Harry außer sich

Tragikomödie | USA 1997 | 96 Minuten

Regie: Woody Allen

Ein New Yorker Schriftsteller, der unter einer Schreibblockade leidet, erlebt den Einbruch des Chaos, weil es ihm nicht mehr gelingt, durch den Akt des Schreibens sein Leben zu ordnen. Seine Erinnerungen verselbständigen sich, von ihm erfundene Figuren halten ihm den Spiegel vor Augen, und am nächsten Tag will ihn ausgerechnet jene Universität ehren, von der er als Student geflogen ist. Woody Allens bislang schwärzeste Komödie ist ein vor Einfällen, Anspielungen und mitunter derbem Humor überschäumendes Werk, das mit vielen Charakteren, Namen und bekannten Darstellern aufwartet. Seine komplexe, stilistisch aber sichtbar gemachte Struktur gibt sich als dekonstruktivistisches Spiel zu erkennen, hinter dem gleichwohl die Selbstthematisierung und -gefährdung einer künstlerischen Persönlichkeit aufscheint.
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Filmdaten

Originaltitel
DECONSTRUCTING HARRY
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Sweetland Films/Fine Line Features
Regie
Woody Allen
Buch
Woody Allen
Kamera
Carlo Di Palma
Schnitt
Susan E. Morse
Darsteller
Woody Allen (Harry Block) · Elisabeth Shue (Fay) · Hazelle Goodman (Cookie) · Kirstie Alley (Joan) · Billy Crystal (Larry)
Länge
96 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Genre
Tragikomödie
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Heimkino

Verleih DVD
Kinowelt (16:9, 1.85:1, Mono engl./dt.)
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Diskussion
Woody Allen bleibt ein undurchschaubares Rätsel. 26 Filme hat er in den letzten 29 Jahren gedreht, ohne müde zu werden oder sich zu wiederholen, selbst wenn seine großen Themen, Sex und Selbstzweifel, Tod und der jüdische Gott, noch in jedem „Woody Allen“ aufschienen. Die autobiografischen Bezüge dieses formal wie inhaltlich vielschichtigen Schaffens nährten dabei stets den Verdacht, dem Autor persönlich über die Schulter zu schauen. Doch die Vorbehalte gegen Allens jüngsten, nach „Ehemänner und Ehefrauen“ (fd 30 073) wohl radikalsten Film resultieren mehr aus „p.c.“-Gründen als aus der Eigenart des vor Einfällen, Anspielungen und einer mitunter recht derben Komik überschäumenden Werkes. Allen spielt Harry Block, einen neurotischen Schriftsteller, den der berühmt-berüchtigte „writer’s block“ im Würgegriff hat. Was dies für den fast manisch um sich kreisenden Künstler bedeutet, erlebt man hautnah und direkt – in und um Harry tobt das sprichwörtliche Chaos. Seine Erinnerungen verselbständigen sich, literarische Figuren, die er erfunden hat, halten ihm den Spiegel vor Augen, Szenen aus seinen Büchern kommentieren oder illustrieren seine desolate Seelenlage, die zu stabilisieren sich bereits der sechste Analytiker vergeblich bemüht. Zu allem Überfluß soll Harry anderntags nach Connecticut reisen, wo ihn jene Universität ehren will, von der er einst als Student in hohem Bogen gefeuert wurde.

Das Durcheinander von Alltagswelt, Fantasiegebilden und Tagträumereien serviert Allen als filmisches 3000-Teile-Puzzle, bei dem man eine Weile braucht, um sich zurecht zu finden. „Jump Cuts“, Wiederholungen und „falsche“ Anschlüsse, die in der Eingangssequenz noch einer fehlerhaften Kopie zugeschrieben werden könnten, dienen als Strukturierungshilfen, wenn „fiktive“ Episoden in Harrys „reale“ Erlebnisse montiert sind. Beim ersten Sehen dürfte es trotzdem schwerfallen, die unüberschaubare Zahl von Figuren, Namen und bekannten Gesichtern richtig zuzuordnen – was nicht weiter stört, weil es den Ameisenhaufen im Kopf des Schreibgehemmten anschaulich illustriert. Denn Harry ist nicht nur von Pillen, Schnaps und Prostituierten abhängig, sondern lebt davon, alles, was ihm begegnet, in Literatur zu verwandeln. Weil er dabei auch ungeniert sein Privatleben und insbesonders verfängliche Situationen mit seinen drei Ex-Frauen plündert, ist niemand gut auf ihn zu sprechen. Alle Versuche, einen seiner Bekannten als Begleiter für die Uni-Feier zu gewinnen, stoßen daher auf brüske Ablehnung. Andererseits bewältigt Harry kritische Momente meist dadurch, daß er eine Episode aus seinen Büchern zum Besten gibt – was zwar kein Problem wirklich löst, die Symbiose zwischen Schriftsteller und Werk aber unaufhaltsam vorwärts treibt. Auf der Leinwand führt dieses Verhalten zu einer raschen Abfolge scheinbar zusammenhangsloser Szenen, in denen immer neue Akteure erscheinen, die – um die Verwirrung komplett zu machen – durchaus ein und diesselbe Person verkörpern können, je nachdem, ob sie real, eine literarische Transformation oder pure Erfindung ist. Erst nachdem Harry die schwarze Hure Cookie als Reisegefährtin engagiert und gemeinsam mit seinem Sohn Hilly und dem herzkranken Richard Richtung Adair University aufbricht, hat sich der Handlungsfaden so weit herauskristallisiert, daß man den Gang der Entwicklung relativ stringent verfolgen kann.

Die Struktur dieser unfreiwilligen Konfrontation mit sich und seinem imaginären Universum, auf die der Originaltitel anspielt, folgt Ingmar Bergmans „Wilde Erdbeeren“ (fd 10 365), wo sich ein alter Professor auf dem Weg zu einer akademischen Ehrung Rechenschaft über sein äußerlich erfolgreiches, insgeheim aber leeres Leben gibt. Bergmans existentialistischer Ton ist bei Woody Allen sarkastisch bis zynisch gebrochen und durch exzessive Anleihen aus dem „Four-Letter-Word“-Bereich in einen ziemlich profanen Kontext transferiert. Der Tod pocht als theatralischer Sensenmann an die Apartmenttür, in der feuerroten Fellini-Hölle residiert ein süffisanter Verführer, und Harrys toter Vater, den die Aussöhnung mit dem Sohn aus der ewigen Verdammnis befreit, wünscht sich in ein China-Restaurant, weil er an den Himmel nicht glaubt. Der deftige Humor, mit dem Allen ein gewohnt atemloses Verbalfeuerwerk abbrennt und dabei an der Gürtellinie Maß nimmt, ist gewiß nicht jedermanns Sache. Kleine Ausrutscher wie den, ob auch der amerikanische Präsident bei jeder Frau immer nur an das eine denken muß, sind eher die Ausnahme, weil Allen meistens aus dem unerschöpflichen Fundus seiner Manien schöpft: Judaica, Frauen, Sexualität und Psychoanalyse. Das führt dann zu herrlich ironischen Grotesken wie der während der Einschulung seines Sohnes, als Harry den Unterschied zwischen Gott und den Frauen erklären will, von denen der eine nur eventuell, die anderen aber ganz gewiß existieren, und der Kleine ihm voller Stolz eröffnet, daß er seinen Penis „Dillinger“ nennen will. Man kann diese bitterschwarze Komödie unschwer als dekonstruktivistischen Film interpretieren, der sein filigranes Erzählgerüst nicht verschleiert, oder aber als Zettelkasten mit der Aufschrift „Woody Allen“ verstehen, in dem viele Schlüsselmotive des notorischen Monologisierers zusammengetragen sind. Auch wer darauf aus ist, Allen Stewart Konigsberg oder seinem künstlerischen Genius auf die Spuren zu kommen, wird in der „Lösung“ der Schreibblockade einen (vermeintlichen) Freibrief erkennen: die (Selbst-) Erkenntnis Harrys, im „wirklichen“ Leben zu scheitern, im Reich der Kunst aber alle Möglichkeiten entfalten zu können, verwandelt sich flugs in den Anfang einer literarischen Figur, deren filmischer Geburt man eben beiwohnte. Viel spannender aber als die Rekonstruktion des Regisseurs bleibt die Ausdeutung seiner Geschichte, die in der Absolution Harrys durch seine Figuren gipfelt: Sie besänftigen seine Schuldgefühle und spenden ihrem Schöpfer warmen Applaus, weil er sich nicht scheut, Trauer und Freude, Depression und Übermut als Zustände zu schildern, die nahe beieinander liegen. Hier, auf dem Olymp der Fantasie, bemächtigt sich ein Friede der Brust des Künstlers, den er andernorts vergeblich sucht. Die Devise, sich selbst zu erkennen und ernst zu nehmen, indem man seine Grenzen akzeptiert, ansonsten aber den Herausforderungen des Lebens nicht auszuweichen, gilt zwar in beiden Sphären, läßt sich im Reich des Imaginären aber weitaus leichter befolgen. In dieses programmatische, nicht ganz unproblematische Credo mündet die Krise des Schriftstellers, der bildlich „out of focus“ geriet und angesichts massiver Anschuldigungen und eines schlechten Gewissens seine Kontur und Orientierung verlor. Harry Block, der schmächtige, wuselige Künstler mit der schwarzen Hornbrille, ist eine tragische Figur: ohne aus der Leinwand herab ins Leben gefallen zu sein, spürt er eine tiefe Sehnsucht in sich, die nur im kreativen Dialog mit dem Reich der Schatten vorübergehend gestillt werden kann. Weshalb die nächsten Stücke aus „seiner“ Feder nicht lange auf sich warten lassen.
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