Dokumentarfilm | Deutschland 1998 | 93 Minuten

Regie: Thomas Bergmann

Dokumentarfilm über Personen, die an Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns leiden. Sympathische, vorsichtige Erkundung von geistigen Phänomenen, die der Volksmund hilflos-treffend mit Analogien wie "nicht ganz dicht" umschreibt. In der Begegnung mit solchen Menschen scheinen Würde und eine eigenwillige Genialität auf, die durch ihre "Spezialbegabungen" auch zum Nachdenken über das Wunder des Bewußtseins anregen. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Pilotfilm/ZDF
Regie
Thomas Bergmann · Mischka Popp
Buch
Thomas Bergmann · Mischka Popp
Kamera
Jörg Jeshel
Schnitt
Peter Przygodda
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Die moderne Hirnforschung sei dabei, in die innersten Sphären des Menschseins vorzudringen, glaubt Wolf Singer, Direktor des Max Planck-Institutes für Hirnforschung, und prophezeit eine neuerliche narzißtische Kränkung der Homo sapiens, wenn die Bedingungen des menschlichen Zentralorgans erforscht seien. Doch noch ist kein Prometheus in Sicht, der sich in die Linie von Kopernikus, Darwin und Freud einordnen und das Humanum aufs Neue in die kosmische Unbehaustheit taumeln ließe. Auch sind die Neurologen am Ende des 20. Jahrhunderts spürbar leiser geworden angesichts der wachsenden Rätsel, die sich wenige Millimeter unter der Schädeldecke auftun. Von der kompliziertesten Struktur des ganzen Universums ist die Rede, die entgegen jahrhundertealter Überzeugungen nicht hierarchisch organisiert sei, sondern sich aus zahllosen disparaten Einzelzentren zusammensetze und trotzdem ein kohärentes Ganzes bilde.

Von diesen Bemühungen, wissenschaftliches Licht ins Dunkel der „Lichtung“ zu werfen, ist in Mischka Popps und Thomas Bergmanns Dokumentarfilm über Menschen, die nicht mehr richtig „ticken“, kein Wort zu hören. Statt dessen nehmen einen die beiden Filmemacher mit auf eine eindringlich-berührende Reise in ein Reich, das vielleicht nur um Haaresbreite neben der „Normalität“ angesiedelt ist. Gemeinsam ist allen Personen, die sie vor die Kamera holen, daß sie unter Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns leiden. Die Ursachen sind mannigfaltig: Verkehrsunfälle, Kunstfehler, Schlaganfall oder Sauerstoffmangel, aber auch genetisch bedingte Abweichungen wie beim „Tyrett“-Syndrom, das Menschen „Ticks“ aufzwingt wie Zuckungen, unwillkürliche Grimassen oder den Drang, gesellschaftlich tabuisierte Wörter lauthals in die Welt zu schreien. Doch „Kopfleuchten“ ist kein Film über Behinderung oder Defizinenz, sondern eine sympathische, vorsichtige Erkundung von geistigen Phänomenen, die der Volksmund hilflos-treffend mit Analogien umschreibt: vom „Sprung in der Schüssel“ bis zu „nicht ganz dicht“. Was sich in diesen Formulierungen andeutet, Nähe und Distanz, begegnet in einer Vielzahl von Einzelschicksalen: einem Mann, der sein Gedächtnis verlor und seitdem nur noch weiß, was sich in den letzten 24 Stunden ereignete, einer Frau, die ein zweites Mal sprechen lernen mußte, Menschen, denen die Welt in schlierige Standbilder zerfällt oder die sich minutiös an winzigste Details der Vergangenheit erinnern können, in der Gegenwart aber ganz auf die Hilfe anderer angewiesen sind.

Da Popp und Bergmann kein „Kabinett der Abstrusitäten“ bebildern wollten, wandelt sich ihre anfangs scheinbar assoziative Annäherung zunehmend zu einer Begegnung mit außergewöhnlichen Persönlichkeiten, hinter deren „Spezialbegabungen“ Würde und eine eigenwillige Genialität aufscheinen. In manchen Fällen nötigt die Energie, mit der diese Menschen ihr Schicksal meistern, ein hohes Maß an Respekt ab, bei anderen verfällt man in Staunen angesichts ihrer naiven, aber tiefgründigen Weisheit, mit der die Grenzen zum Poetischen transzendiert werden. Humor und Tragik, Not und Unbeschwertheit, groteske Verrenkungen und clevere Überlebensstrategien durchziehen die Miniporträts, in denen sich menschliches Leben wie in einem Fokus bündelt. Der für das ZDF produzierte Dokumentarfilm vereint einen unspektakulären, angenehm persönlichen Zugang zu einer gesellschaftlich ausgegrenzten Gruppe mit einer unpädagogisch-aufklärerischen Expedition in jene Zone, die Grundlage allen Denkens und Fühlens ist. Statt rubrizierbarer Fakten über neuronale Netze oder cereale Organisationsschematas erfährt man viel über die fragile Zerbrechlichkeit, aber auch über den ungeheuren Erfindungsreichtum des Gehirns, das keine graue Masse, sondern stets Teil eines konkreten Individuums mit einem Namen und einer Geschichte ist. Das theoretische Paradox, daß die Unendlichkeit des Weltalls seine Repräsentation im menschlichen Geist findet, verweist in der Philosophie auf das Geheimnis des Bewußtsein, dessen Rätselhaftigkeit die Naturwissenschaften aufklären möchten. Von jenen aber, die „eine Schraube locker haben“, so legen es die informativen Interviews nahe, kann man nicht nur die kindliche Neugier unverstellten Fragens wieder lernen, sondern sich auch ergreifen lassen von dem Wunder, daß jeden Morgen die Welt wieder „da“ ist.
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