Der Baum, der Bürgermeister und die Mediathek oder Die 7 Zufälle

Komödie | Frankreich 1993 | 105 Minuten

Regie: Eric Rohmer

Der Bürgermeister eines kleinen Ortes in der französischen Provinz plant als Prestigeobjekt den Bau einer Mediathek. Modell und Finanzierung sind bereits abgesichert, als sich plötzlich eines Baums wegen Widerstand regt. Ein dialoglastiger Film, in dem Rohmer sich den Niederungen der Tagespolitik zuwendet. Die bewußt naive Haltung des Films, der dem Zufall huldigt, mindert ein wenig den Eindruck abgefilmter Lippenbekenntnisse: Die auftretenden Personen haben kaum etwas zu sagen, sondern fungieren als Sprachrohre verschiedener Interessengruppen. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
L' ARBRE, LE MAIRE ET LA MEDIATHEQUE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1993
Produktionsfirma
Media Invest/C.E.R./Prokino Plus
Regie
Eric Rohmer
Buch
Eric Rohmer
Kamera
Diane Baratier
Musik
Sébastian Erms
Schnitt
Mary Stephen
Darsteller
Fabrice Luchini (Marc Rossignol) · Pascal Greggory (Julien Dechaumes) · Arielle Dombasle (Bérénice Beaurivage) · Clémentine Amouroux (Blandine Lenoir) · François-Marie Banier (Regie Lebrun-Blondet)
Länge
105 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Komödie

Diskussion
Bürgermeister Dechaumes ist der klassische Zugereiste. Von Herzen durch und durch Pariser, von der Haltung her Geldadel par excellence, von der Gesinnung ein romantischer Grüner. Der Wochenend-Bauer, der darauf achtet, daß seine Hühner im Freien scharren, und dem jedes seltene Blümchen heilig ist, steht der kleinen Gemeinde Saint-Juire in der Vendée vor und hat hochtrabende Pläne, um seinen Ort ins Medienzeitalter einzubinden. Eine Mediathek muß her, und zumindest die finanziellen Vorzeichen stehen günstig, hat doch die Regierungspartei in Paris die Übernahme der Kosten zugesagt; der Zuschuß ist allerdings an eine kulturelle Einrichtung gebunden. Zwar gibt es dringlichere Probleme in der Provinz, doch die Mediathek - Bibliothek, Kino, Sportstätte, Schwimmbad und Stätte der Begegnung in einem - hat sich in Dechaumes Denken schon als sein Vermächtnis eingenistet, vielleicht wird sie ja auch die steingewordene Manifestation seines Weges in die große Politik.

Ein Pariser Architekt hat einen Plan ausgearbeitet, über den sich zwar trefflich streiten läßt, der jedoch schon bis ins Letzte abgesegnet ist. Auch der Standort steht bereits fest: eine große Wiese vor dem Dorf. Doch hier beginnen die Probleme: die Begegnungsstätte würde den Blick auf die alte Kirche verstellen, einer Begegnungsstätte früherer Tage; noch schlimmer: dem Prachtbau müßte ein alter Baum geopfert werden. Dies bringt den Lehrer Rossignol in Rage, der über das Geschenk aus Paris wettert und sich in seinen Selbstgesprächen gegen das Projekt in Haßtiraden und Massaker-Fantasien hineinsteigert. Nur seine zehnjährige Tochter behält die Ruhe; sie weiß auch, daß die Mediathek überflüssig ist, aber auch, daß sich alles erst in ferner Zukunft zum Besseren wenden wird - dann, wenn sie in die Politik eingestiegen ist.

Bürgermeister und Lehrer liefern sich also einen provinziellen Kleinkrieg. Der eine hat Paris hinter sich, der andere stachelt seine Schulkinder auf, aber die Dinge nehmen ihren Gang. Eine Reporterin taucht auf, die die Politikfähigkeit des Bürgermeisters recherchieren soll, doch ihr wohlwollender Artikel wird während ihrer Abwesenheit in Grund und Boden redigiert und zum Sprachrohr des Schulmeisters. Plötzlich bleiben auch die Gelder aus Paris aus, und der Traum von der Mediathek zerplatzt wie eine Seifenblase. Doch der Bürgermeister nimmt die Schlappe gelassen, vielleicht auch, weil er zwischenzeitlich ein kluges Gespräch mit der Lehrerstochter hatte. Das Kind, politisch und dialektisch geschult, hatte den Mann schon vorher überzeugen können, daß das grüne Land mit seinen Weiden und Wäldern im Übernuß Grünflächen für die Bürger braucht, Parkanlagen und Wiesen für ausgedehnte Picknicks. Am Ende feiert man ein großes Bürgerfest. Der Baugrund ist ebenso gerettet wie der Baum, nur die Enten im Dorfteich haben wenig zu lachen, schließlich sind sie in die Volksbelustigung eingebunden.

Eigentlich sollte Eric Rohmer an seinem Zyklus der Jahreszeiten arbeiten, von dem Sommer- und Herbst-Film noch ausstehen. Statt dessen inszenierte er eine politisch grün angehauchte Fingerübung, die den verschlungenen Fäden des Zufalls gewidmet ist. Nicht von ungefähr läßt Rossignol im Prolog seine Grundschüler die Bildung eines Nebensatzes unter Verwendung einer Bedingung üben, der normalerweise mit "wenn" beginnt. Mit diesem Wörtchen beginnen die sieben Kapitel des Films und leiten jeweils die weitere Entwicklung dieses speziellen Media-Projektes ein. Da ist auf der einen Seite die politische Absichtserklärung, auf der anderen der Zufall, von dem man seit Lessing wissen könnte, daß allein dieses Wort schon "Gotteslästerung" ist, und so nimmt die Katastrophe, die niemand als solche empfindet, ihren Lauf. Manchmal erledigen Dinge sich eben von selbst. Ein modernerer Erklärungsansatz für das Rohmersche Denkmodell mag auch die zur Zeit viel zitierte Chaos-Theorie sein, die populärwissenschaftlich erklärt, daß der Flügelschlag eines Schmetterlings in Peking Regen in New York auslösen kann, will sagen, menschliches Handeln und Zusammenwirken ist nicht auf die Gesetzmäßigkeit linearer Gleichungen zu reduzieren. Das Leben ist voller überraschender Wendungen - gottlob.

Doch dieser gedankliche Überbau bleibt in Rohmers kleinem komödiantischem Traktat über die Politik und die Menschen im Hintergrund. Entwaffnend naiv kommt der Film zur Sache, die Kapitelüberschriften werden in Kinderschönschrift abgefilmt, und das ist dem Film denn auch Programm. Hier erklärt kein weiser alter Mann die Welt und wie sie endlich funktionieren könnte, hier blickt jemand ganz naiv auf unsere komplexe moderne Welt mit ihren vielen Fallstricken und Widersprüchen und versucht, aus vielen Denkansätzen das Beste für die Zukunft zu destillieren. Dabei wirken viele der angesprochenen Probleme wie aus dem Zettelkasten; der Nicht-Zeitungsleser Rohmer gesteht ein, in den letzten beiden Jahren viele Zeitungen gelesen zu haben. Man hat das Gefühl, daß der Film eine intellektuelle Spielerei war, in der Rohmer ganz bewußt einen kindlichen Standpunkt eingenommen hat. Das Ende des Films, vielstimmig als Kinderlied vorgetragen, parodiert fast diese schlichte Haltung. Alle trällern vom schönen Leben auf dem Lande, alle sind's zufrieden, und alle wissen, daß die Zukunft der Welt nur die Zukunft der Kinder sein kann. Wie diese Zukunft beschaffen sein muß, darauf weiß auch der Film keine Antwort; er bietet keine Lösungen, sondern nur ein Ausweichprogramm.

Die Dialoglastigkeit, die in den meisten Filmen Rohmers funktionell eingesetzt ist, wird in diesem Film ein wenig zur Qual. Es ist schon etwas anderes, ob Personen sich politische Statements um die Ohren hauen oder über die Sprache, ihre Gedanken und Gefühle, Träume und Hoffnungen preisgeben, allein aus der Notwendigkeit, sich mitteilen zu müssen, um akzeptiert zu werden. Im vorliegenden Beispiel teilt niemand sich selbst mit, sondern dient als Sprachrohr für die unterschiedlichsten Parteien und Strömungen, redet also viel und hat doch so wenig zu sagen. Dies mag Programm sein, ist allerdings stellenweise nur schwer zu ertragen. So ist der Film eine Enttäuschung und kann nur Lust machen auf den nächsten "großen" Rohmer-Film, der die kleinen Formen pflegt, und in dem die Menschen wieder das sagen dürfen, was sie wirklich interessiert.
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