nicht mehr zusammen. Die Sprache weiß schon längst, was Körper und Herz nicht wissen (wollen).

Chantal Akerman erzählt über die Liebe, ohne Liebesszenen zu zeigen. So erlebt man Julie und Jack bzw. Joseph nur vor oder nach dem Liebesakt, wenn sie miteinander sprechen. Bis auf eine Ausnahme: Joseph dringt in die schlafende Julie, die erschrickt. Endlose Schwenks führen ihre Körper entlang, von der Schulter bis zu den Knien und Füßen. Chantal Akerman weiß, daß die Lust der Liebenden filmisch nicht vermittelbar ist, und zeigt bewußt ihre Beschränkung, die gleichzeitig die Beschränkung des Mediums ist. So beläßt sie der Liebe ihr Geheimnis und betont die Zärtlichkeit, die sie intensiv miterleben läßt. In einem kurzen Augenblick während des Besuchs der Eltern streichelt Julie Jacks Fuß mit ihrem Zeh und lächelt. Mit solcher Präsenz und ihrem unergründlichen Lächeln trägt Guilaine Londez den Film fast allein: "ihre" Julie, so spürt man, weiß etwas, vielleicht erinnert sie etwas. Sie bleibt ein Geheimnis.

Am Ende, nach der Katastrophe, ist klar, daß die Liebe eigentlich keine Chance hatte in der materialistischen Welt; aber der Film nahm diese Erkenntnis bereits von Beginn an vorweg: Julie liest die ganze Zeit über in François Truf-fauts "Les Aventures d'Antoine Doinel", und wie Truffauts Alter ego wird auch sie wohl niemals bei einem Menschen bleiben können. Liebe ist für sie etwas, das nicht an eine Person gebunden ist. Am Ende geht sie minutenlang eine Straße entlang, ruhig, lächelnd, aufrecht, zu ihm, dem nächsten. Sie ist wunderschön, mutig und wird leben. Bestimmt.
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