Haben (oder nicht)

- | Frankreich 1995 | 90 Minuten

Regie: Laetitia Masson

Eine arbeitslos gewordene junge Frau im Norden Frankreichs beschließt, alles hinter sich zu lassen und in Lyon neu anzufangen. Dort lernt sie in einem Hotel einen depressiven Bauarbeiter kennen, der ihre Kontaktaufnahme anfangs unwirsch zurückweist. Bemerkenswerter Debütfilm, der sich in Rhythmus und Bildaufbau ganz dem Habitus seiner Antihelden unterordnet und eine Vielzahl von menschlichen Existenzfragen miteinander verflicht. Eine anspruchsvolle Reflexion über das Vermögen menschlicher Selbstbestimmung, dem Zwang der Verhältnisse nicht gänzlich unterworfen zu sein. (Preis der Ökumenischen Jury "Forum" in Berlin 1996.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
EN AVOIR (OU PAS)
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
CLP/Ima/Dacia
Regie
Laetitia Masson
Buch
Laetitia Masson
Kamera
Caroline Champetier
Schnitt
Yann Dedet
Darsteller
Sandrine Kiberlain (Alice) · Arnaud Giovaninetti (Bruno) · Roschdy Zem (Joseph) · Claire Denis (Alices Mutter) · Lise Lamétrie (Annette)
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.

Diskussion
Haben oder Sein" hieß Erich Fromms sozialpsychologisches Hauptwerk, eines der Kultbücher der westeuropäischen Alternativszene. Schon bald nach seiner Veröffentlichung (1976) galt es als Klassiker, das bei jeder sich bietenden Gelegenheit zitiert wurde. Die griffige Unterscheidung zweier fundamentaler Existenzweisen schien dem Unbehagen an der Gesellschaft ein universales Erklärungsmuster anzubieten, auf das sich nahezu alle (Welt-)Probleme und (Lebens-)Fragen beziehen ließen. Knapp zwanzig Jahre später klingt der Gegensatz "Besitzen" versus "Erleben" nicht nur fürchterlich simpel und anachronistisch, sondern mitunter auch zynisch: Das Paradies der Freizeitgesellschaft öffnet sich nur jenen, die über entsprechende Mittel verfügen. Den vieldeutigen Titel von Laetitia Massons Kinodebüt könnte man deshalb leicht als zeitgemäße Anti-Formel verstehen, als cooles Credo und präzise Zustandsbeschreibung; und auch der Inhalt, Liebe in Zeiten der Arbeitslosigkeit, läßt eher an ein Sozialdrama denken als an philosophische Dispute oder eine ironische Replik auf Hamlets Existenz-Grübeleien. Doch der bemerkenswerte Film der jungen Französin ist weit mehr als ein lakonischer Blick auf die Tristesse einer Gesellschaft, die ein wachsendes Heer ihrer Mitglieder nicht mehr beschäftigen kann: In den Nischen und Freiräumen ihrer luftigen Geschichte nisten vielleicht nicht letzte, aber zumindest doch vorletzte Fragen, die Fromms humanistischen Intentionen durchaus nahekommen.

Alice, eine 26jährige Arbeiterin in einer Fischfabrik im Norden Frankreichs, wird plötzlich entlassen. Rezession, Sparmaßnahmen, das Übliche. Sie kauft sich ein neues Kleid und eine Flasche Champagner, trennt sich von ihrem Geliebten und zieht zu ihren Eltern, sucht eine Weile vergeblich nach neuer Arbeit und beschließt schließlich, ihrer Heimatstadt Boulogne-sur-Mer den Rücken zu kehren. Zur gleichen Zeit quält sich der Bauarbeiter Bruno in Lyon durchs Leben. Nachts kann er nicht schlafen, weil er einsam und deprimiert ist und sich nach Liebe sehnt. Bei seinem Freund Joseph, Nachtportier im Hotel Ideal, findet er Zuflucht, aber wenig Verständnis für seine bleischweren Gedanken. Alice, die sich dort für einige Tage einquartiert hat, interessiert sich für ihn, doch Bruno reagiert unwirsch. Er unterteile Frauen in drei Gruppen, gesteht er ihr irgendwann; welche, mit denen er Sex habe, die ihm aber nichts bedeuten, solche, die er zu lieben glaubt, ohne sich innerlich einzulassen und jene, die er wirklich liebe. Dies allerdings sei noch nie vorgekommen. Erst als Alice Arbeit und eine Unterkunft gefunden hat und das Hotel verläßt, scheint Bruno aus seiner Lethargie zu erwachen.

Die scheinbare Schlichtheit der Filmhandlung korrespondiert mit einer extrem ruhigen Erzählweise, die nicht davor zurückschreckt, auf herkömmliche dramaturgische Konventionen fast vollständig zu verzichten. Mit einer Souveränität und traumwandlerischen Sicherheit, die genialen Erstlingswerken manchmal eigen ist, wagt Laetitia Massen eine formale Anverwandlung, indem sie Rhythmus und Bildgestaltung der einzelnen Sequenzen radikal ihren Anti-Helden unterordnet: Brunos düsterem Schlurfen in verhaltenen Parallelfahrten, Alices vorsichtigem Optimismus durch lange Einstellungen und Schwenks, die sie ab und an förmlich zu erwarten scheinen und sich noch dann an ihre Fersen heften, wenn sie schon längst wieder in der Menge verschwunden ist. Von großem filmischem Talent und erzählerischer Ökonomie zeugen vor allem auch die fast dokumentarisch anmutenden Massenszenen, in denen die Kamera in einer überfüllten Bar die dampfige Enge spüren läßt oder Sandrine Kiberlains sommersprossiges Gesicht auch im Straßengedränge nicht aus den Augen verliert. Hier wie in den sorgfältig konzipierten Dialogen merkt man die zweijährige Arbeit am Drehbuch: Vieles und Wichtiges wird gesprochen, ohne je in Geschwätzigkeit oder Bedeutungsschwere abzugleiten.

Von der ersten Szene an, in der sich der Personalchef für die Träume und Sehnsüchte der Bewerberinnen interessiert, dreht sich in Massons Film alles um Einstellungen und mentale Haltungen: ob man nach 28 Jahren noch mit derselben Frau verheiratet ist oder das Unstete liebt, den Augenblick genießen kann, von Bitterkeit zerfressen oder von irgendwelchen Ängsten niedergedrückt wird, ob man mit Geld und Autos glücklich wird oder aber durch das Gefühl von Freiheit, tun und lassen zu können, was man will, immer entscheidet der innere Bezug über die Qualität und Beschaffenheit dessen, was als reale Gegenwart erlebt wird. In dem Maße, wie die 1967 geborene Regisseurin ihren "Figuren" Raum und vor allem Zeit einräumt, Erfahrungen mit sich und der Welt zu machen, beläßt sie ihnen auch ihr Geheimnis: Der Zuschauer erfährt kaum mehr, als was die Figuren von sich her preisgeben wollen. Dieser realistische Zug spiegelt sich auch in der Rahmenhandlung wieder, in der ohne Sentimentalität oder Pathos die jeweiligen (bedrängenden) Lebensverhältnisse skizziert werden: als begrenzender, formgebender Raum, in dem sich menschliche Freiheit verwirklicht. "Keine Arbeit zu haben, ist nicht nur eine Frage des Geldes", sagt Alice zu ihrer Mutter, "sondern vor allem auch ein Problem des Selbstbewußtseins." Eine Einschätzung, deren Wahrheit und gleichzeitige Relativität Alices Wege bestimmt.

Von Dialektik oder der wechselseitigen Verschränkung von Materiellem und Ideellem wird heute kaum mehr gesprochen, Vermittlungsbemühungen sind gesellschaftlich nicht relevant. Laetitia Massons kleines melancholisches Meisterwerk fügt sich in diesen Kontext, jedoch nicht ohne auf kleine ironische Seitenhiebe zu verzichten. "Haben (oder nicht)" ist ein vielversprechendes Debüt, das menschlicher Selbstbestimmung ein kleines Quentchen mehr an Kraft und Vermögen einräumt als dem Zwang der Verhältnisse. Schon allein aus diesem Grund gebührt seiner Regisseurin ein hohes Maß an Anerkennung.
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